Pressemitteilung | Deutscher Juristinnenbund e.V. (djb)

djb-Hintergrundpapier zur geplanten Änderung des SGB II (Bedarfsgemeinschaft)

(Berlin) - Hintergrundpapier des Deutschen Juristinnenbunds e.V. (djb) zur Auseinandersetzung mit dem Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD zu dem Entwurf eines Neunten Gesetzes zur Änderung des SGB II - Rechtsvereinfachung - (Drucksache 18/8041). Sind die Gründe für die Einführung einer zeitgleichen Bedarfsgemeinschaft im Haushalt des umgangsberechtigten Elternteils und die Leistungskürzung im Haushalt des alleinerziehenden Elternteils stichhaltig?

1. Handelt es sich bei der geplanten Regelung um eine bloße Umsetzung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG)?
Die geplante Änderung bezieht sich mehrfach auf die schon geltende Rechtslage und die bestehende Rechtsprechung des BSG. Wird wirklich nur höchstrichterliche Rechtsprechung umgesetzt?
Nein. Das BSG hat zwar die Konstruktion einer temporären Bedarfsgemeinschaft für Kinder in Trennungsfamilien »erfunden« , dies geschah aber aus der Notwendigkeit einer verfassungskonformen Lösung für einen engen Anwendungsbereich heraus. Die entschiedenen Fallkonstellationen hatten den Mangelfall zum Gegenstand, in dem im Haushalt des Umgangsberechtigten das Existenzminimum des Kindes nicht gedeckt werden konnte. Es galt das Problem zu lösen, dass wegen der strikten Pauschale der Regelsätze in der Haupt-Bedarfsgemeinschaft im Streitfall zwischen den Eltern keine Geldmittel zur Existenzsicherung des Kindes im Haushalt des Umgangsberechtigten zur Verfügung standen. Die Sozialgerichte hatten zunächst versucht, eine Art Mehrbedarf aus der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) für die Kosten, die durch den Aufenthalt des Kindes und die Kosten des Umgangs entstehen, anzunehmen. Das BSG hat darin eine dem Gesetz und den klaren Motiven des Gesetzgebers widersprechende unzulässige Erhöhung des Regelsatzes des § 20 SGB II gesehen. Um das Problem des Mangels dennoch zu lösen, hat es einen Anspruch des Kindes auf Sozialgeld im Rahmen der während der Umgangszeiten bestehenden »zeitweisen Bedarfsgemeinschaft« im Haushalt des Umgangsberechtigten hergeleitet. Es ist falsch, wenn der Eindruck vermittelt wird, die Rechtsprechung fordere eine tageweise bescheidmäßige Aufteilung des Sozialgeldes der Kinder für alle Fälle von Patchworkfamilien. Ausdrücklich betont gerade das BSG in der zentralen Entscheidung aus dem Jahr 2006: »Es ist zudem aber auch nicht Aufgabe des SGB II, bis in jede Einzelheit für eine Verteilung der für das Existenzminimum der einzelnen Personen notwendigen Gelder zwischen allen Beteiligten zu sorgen. Der Gesetzgeber darf vielmehr typisierend davon ausgehen, dass Zuordnungsprobleme innerhalb familienhafter Beziehungen von den betroffenen Personen im Rahmen bestehender Bedarfsgemeinschaften gemeistert werden. Dabei darf er auch einen gegenseitigen Willen, füreinander einzustehen, voraussetzen, der über bestehende Unterhaltspflichten hinausgeht. Dies gilt insbesondere bei fortbestehenden Sorgerechtsbeziehungen zwischen geschiedenen Ehegatten.« Auch in späteren Entscheidungen hat das BSG den Einwand der Leistungsträger, Sozialgeld für das Kind sei bereits an den Elternteil der Haupt-Bedarfsgemeinschaft ausgezahlt worden und der andere Elternteil solle sich an diesen halten, nicht gelten lassen: Eine solche vom BSG nicht geforderte bescheidmäßige, standardisierte und regelmäßige Ver-teilung des Sozialgeldes für die Kinder zwischen den Haushalten der Elternteile soll jetzt aber durch die geplante Neuregelung eingeführt werden.

Nicht von der Rechtsprechung gefordert ist erst recht die zeitgleiche Bedarfsgemeinschaft in beiden Haushalten, die das Kind »fiktiv«, nämlich unabhängig vom tatsächlichen Aufenthalt, über den gesamten Leistungszeitraum beiden Haushalten zuordnet. Diese wird mit dem Änderungsantrag neu geschaffen. Der Änderungsantrag zementiert so nicht nur eine in der Rechtsprechung entwickelte Notlösung des Bundessozialgerichts für bestimmte Mangelfälle auf alle Fallgestaltungen, die Konstruktion wird auch noch zum Nachteil der Leistungsberechtigten ausgeweitet. Nun muss zukünftig eine Kürzung im Haushalt der Alleinerziehenden für die Umgangszeiten erfolgen, auch wenn beim Umgangsberechtigten kein Leistungsanspruch nach SGB II besteht.

