Verbändereport AUSGABE 3 / 2012

Max Weber und Verbände

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Wer unter ökonomischen oder sozialwissenschaftlichen Gesichtspunkten mit Verbandsforschung befasst ist und Leben und Werk des Juristen, Ökonomen und großen Soziologen Max Weber in seine Überlegungen einbezieht, wird rasch bemerken, welch hohen Stellenwert Verbände und Verbandsbildungen für ihn besaßen.

Max Weber als Teilnehmer von Verbänden

Kleine und große Verbände, Vereinigungen und öffentliche Anstalten der verschiedensten Art waren für Weber von klein auf wichtig: Seine Familie, besser: der Familienverband, dem er entstammte, war zahlreich und bei starkem Zusammenhalt weit gestreut. Er besuchte Gymnasium und Universität, zweifellos anstaltsartige Verbände, schlug sich in einer Studentenverbindung, brachte es beim Militär, einem Großverband, bis zum Reservehauptmann. Seine Berliner juristische Dissertation behandelte die Herausbildung der „offenen Handelsgesellschaft“ aus dem Solidarhaftprinzip italienischer Seehandelsgesellschaften im Mittelalter. Während seiner Zeit als Rechtsreferendar schrieb er eine zweite Dissertation über die römische Agrargeschichte, die seine Universität zusammen mit der ersten als Habilitationsleistung anerkannte – das Entreebillet in den angesehenen Universitätsprofessorenstand. Und für den hochangesehenen „Verein für Socialpolitik“, dem er bald als Mitglied beitrat, bearbeitete er eine umfangreiche Enquête über die Lage der ostelbischen Landarbeiter. Als er sein zweites juristisches Staatsexamen ablegte, hatte die wahnwitzige Schreibarbeit dieser Jahre seine Handschrift fürs Leben verdorben. Nicht einmal seine spätere Ehefrau konnte sie irrtumsfrei lesen.

Als er 29 war, 1893, machte die Freiburger und mit 32 die Heidelberger Universität den Berliner Juristen zum Professor für Volkswirtschaftslehre. Aber erst, indem er sich dort auf das Börsenwesen stürzte und mit dem mächtigen Großagrarierverband „Bund der Landwirte“ um das Warentermingeschäft und um eine neue Börsengesetzgebung des Reichs stritt, wuchsen ihm zu seinem juristischen Denken und Argumentieren auch das Verstehen der ökonomischen Dinge und die Lust an der Einmischung in die Politik zu. Bald engagierte er sich mit Nachdruck im liberal gestimmten „Evangelisch-sozialen Kongreß“ und im „Verein für Socialpolitik“. Hier wie auch in seinen Diskussionsbeiträgen auf den Kongressen der bis heute blühenden „Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS)“, deren Mitgründer und Vorstandsmitglied er war, entwickelte und vertiefte er in der intellektuellen Auseinandersetzung über gesellschaftliche und politische Grundfragen sein Konzept der Werturteilsfreiheit in der wissenschaftlichen Arbeit, und er stellte im Streit über genau dieses Grundthema die Mitarbeit in der DGS bald wieder ein.

