Pressemitteilung | Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW)

Die Lage der Weltwirtschaft und der deutschen Wirtschaft im Frühjahr 2004

(Berlin) - Die Weltwirtschaft befindet sich im Aufschwung. Seit Mitte 2003 expandiert die Produktion in vielen Ländern ausgesprochen kräftig, und die Kapazitätsauslastung steigt. Der Aufschwung hat mit Nordamerika und Ostasien zwei Zentren. Wie gefestigt er mittlerweile ist, zeigt sich in der deutlichen Ausweitung der Investitionen und auch darin, dass weder die jüngsten Terroranschläge noch die erneute Zuspitzung der Lage im Irak den Optimismus an den Aktienmärkten nachhaltig gedämpft haben. Die Investitionsdynamik wurde von der Geldpolitik begünstigt: Die US-Notenbank und die Bank von Japan, aber auch die Europäische Zentralbank sind seit geraumer Zeit auf expansivem Kurs. Die Fremdkapitalkosten sind, auch in realer Rechnung, weltweit niedrig. Bei alledem haben sich die Absatzperspektiven aufgehellt, nicht zuletzt in dem von der Rezession des Jahres 2001 stark betroffenen Informations- und Kommunikationssektor, wo Produktinnovationen die Nachfrage belebt haben. Nach kräftiger Expansion in der ersten Hälfte dieses Jahres wird sich der Aufschwung in den Wachstumszentren mit dem Abklingen der wirtschaftspolitischen Impulse etwas abschwächen.

Die Konjunktur im Euroraum hat sich im zweiten Halbjahr 2003 aus einer längeren Stagnationsphase gelöst. Ausschlaggebend war die Trendwende bei den Exporten. Trotz des stärkeren Euro profitierte der Außenhandel erheblich vom Aufschwung in Ostasien und in den USA sowie von der kräftigen Expansion in den mittel- und osteuropäischen EU-Beitrittsländern. Der Außenbeitrag nahm zu. Die Binnennachfrage blieb hingegen schwach. Zwar stieg der öffentliche Verbrauch weiterhin kräftig, die privaten Konsumausgaben expandierten im Verlauf des vergangenen Jahres aber kaum noch. Es gibt derzeit keine Anzeichen dafür, dass die Konsumschwäche im Euroraum in naher Zukunft überwunden wird. Auch bei den Investitionen hat noch keine allgemeine Aufwärtsbewegung eingesetzt. Die Erholung der Konjunktur wird in den nächsten Monaten weiterhin von den Exporten getragen. Sie erhalten erhebliche Impulse vom weltweiten Aufschwung, die stärker zu Buche schlagen als die dämpfenden Effekte der Euro-Aufwertung. Dies dürfte auch die Ausrüstungsinvestitionen anregen; sie werden im Laufe dieses Jahres an Schwung gewinnen. Die Beschäftigung wird nur allmählich ausgedehnt, so dass die Arbeitslosenquote im Prognosezeitraum nur geringfügig sinkt und die Einkommensentwicklung gedrückt bleibt. Die privaten Verbrauchsausgaben werden daher auch in diesem Jahr das Sorgenkind der Konjunktur sein. Erst im kommenden Jahr dürfte sich der private Verbrauch etwas stärker beleben. Gleichzeitig werden die Exporte und die Investitionen im Zuge der Verlangsamung der Weltwirtschaft leicht an Schwung verlieren, stabilisierend wirkt hingegen das Abklingen der dämpfenden Effekte der Euro-Aufwertung. Das Bruttoinlandsprodukt des Euroraums wird in diesem Jahr um 1,6 Prozent und im kommenden Jahr um 2 Prozent zunehmen. In diesem und im nächsten Jahr wird die Inflationsrate mit 1,7 bzw. 1,8 Prozent mit dem Ziel der Europäischen Zentralbank vereinbar sein.