2. Gibt es eine Verwaltungspraxis, die nur festgeschrieben wird?
Der Änderungsantrag nimmt Bezug auf eine angebliche Verwaltungspraxis der Zuordnung des Kindes zu zwei Bedarfsgemeinschaften und der Aufteilung des Sozialgeldes des Kindes, die nun lediglich vereinfacht werden soll. Besteht bereits eine gängige Verwaltungspraxis, nach der die Jobcenter das Sozialgeld in Alleinerziehendenhaushalten entsprechend der Umgangszeiten kürzen?
Dies ist nach den Erfahrungen aus der Praxis nicht der Fall. Eine flächendeckende Prüfung und durch Bescheide umgesetzte Aufteilung des Sozialgeldes nach Aufenthaltstagen ist nach Einschätzung des djb derzeit nicht gegeben. Sie erfolgt nach den Erfahrungen von Praktikerinnen im Moment nur in zwischen den Elternteilen streitigen Fällen, in denen beide Eltern im SGB II-Leistungsbezug sind. Leistungen werden bisher vor allem dann nicht gekürzt, wenn der andere Elternteil nicht im Leistungsbezug steht. Empirisch repräsentative Informationen über die Praxis liegen leider nicht vor. Selbst die Bundesregierung hat keine Informationen darüber, in wie vielen Haushalten von Alleinerziehenden das Sozialgeld anteilig nach Aufenthaltstagen des Kindes/der Kinder beim anderen Elternteil gekürzt wird. Mit der gesetzlichen Verankerung der vorgeschlagenen Regelungen und der ausnahmslosen fiktiven Zuordnung eines Kindes zu zwei Bedarfsgemeinschaften (§ 7 Abs. 3 Satz 2 SGB II-E) ist zukünftig in jedem Fall von Alleinerziehenden- oder Patchwork- bzw. Wechselmodellfamilien zu prüfen, welche Umgangsvereinbarung bzw. Umgangspraxis vorliegt und eine entsprechende quantitative Zuordnung des Bedarfs vorzunehmen (§ 23 Abs. 3 SGB II-E). Durch die nun notwendige Kürzung des Sozialgeldes auch sogar in den Fällen, in denen keine Bedürftigkeit des umgangsberechtigten Elternteiles vorliegt, wird sich der Anwendungsbereich der Neuregelung gegenüber dem Status quo deutlich erweitern.

3. Ist durch die geplante Regelung eine Verwaltungsverschlankung zu erwarten?
Nein. Allein die Tatsache, dass Anwesenheitstage monatlich nicht kalendarisch, sondern summarisch ausgewiesen werden müssen und die Akribie, welche § 23 Abs. 2 SGB II-E seinerseits darauf verwendet, die genaueste Lösung abzubilden, lassen (neue) Anwendungs- und Auslegungsprobleme erwarten. Was ebenfalls nicht entfällt, ist die monatliche (vorläufige) Bewilligung mit der regelmäßig endgültigen (abweichenden) Festsetzung. Der Umfang des neu einzufügenden § 41a SGB II-E macht insoweit den Gewinn an einem schlankeren Verwaltungsvollzug ohnehin zunichte. Vor allem ist nun in jeder Alleinerziehenden-Bedarfsgemeinschaft zu prüfen, ob Umgangskontakte den Leistungsanspruch beeinflussen (etwa in der o.g. Form der Kürzung bzw. »Verschiebung« des Sozialgeldes während der Umgangszeiten, doppelter Freibeträge und insbesondere zahlreicher Abstimmungen zwischen den zuständigen Jobcentern etc.).

4. Können sich Familien oder Jobcenter dieser kleinteiligen Sozialgeldzuordnung zwischen den Haushalten und der aufwändigen Prüfung und Berechnung entziehen?
Nein, mit einer gesetzlichen Verankerung ist die Prüfung, ob und in welcher Höhe Sozialgeldansprüche in beiden Haushalten jeweils bestehen, zwingend vorgeschrieben. Entsprechend müssen die Eltern an der Sachverhaltsaufklärung mitwirken und Angaben zu Umgangsaufenthalten machen. Spiegelbildlich sind Jobcenter verpflichtet, in Alleinerziehendenhaushalten Überzahlungen zu vermeiden und in Haushalten der Umgangsberechtigten den zutreffenden Bedarf zu ermitteln.
Ohne Angaben zum Umgangsrecht würden zudem Ansprüche auf zusätzliche Erstausstattung beim Umgangsberechtigten oder Fahrtkosten unter den Tisch fallen, ebenso der doppelte Anschaffungsfreibetrag des Kindes nach § 12 Abs. 2 Nr. 4 SGB II (bzgl. Ersatzbeschaffungen, Reparaturen etc.). Auch die Masse der Eltern, die den Sozialgeldtransfer bzgl. der Umgangsaufenthalte bisher unstreitig bewerkstelligt haben, werden über die Neuregelung also zukünftig zu detaillierten Auskünften zu ihrer Umgangsgestaltung verpflichtet. Dies muss dann ohne sachliche Notwendigkeit von den Jobcentern bescheidmäßig umgesetzt und überprüft werden. Dies gilt auch dann, wenn diese bürokratischen Aufteilungen des Sozialgeldes den Absprachen der Eltern nicht entsprechen, was unnötiges Konfliktpotential für die Familien birgt.