Der Soziologe

Max Weber schöpfte aus dem Vollen: Schon der etwa Vierzigjährige konnte handels-, rechts-, wirtschafts- und agrar-wissenschaftliche Untersuchungen über die mittelalterliche Geschichte des Mittelmeerraums, die Geschichte des alten Rom und des antiken Vorderen Orients vorweisen. Er hatte über die agrarischen Verhältnisse Ostdeutschlands und über die Börse gearbeitet und eingehende Analysen der russischen Revolution von 1905 publiziert. Die heute noch lebhaft diskutierte religionswissenschaftlich-soziologische Studie über die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus sowie seine Beiträge zur Objektivität sozialwissenschaftlicher Forschung markierten seine Wende zur Soziologie. Er beobachtete die Leute bei ihrer Arbeit in der Textilfabrik, maß ihren individuellen Arbeitsstil und -ertrag und galt bald als ein führender Arbeitswissenschaftler. Die Teilnahme an Enquêten über das Zeitungs- und über das Vereinswesen schloss sich an. Bald begab er sich auf die Suche nach den Spezifika abendländischer Rationalität in Kultur und Ökonomie. Mit dem Blick des umfassend gebildeten Soziologen und mithilfe des systematischen Vergleichs mit ihren antiken, asiatischen, arabischen und schwarzafrikanischen Entsprechungen schälte er die Besonderheit sowohl der abendländischen Musik als auch der abendländischen Stadt heraus. Als Herausgeber des vielbändigen Handbuchs: „Grundriss der Sozialökonomik“ bewährte er sich parallel dazu ab etwa 1908 bis 1919 als Dompteur einer großen Schar von Fachkollegen. Ein Netzwerk entstand. Und er selbst trug unter dem Titel „Wirtschaft und Gesellschaft“ einen weltumspannenden Teil zum gemeinsamen Unternehmen bei.

Die politische Bühne

Der Weltkrieg unterbrach diese Arbeiten. Weber untersuchte nun die Strukturbedingungen deutscher Politik, mischte sich mit langen Artikelfolgen der Frankfurter Zeitung in Arbeit und Struktur des Reichstags ein – auch dies, wenn man so will, ein „Verband“: Es ging ihm um die Stärkung des Parlaments gegenüber der Regierung, letztlich um die demokratische Parlamentarisierung des Reiches. Wilhelm Hennis hat diese Arbeiten sinngemäß einmal unter die Grundschriften der politischen Wissenschaften gerechnet. Parallel dazu entstanden während der Kriegsjahre in der Form einer Serie von Aufsätzen Bücher über die Wirtschaftsgesinnung – er nannte das „Wirtschaftsethik“ – der Weltreligionen: Gedruckt wurden damals leider nur die Aufsatzfolgen über die Religionen in China und Indien sowie über das antike Judentum. Kein Hauch des großen Völkermordens jener Jahre ist darin zu verspüren. Der gelehrte Deutsche erweist seinen Kollegen in den feindlichen Ländern ganz selbstverständlich die zunftgemäße Reverenz.

Weber nahm damals an verschiedenen Zirkeln und Aktionen teil, die für Augenmaß bei Kriegsmitteln und Kriegszielen warben – auch sie in ihrer Art „Verbände“ – und er schloss sich der Deutschen Demokratischen Partei an, für die er nach der Revolution vom November 1918 auch gerne in die Weimarer Nationalversammlung eingezogen wäre, doch seine Partei ließ einen anderen kandidieren. Dafür gewann seine Frau Marianne in derselben Zeit als eine der ersten weiblichen Abgeordneten einen Sitz im Badischen Landtag. Ihn lud die revolutionäre Reichsregierung in die deutsche Delegation zu den Friedensverhandlungen in Versailles ein. Dort blieb er eine Randfigur. Webers Versuche, im Parlaments- oder institutionellen Politik-betrieb Aufnahme zu finden, waren gescheitert.

„Verbände“ in Webers Werk

Max Weber wusste also aus eigener Teilnahme darüber Bescheid, was es mit den „Verbänden“ auf sich hatte. Der Verband als eine Grundeinheit menschlicher Vergesellschaftung gehörte selbstverständlich zum Bestand seines juristischen, ökonomischen und soziologischen Arguments. In seinen Studien richtete er den Blick auf viele Verbände und untersuchte den „Verband“ an vielerlei Stellen seines Werkes unter vielerlei Sonderaspekten: Abstimmungsverband, Amtsverband, Berufsverband, Bürgerverband, Einzelverband, Fürstenverband, Geschlechterverband, gewerbliche Verbände, Kleintierzüchterverband, Kriegerverband, Kultverband, Lehensverband, lokale Verbände, Militärverband, Personalverband, Personenverband, organisierte Verbände, politische Verbände, politische Sonderverbandsbildung, Schwurverband, Schutzverband, Sippenverband, Verbrüderungsverband, Wahlverband, Wehrverband, Zweckverband. Und es kommen gewiss noch viele andere vor: Genossenschaft, Verbindung, Verein usw.