Die deutsche Wirtschaft löst sich langsam aus der Stagnation. Seit Herbst vergangenen Jahres nehmen Produktion und Nachfrage wieder zu, wenn auch noch mit sehr niedrigem Tempo; dabei hat sich der Rückgang der Kapazitätsauslastung fortgesetzt, und die Beschäftigung ist weiter gesunken. Maßgeblich für den Produktionsanstieg sind zum einen die Impulse, die – trotz der drastischen Aufwertung des Euro – vom Aufschwung der Weltwirtschaft ausgehen. Zum anderen kommen mit dem Nachlassen der Unsicherheiten nicht zuletzt im Gefolge des Irak-Krieges die Anregungen aus dem expansiven Kurs der Geldpolitik mehr und mehr zum Tragen; sie stärken die Konjunktur auch im übrigen Euroraum. Erste Zeichen einer binnenwirtschaftlichen Erholung zeigen sich in Deutschland bei den Ausrüstungsinvestitionen. Der private Konsum hingegen ist nach wie vor schwach.

Die Institute erwarten, dass sich die Wirtschaft in Deutschland im Prognosezeitraum weiter belebt. Allerdings wird sich die Aufwärtstendenz erst allmählich festigen. Zunächst wirkt die starke Aufwertung des Euro noch nach, mit der Folge, dass die Dynamik der Weltkonjunktur nur gedämpft auf den Export durchschlägt. Sofern die Annahme der Institute zutrifft, dass der US-Dollar gegenüber dem Euro nicht weiter an Wert einbüßt, wird dieses Hindernis im späteren Verlauf des Jahres 2004 an Bedeutung verlieren. Die außenwirtschaftlichen Impulse werden allmählich auf die Investitionen in Ausrüstungen übergreifen; letztere dürften trotz der Belastungen durch die Finanzpolitik spürbar an Fahrt gewinnen. Stützend wirkt dabei, dass die Geldpolitik ihren expansiven Kurs beibehält und die monetären Rahmenbedingungen günstig bleiben.

Der Produktionsanstieg wird sich in diesem Jahr nur allmählich beschleunigen. Im kommenden Jahr wird sich das Expansionstempo nicht weiter erhöhen. Arbeitstäglich bereinigt beläuft sich der Zuwachs im Durchschnitt des Jahres 2004 auf 0,9 Prozent, im kommenden Jahr auf 1,7 Prozent. Im Jahr 2004 ist die Zahl der Arbeitstage überdurchschnittlich hoch. Unter Einschluss dieses Effekts ergibt sich in beiden Jahren eine Rate von 1,5 Prozent. Bei dieser Entwicklung ist im kommenden Jahr nur mit einem leichten Anstieg der Beschäftigung zu rechnen. Der Preisauftrieb bleibt gering.

Die konjunkturelle Erholung macht die Herausforderungen für die Politik nicht geringer. Es wäre falsch zu meinen, die bessere Konjunktur sei auch oder sogar vorwiegend das Ergebnis der in Gang gesetzten Reformen, und man könne nun warten, weil vermeintlich genug getan worden sei.

Die Finanzpolitik steht vor der Aufgabe, die öffentlichen Haushalte zu konsolidieren. Die Lage der öffentlichen Finanzen in Deutschland bleibt angespannt, das Budgetdefizit hoch. Nach der Prognose der Institute wird es sowohl in diesem Jahr als auch 2005 in Relation zum Bruttoinlandsprodukt rund 3½ Prozent betragen. Damit wird die im Stabilitäts- und Wachstumspakt festgelegte Obergrenze im kommenden Jahr zum vierten Mal in Folge überschritten. Während die Institute hinsichtlich der Notwendigkeit der Konsolidierung prinzipiell übereinstimmen, kommen sie zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen über das konkrete Vorgehen.

Die Mehrheit der Institute hält es für erforderlich, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt eingehalten wird. Sie plädiert dafür, den Anstieg der Staatsausgaben enger zu begrenzen, Steuervergünstigungen weiter abzubauen und so sicher zu stellen, dass das Defizit schon im kommenden Jahr unter die 3-Prozent-Marke gesenkt wird. Die Bundesregierung kann jetzt nicht mehr darauf verweisen, dass dies mit Rücksicht auf die Konjunktur nicht sinnvoll sei. Der Budgetausgleich kann nicht auf unbestimmte Zeit oder auch nur auf die Jahre nach 2007 verschoben werden. Denn dann würde man bei einer möglichen Konjunkturschwäche von einem zu hohen Defizit starten; ferner müsste man, um die 3-Prozent-Marke bei der Defizitquote nicht zu überschreiten, möglicherweise hinnehmen, dass die automatischen Stabilisatoren nicht voll wirken können.

