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10 Jahre nach Kairo: Konsens in Gefahr

(Hannover) - Im September 1994 beschlossen 179 Staaten auf der Weltbevölkerungskonferenz in Kairo ein wegweisendes Aktionsprogramm. So soll bis 2015 allen Menschen der Zugang zu einem breiten Angebot an Familienplanung und eine sie begleitende Gesundheitsversorgung offen stehen. Was wurde in den letzten zehn Jahren erreicht? Wo liegen die Probleme? Der Nachfolgeprozess läuft an.

Einen Paradigmenwechsel habe das Kairoer Aktionsprogramm eingeleitet, so urteilen viele in der Rückschau. Richtete sich seit den 1960er Jahren die Bevölkerungspolitik an rein demographischen Zielen aus, so wurden in Kairo die konkreten Bedürfnisse und das Wohlergehen der Menschen bewusst in den Vordergrund gestellt. Anders als zuvor war es in Kairo gelungen, Bevölkerungsfragen und Entwicklungsprobleme in einem integrierten, auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Ansatz zu behandeln. Das Kairoer Aktionsprogramm betont vor allem die Rolle der Frauen für die Zukunft der Menschheit. Nur da, wo ihre soziale, politische und ökonomische Stellung verbessert werde, seien dauerhafte Erfolge in der Familienplanung zu erwarten.

Umfassendes Konzept beschlossen

Die Kairoer Konferenz hat dem Konzept der reproduktiven Gesundheit endgültig zum Durchbruch verholfen. Zu Grunde liegt die Erkenntnis, dass Familienplanung mehr sein muss als Bereitstellung von Verhütungsmitteln. Reproduktive Gesundheitsversorgung meint Sexualberatung für Jugendliche, beinhaltet Schwangerschaftsfürsorge, Geburtshilfe, die Betreuung von Neugeborenen sowie die Behandlung von Geschlechtskrankheiten, einschließlich HIV/Aids, und schließt „sichere“, d.h. fachgerecht durchgeführte Abtreibung ein, sofern sie legal ist.

Auf 20 Jahre angelegt, bietet das Aktionsprogramm neue Richtlinien, an denen sich die internationale Bevölkerungspolitik in ihrem Handeln orientieren soll. Fünf Jahre nach der Kairoer Konferenz wurden diese Empfehlungen dann mit zusätzlichen konkreten Zielvorgaben versehen. Und im Jahre 2000 verschmolzen einige dieser Ziele, wie die Grundbildung für alle Kinder, die Gleichstellung von Frauen, die Reduzierung der Mütter- und Säuglingssterblichkeit und die Verringerung der HIV/Aids-Infektionen, auf dem Weltgipfel in New York mit den Millennium-Entwicklungszielen der internationalen Gemeinschaft.

Viel ist seit 1994 geschehen. Das zeigte auch die Überprüfung der Umsetzung der Kairoer Beschlüsse im Jahre 1999: Ein Drittel der Länder hatten ihre Bevölkerungspolitik mit den Kairoer Beschlüssen in Einklang gebracht. Zwei Drittel aller Länder hatten fünf Jahre nach Kairo politische oder gesetzgeberische Maßnahmen eingeführt, um die Gleichstellung der Geschlechter und die Stärkung der Rolle von Frauen zu fördern. Bereits fünfzehn afrikanische Länder hatten die Genitalverstümmelung verboten.

Global gesehen hat sich das Weltbevölkerungswachstum verlangsamt. Gab es in den späten 1980er Jahren noch einen jährlichen Zuwachs von 86 Millionen Menschen, waren es im Jahre 2002 nur noch 77 Millionen. Frauen bekommen heute im Durchschnitt nur halb so viele Kinder wie ihre Mütter. Weltweit verhüten 57 Prozent der verheirateten Frauen im fortpflanzungsfähigen Alter.

Trotz dieser Erfolge bleibt noch viel zu tun. Weltweit haben immer noch etwa 21 Prozent der verheirateten Frauen im fortpflanzungsfähigen Alter einen ungedeckten Bedarf an Familienplanung. Und der Bedarf wächst. Vor allem Menschen in ländlichen Gebieten und soziale Randgruppen haben weiterhin einen ungenügenden Zugang zu reproduktiven Gesundheitsprogrammen. Es ist nicht gelungen, die Müttersterblichkeit bis 2000 auf die Hälfte des Standes von 1990 zu verringern. Weiterhin sterben jedes Jahr über 500.000 Frauen an Komplikationen während einer Schwangerschaft oder bei der Geburt. Die Bereitstellung von ausreichenden Informationen und Dienstleistungen für unverheiratete Jugendliche und junge Erwachsene ist in vielen Ländern schwierig. Zudem hat sich die Aids-Pandemie stärker ausgebreitet, als dies 1994 vorauszusehen war. Das hat unter anderem zur Folge, dass Entwicklungshilfe im Bereich Gesundheit zu einem großen Teil in die Bekämpfung von HIV/Aids fließt. In Zeiten begrenzt verfügbarer finanzieller Mittel geht dies nicht selten auf Kosten anderer wichtiger Ziele des Kairoer Aktionsprogramms.