In dem Teil von „Wirtschaft und Gesellschaft“, den Weber 1919/20 in der Paragrafensprache des gelernten Juristen niederschrieb, wird der „Verband“ als Oberbegriff sowohl für „vergemeinschaftete“ als auch für „vergesellschaftete“ Menschengruppen verwendet, also etwa für die Angehörigen der Kleinfamilie oder – alternativ – für die Mitglieder einer politischen Partei.

„Wirtschaft und Gesellschaft“

Obwohl Weber nicht unser Zeitgenosse ist, können einem sein Werk, seine penible Genauigkeit und sein Fragen die Augen öffnen, auch für unsere Gegenwart. Wirtschaft und Gesellschaft ist freilich auch voller Passagen, die man wieder und wieder und nicht selten vergeblich liest. Denn die um die äußerste juristische und begriffliche Akkuratesse und Klarheit bemühte Argumentation ist an den alten Sprachen und der juristischen Fachprosa geschult und voller erläuternder und einschränkender Adjektive, Partizipien und Nebensätze. Seine Begriffs- und Stileigenschaften machen das Verstehen sehr schwer – so auch seine Bestimmung des Verbands:  „Ein Verband ist vermöge der Existenz seines Verwaltungsstabes stets in irgendeinem Grade Herrschaftsverband. Nur ist der Begriff relativ. Der normale Herrschaftsverband ist als solcher auch Verwaltungsverband. Die Art wie, der Charakter des Personenkreises, durch welchen, und die Objekte, welche verwaltet werden, und die Tragweite der Herrschaftsgeltung bestimmen die Eigenart des Verbandes. Die ersten beiden Tatbestände aber sind im stärksten Maß durch die Art der Legitimitätsgrund-lagen der Herrschaft begründet.“

An anderer Stelle heißt es dann:  „Die ‚Existenz‘ des Verbandes haftet ganz und gar an dem ‚Vorhandensein‘ eines Leiters und eventuell eines Verwaltungsstabes. D. h., genauer ausgedrückt: an dem Bestehen der Chance, dass ein Handeln angebbarer Personen stattfindet, welches seinem Sinn nach die Ordnungen des Verbandes durchzuführen trachtet: dass also Personen vorhanden sind, die darauf ‚eingestellt‘ sind, gegebenenfalls in jenem Sinn zu handeln. Worauf diese Einstellung beruht: ob auf traditionaler oder affektueller oder wertrationaler Hingabe (Lebens-, Amts-, Dienst-Pflicht) oder auf zweckrationalen Interessen (Gehaltsinteresse usw.), ist begrifflich vorerst gleichgültig. In etwas anderem als der Chance des Ablaufes jenes, in jener Weise orientierten, Handelns ‚besteht‘, soziologisch angesehen, der Verband also für unsere Terminologie nicht.“ Bei all solcher Nüchternheit ist ihm spitzer Humor freilich durchaus nicht fremd: „Wie weit z. B. ein Familienverband von den Beteiligten als ‚Gemeinschaft‘ gefühlt oder als ‚Vergesellschaftung‘ ausgenutzt wird, ist sehr verschieden.“