Das DIW Berlin und das IWH halten das von der Mehrheit geforderte zusätzliche Sparpaket zur Einhaltung der Defizitzusagen für nicht angemessen. Gerade weil die deutsche Wirtschaft im Euroraum derzeit besonders unter der konjunkturellen Schwäche leidet und die Geldpolitik nur auf die Entwicklung im Euroraum insgesamt reagieren kann, ist eine adäquate finanzpolitische Reaktion von großer Bedeutung. Aus diesem Grund schlagen die beiden Institute vor, die Konsolidierung mittelfristig durch einen verbindlichen Ausgabenpfad voranzutreiben und die Einnahmen im Rhythmus der Konjunktur schwanken zu lassen. Auf diese Weise würde in der gegenwärtigen Schwäche ein zu restriktiver Kurs vermieden. Umgekehrt wird bei einer stärkeren Belebung der Konjunktur in der Weise würde in der gegenwärtigen Schwäche ein zu restriktiver Kurs vermieden. Umgekehrt wird bei einer stärkeren Belebung der Konjunktur in der Zukunft der Konsolidierungskurs gleichsam automatisch verschärft.

Vor dem Hintergrund der angespannten öffentlichen Haushalte gibt es scheinbar wenig Spielraum für eine Wachstumspolitik, zum Beispiel für höhere Investitions- und Bildungsausgaben. Gleichzeitig erfordert die sich abzeichnende Verschiebung der Altersstruktur zu Lasten der Bevölkerung im Erwerbsalter weitere Maßnahmen in der gesetzlichen Krankenversicherung und Rentenversicherung, um den künftigen Belastungen gerecht zu werden. In der Finanzpolitik in Deutschland ist derzeit kein klares Konzept zu erkennen. Gewiss hat die derzeit schwierige Lage in den öffentlichen Haushalten immer noch mit den hohen Lasten zu tun, die sich in der Folge der deutschen Einheit ergeben haben. Vor allem kommt jetzt es darauf an, die richtigen Akzente in der Wachstumspolitik zu setzen. So gilt es, das Versprechen einzulösen, die Staatsausgaben zugunsten investiver Ausgaben umzuschichten. Mittelfristig sollten die Ausgaben des Staates für Sach- und Humankapital wieder erheblich aufgestockt werden. Auch das Ziel, die Abgabenlast zu verringern, muss trotz hoher Budgetdefizite nicht grundsätzlich aufgegeben werden. Zwar ist es aus heutiger Sicht schwierig, die Bürger weiter zu entlasten. Doch muss man mit einer Reform des Steuersystems nicht Jahre warten; vielmehr sollte auf Basis der vorliegenden Vorschläge nun auf jeden Fall das Steuersystem rasch vereinfacht werden. Wenn man mit dem Abbau von Subventionen und Steuervergünstigungen vorankommt, eröffnen sich Spielräume sowohl für mehr staatliche Investitionen als auch für niedrigere Steuern.

Die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank hat die konjunkturelle Erholung im Euroraum und auch in Deutschland durch niedrige Zinsen gefördert. Wenn nun auch weltweit offenbar eine Zinswende bevorsteht, ist es richtig, dass die EZB die Zinsen beibehält, solange die wirtschaftliche Erholung im Euroraum so moderat verläuft wie sowohl von den Instituten als auch von der Notenbank prognostiziert.