5. Muss die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts von der Gesetzgebung übernommen werden?
Nein, gelöst werden muss das Problem der verfassungsfesten Existenzsicherung von Kindern in Trennungsfamilien. Aufgegriffen werden muss weder der bisherige richterrechtliche Lösungsansatz noch eine so ohnehin nicht bestehende Verwaltungspraxis. Wie schnell sich in anderen Fällen die Gesetzgebung von der BSG-Rechtsprechung, die nicht gefällt, verabschiedet, zeigt der aktuelle Entwurf zum fünfjährigen Regelausschluss von EU-Bürger_innen auch aus der Sozialhilfe. Hier soll der Lösungsweg des BSG, EU-Ausländer_innen, die keine Leistungen nach dem SGB II erhalten können, partiell über die Sozialhilfe nach dem SGB XII abzusichern, zukünftig abgeschnitten werden.

6. Gibt es Alternativen zur Lösung des Problems?
Ja. Die Gesetzgebung hat eine Gestaltungsaufgabe, und eine pauschale Lösung wie der Mehrbedarf würde den richtigen Ansatz des SGB II - durch eine vereinfachte Pauschalierung die Selbstbestimmung der Bürger_innen zu fördern und den Verwaltungsaufwand zu minimieren - fortführen. Mit einem pauschalen Umgangsmehrbedarf für den umgangsberechtigten Elternteil wäre eine wirkliche Reduzierung des Verwaltungsaufwandes gegenüber der gegenwärtigen richterrechtlich geprägten temporären Bedarfsgemeinschaft in den Jobcentern zu erreichen. Ein Mehrbedarf im Haushalt des Umgangsberechtigten ist sachgerecht, um den alltägli-chen Bedarf des Kindes während des Umgangs und zusätzliche Anschaffungen im Haushalt des Umgangsberechtigten sicher abzudecken. Ein Mehrbedarf wäre auch die bessere Lösung. Die vorgeschlagene strenge Aufteilung des Sozialgeldes nach den Aufenthaltsta-gen berücksichtigt nicht, dass Fixkosten wie Telefon, Strom, Versicherungen oder Vereinsbeiträge weiterhin laufend im Haushalt der Alleinerziehenden anfallen und bei Abwesenheiten des Kindes nicht eingespart werden. Die mit der Verschlankung des Sozialrechts begründeten Einschnitte zu Lasten der Alleinerziehenden bekämpfen nicht die Kinderarmut, sondern gefährden letztlich das Kindeswohl.

Der djb fordert daher den zusätzlichen Bedarf infolge Umgangs anzuerkennen und einen entsprechenden Anspruch auf Mehrbedarf gesetzlich zu verankern und zwar ohne Kürzung des Sozialgeldanspruchs im Haushalt des alleinerziehenden Elternteils.
Auf diese Weise entfielen zudem Abstimmungen zwischen Jobcentern, taggenaue Darlegungen und Prüfungen. Der Verwaltungsaufwand würde deutlich reduziert. Mit dem pauschalen Mehrbedarf würde der Gesetzgeber - besonders für alleinerziehende Frauen - den programmatischen Auftrag verwirklichen, der an den Anfang des SGB II gestellt ist: »Die Gleichstellung von Männern und Frauen ist als durchgängiges Prinzip zu verfolgen.« (§ 1 Abs. 2 Satz 3 SGB II). Außerdem würde er die Leistungen tatsächlich danach ausrichten, dass »geschlechtsspezifischen Nachteilen von erwerbsfähigen Leistungsberechtigten entgegengewirkt wird und die familienspezifischen Lebensverhältnisse von erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die Kinder erziehen [...], berücksichtigt werden, « (§ 1 Abs. 2 Satz 4 Nr. 3 und Nr. 4 SGB II).

Ramona Pisal
Präsidentin

Prof. Dr. Maria Wersig
Vorsitzende der Kommission Recht der sozialen Sicherung,
Familienlastenausgleich

Weitere Informationen:
https://www.djb.de/Kom/K4/st16-06/
https://www.djb.de/Kom/K4/st16-04/
https://www.djb.de/Kom/K4/pm16-08/
https://www.djb.de/Kom/K4/pm16-05/

Quelle und Kontaktadresse:
Deutscher Juristinnenbund e.V. (djb), Vereinigung der Juristinnen, Volkswirtinnen und Betriebswirtinnen Pressestelle Anklamer Str. 38, 10115 Berlin Telefon: (030) 443270-0, Fax: (030) 443270-22

(wl)

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