Finanzziele nicht erreicht

Über die Kosten der Umsetzung des Aktionsprogramms haben sich die Delegierten in Kairo ebenfalls Gedanken gemacht: Die Ausgaben sollten auf jährlich 17 Milliarden US-Dollar bis zum Jahr 2000 steigen, bis 2005 auf 18,5 Milliarden und bis 2015 auf 21,7 Milliarden Dollar. Davon sollten etwa zwei Drittel die Entwicklungsländer selbst und ein Drittel die Industrieländer übernehmen. Aber die Zahlungsmoral lässt zu wünschen übrig. Im Jahre 2001 stellten die Industrieländer insgesamt 2,5 Milliarden US-Dollar zur Verfügung – also weit weniger als die Hälfte der vereinbarten Summe. In den Entwicklungsländern beliefen sich die Ausgaben auf rund 7,1 Milliarden Dollar. Das entspricht 63 Prozent des zugesagten Beitrags für das Jahr 2000.

Neben der zunehmenden Gebermüdigkeit zeigten sich auch in den vergangenen Jahren erste Risse im Konsens von Kairo. Die USA, 1994 noch eine wortgewaltige Verfechterin der Frauenrechte und der reproduktiven Rechte auf der Weltbevölkerungskonferenz, hat sich unter der Regierung George W. Bushs jüngst als eine scharfe Kritikerin der Kairoer Beschlüsse entpuppt. Die US-amerikanische Delegation drohte bei einer internationalen Konferenz im Dezember 2002 sogar damit, den Konsens gänzlich aufzukündigen. Bereits die Erfahrungen des Nachfolgeprozesses fünf Jahre nach Kairo hatten gezeigt, dass von Seiten konservativer Gruppierungen und Staaten immer wieder versucht wird, die bereits bestehenden Vereinbarungen zum Thema sexuelle und reproduktive Rechte erneut zur Diskussion zu stellen.

2004 wird es voraussichtlich keine große Konferenz auf Regierungsebene zur Überprüfung der Umsetzung der Kairoer Beschlüsse zehn Jahre nach der Weltbevölkerungskonferenz geben. Die Vereinten Nationen planen statt dessen eine Nachfolgekonferenz zu einem späteren Zeitpunkt, die neben der Durchführung des Kairoer Aktionsprogramms auch die Fortschritte nach der Weltfrauenkonferenz in Peking und dem Weltsozialgipfel in Kopenhagen unter die Lupe nehmen soll. Dennoch wird im September 2004, genau zehn Jahre nach der Kairoer Konferenz, ein Bericht vorliegen, in dem die Fortschritte der einzelnen Staaten und Regionen detailliert gemessen werden. Auch die UN-Generalversammlung wird sich in einer Sondersitzung diesem Thema widmen.

Nichtregierungsorganisationen (NRO) in aller Welt bereiten sich ebenfalls auf den Nachfolgeprozess zehn Jahre nach Kairo vor. Vom 30. August bis 2. September 2004 findet eine große internationale Veranstaltung der NRO in London statt, der so genannte International Round Table. Auch in Deutschland und Europa werden Hilfsorganisationen an die in Kairo gemachten Versprechen erinnern.

Kairo plus 10 – Was plant die DSW?

Die Stiftung plant im nächsten Jahr eine Kampagne zum Thema „Verhütung ist ein Menschenrecht“. Ziel ist es, durch Informations- und Öffentlichkeitsarbeit ein breites Publikum für dieses wichtige Thema zu gewinnen. Im Vordergrund stehen die Sexualaufklärung für Jugendliche, die Senkung der Müttersterblichkeit und die Verringerung der HIV/Aids-Infektionen. Begleitet wird die Kampagne von einer Reihe öffentlichkeitswirksamer Veranstaltungen.

Gemeinsam mit anderen Organisationen in Deutschland und Europa will die DSW Regierungen dazu bewegen, ihren finanziellen Verpflichtungen nachzukommen und ihre Beiträge für Familienplanung und reproduktive Gesundheit zu erhöhen. Eine Bilanz der bisher geleisteten finanziellen Beiträge der Geberstaaten sowie die Vorstellung des Weltbevölkerungsberichts mit den wichtigsten Fortschritten zehn Jahre nach Kairo werden im Mittelpunkt der Kampagne stehen.

Quelle und Kontaktadresse:
Deutsche Stiftung Weltbevölkerung (DSW) Göttinger Chaussee 115, 30459 Hannover Telefon: 0511/943730, Telefax: 0511/2345051

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