Die Institute haben bereits mehrfach betont, dass sie die in Angriff genommene Arbeitsmarktreform alles in allem für einen Schritt in die richtige Richtung halten. Sie könnte dazu beitragen, die Effizienz der Arbeitsvermittlung und die Intensität der Arbeitssuche zu erhöhen sowie die Dauer der Arbeitslosigkeit zu verringern. Auch könnte die Neuregelung der Mini-Jobs helfen, Arbeitsplätze aus der Schattenwirtschaft auf den regulären Arbeitsmarkt zurückzuverlagern. Die Institute haben allerdings immer davor gewarnt, bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit allzu große Hoffnungen auf das Hartz-Konzept zu setzen, das die Grundlage der neuen Arbeitsmarktpolitik bildet. Ein Grund dafür sind die nicht unerheblichen Mitnahme- und Verdrängungseffekte. Schwerer wiegt aber noch, dass die ergriffenen Maßnahmen nur wenig dazu geeignet sind, wesentliche Determinanten von Höhe und Struktur der Arbeitslosigkeit wie die zu geringe Wachstumsdynamik, eine hohe Regulierungsdichte am Arbeitsmarkt, Qualifikationsmängel beim Arbeitsangebot und eine immer noch relativ geringe Lohnspreizung, zu beseitigen. Viele der Arbeitsmarktreformen dürften zwar das Produktionspotential steigern. Sie werden aber ihre volle Wirkung erst in einem Aufschwung entfalten, wenn das Potential mehr und mehr ausgeschöpft ist.

Die Osterweiterung der EU hat vielfach Befürchtungen hervorgerufen, dass deutsche Unternehmen die sich dadurch bietenden Möglichkeiten nutzen könnten, in noch stärkerem Maße als bisher Teile ihrer Wertschöpfungskette und damit Arbeitsplätze ins Ausland zu verlagern, sei es durch Direktinvestitionen, sei es durch die Vergabe von Aufträgen an Unternehmen in den Beitrittsländern. Ob durch das wachsende unternehmerische Engagement in Osteuropa per saldo Arbeitsplätze in Deutschland verloren gehen, lässt sich nur nach Abwägung verschiedener Faktoren sagen. Zwar wurden einerseits Arbeitsplätze durch Produktionsverlagerungen abgebaut, andererseits verbesserten kostengünstigere Vorprodukte aus dem Ausland die Wettbewerbsfähigkeit und führten über höhere Exporte zu mehr Arbeitsplätzen. Hinzu kommt, dass ausländische Investoren wesentlich zum Wachstum in den osteuropäischen Ländern beigetragen haben, was ebenfalls zu höheren deutschen Ausfuhren führte. Die positiven Effekte scheinen in Deutschland zu überwiegen. Wirtschaftspolitischer Handlungsbedarf besteht allerdings in zweierlei Hinsicht: Zum einen gilt es, Verlagerungen zu vermeiden, die allein Reflex einer falschen Rahmensetzung in Deutschland sind. Dies gelingt am Besten dadurch, dass man die Wachstumsbedingungen hierzulande nachhaltig verbessert. Zum anderen sind internationale Verlagerungen mit Anpassungen in der Wirtschaftsstruktur verbunden, deren Folgen es abzumildern gilt. Eine zurückhaltende Lohnentwicklung in den betroffenen Bereichen kann dabei durchaus helfen, den Strukturwandel zeitlich zu strecken und Härten zu vermeiden, wenn dies auch nur eine defensive Reaktion sein kann.

Die anhaltende Stockung im Aufholprozess Ostdeutschlands sowie die hohen Abgaben zur Finanzierung der Aufbauleistungen haben eine Diskussion über den Stellenwert und die Ausrichtung der Aufbaupolitik Ost ausgelöst. Im Wesentlichen geht es heute darum, die knappen öffentlichen Mittel dort einzusetzen, wo der größte gesamtwirtschaftliche Wachstumserfolg erzielt werden kann. Zum Teil wird deshalb gefordert, die Aufbaupolitik auf jene Regionen und Wirtschaftszweige zu konzentrieren, in denen die Wachstumspotentiale hoch sind. Diese herauszufinden, ist jedoch für den Staat schwierig und auch nicht seine Aufgabe. Vielmehr liegt dies in der Verantwortung der Unternehmen. Insofern sollte sich die Politik darauf konzentrieren, die Rahmenbedingungen für Unternehmen attraktiv zu gestalten und so die Voraussetzungen für mehr Wachstum und Beschäftigung zu verbessern. Wenn der Staat dennoch im Osten selektiv vorgehen wollte, könnte er seine Politik auf Wachstumskerne ausrichten.

Quelle und Kontaktadresse:
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