Begriffsbestimmung von „Verband“

Auf eine explizite und zugleich fassliche Begriffsklärung, was mit dem allgemeinen Begriff „Verband“ gemeint sei, oder gar auf eine Theorie des Verbands wird man in Webers Werk nicht leicht stoßen. Jedenfalls macht zufälliges gemeinsames Tun oder Sein für ihn noch keinen Verband aus. Das gilt für die Gäste im Restaurant und die Liebhaber von Meeresfrüchten ebenso wie für die Menschen, die gerade gleichzeitig über eine Brücke gehen oder im Theater auf die Bühne schauen. Weber versteht unter Verbänden vielmehr Zusammenschlüsse von Personen, womit auch juristische Personen gemeint sein können, und wobei dem Zusammenschluss eine gemeinsame Absicht, ein Zweck, zugrunde liegt, wie das z. B. typischerweise bei den zahlreichen Genossenschaftsbanken offensichtlich der Fall ist. Webers Verbände verfügen über eine rudimentäre oder auch ausgefeilte Binnenorganisation mit Führungspersonen an der Spitze. Wo es keine Konkurrenzsituation gibt, erheben die Verbände gemeinhin keinen Monopolanspruch auf ihre Mitglieder: Das Mitglied der CSU bekommt Ärger, wenn es auch bei den Grünen eintritt, es kann aber durchaus im ADAC sein, und wer im ADAC ist, mag auch im Tanzclub aus- und eingehen.

Nachruhm

Vor ein paar Jahren bestand eine Harvard-Bibliothekarin darauf, Max Weber sei Amerikaner gewesen, die Literatur über ihn sei doch englisch, und er habe englisch publiziert. Gewiss, auch in England, Amerika und überhaupt überall, wo Englisch gängige Wissenschaftssprache ist, rund um den Globus also, arbeiten sich Vertreter der verschiedensten Fachrichtungen an Webers riesigem, vielsprachig übersetztem wissenschaftlichen Werk ab. Offenbar ist es noch längst nicht ausgeschöpft, und niemand kann die Forschungsliteratur über ihn und sein Werk überblicken. Gäbe es eine Bibliografie des Weber-Schrifttums, 20.000 Titel fänden sich gewiss darin, und täglich erscheint Neues, jetzt auch und vor allem im Internet. Denn der Forschungsdiskurs unter Natur-, Sozial- oder Wirtschaftswissenschaftlern und anderen hat sich längst ins Internet verlagert. Die Furcht geht um, dass ein Zeitschriftenartikel oder gar ein Buch veraltet, bevor es gedruckt auf den Markt kommt. Manches aber darf alt werden, ohne zu veralten. Zug um Zug entstehen die großen historisch-kritischen Auswahl- und Gesamtausgaben der Werke herausragender Dichter und Gelehrter von früher. Dadurch sind und bleiben sie Teil der wissenschaftlichen, politischen und kulturellen Diskurse und Freuden unserer Zeit. So auch Max Weber. Er meldet sich dank der vielbändigen „Max-Weber-Gesamtausgabe“ jetzt und in Zukunft mit starker Stimme im allgemeinen Diskurs zu Wort.

Über Max Weber

Max Weber wurde 1864 in Erfurt geboren und erlag einer Lungenentzündung 1920 in München. Als Soziologe, Volkswirt und Jurist wird Webers Werk interdisziplinär bis heute anerkannt und gilt als grundlegend für die sogenannte „Spezielle Soziologie“ und dort besonders für die Wirtschafts- und Herrschaftssoziologie. Zudem geht auf ihn das Prinzip der Wertneutralität zurück, das von wissenschaftlichen Aussagen deren vollkommene Freiheit normativer Grundannahmen fordert. Im Werk Webers nimmt das Modell des „sozialen Handels“ eine wesentliche Funktion ein. Diesem Denkkonstrukt nach definiert sich Handeln als Orientierung am Verhalten anderer. Diesen „subjektiven Sinn“ der Handlung unterteilt Weber in vier Idealtypen: zweckrationales, wertrationales, affektuelles und traditionelles. Diese Erklärungsmuster fließen ebenso in seine ökonomischen Schriften ein, deren zentrales Thema die Gründe und Erscheinungen sind, nach denen sich in der westlichen Welt die kulturelle Basis von „Wirtschaft und Gesellschaft“ entwickelte.

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