Pressemitteilung | Deutscher Bibliotheksverband e.V. (dbv)

Im Wettlauf mit dem Säurefraß

(Berlin) - In deutschen Archiven und Bibliotheken verfallen Jahr für Jahr unzählige kulturelle Schätze. Die alten Bücher, Handschriften und Karten sind enormen Schädigungen ausgesetzt. 80 Millionen Werke warten auf Rettung. Doch es gibt viel zu wenig finanzielle Mittel. Vor gut einem Jahr ist immerhin eine zentrale Koordinierungsstelle in Berlin eingerichtet worden. Dort hofft man, Politik und Öffentlichkeit für das dramatische Problem sensibilisieren zu können.

Der Krieg war gerade vorbei, da gab es Ende Mai 1945 im kleinen Rathaus der Stadt Pfullingen eine enorme Explosion. Waffen und Munitionsreste waren dort gesammelt worden, um sie zu vernichten. Doch eine Unachtsamkeit hatte sie entzündet. Wie es heißt, könnte ein weggeworfener Zigarettenrest das Unglück verursacht haben. Das Rathaus stand in Flammen. Vier Angehörige der französischen Streitkräfte kamen ums Leben. Auch nach dem Ende der Kämpfe sollte es noch weitere Opfer geben.
Der materielle Schaden traf zudem das Stadtarchiv der kleinen Stadt südlich von Stuttgart. "Der Brand hat eine große Lücke in unsere Bestände gerissen, die dort lagerten", sagt Stefan Spiller, der das Archiv seit 2008 leitet. "Nicht nur die Explosion selbst, auch die anschließenden Löscharbeiten haben Schäden verursacht." In den Jahren darauf kam Schimmelbildung hinzu. Denn an eine ordentliche Restaurierung der alten Schätze war lange Zeit aus Kostengründen kaum zu denken.
66 Jahre sollte es dauern, bis die Rettung der alten Papiere einen großen Schritt machte. Insgesamt rund 60 Archivalien wurden restauriert und stehen jetzt wieder zur Nutzung bereit. Es sind Gemeinderatsprotokolle, Steuerbücher aus dem 17. Jahrhundert und weitere bedeutende Quellengruppen. "Möglich wurde das durch eine Förderung der Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts", sagt Spiller. "2011 hat die Berliner Einrichtung dieses Vorhaben gefördert."

Säure zerstört die kostbaren Werke
Das Pfullinger Stadtarchiv ist nicht das einzige, das mit solchen Problemen zu kämpfen hat. Brandschäden oder andere Umwelteinflüsse sowie die Nutzung historischer Bestände machen diesen überall im Land mächtig zu schaffen. Der größte Feind der Bücher steckt aber in ihnen selbst. Es ist die Säure im Papier, die die alten Bestände der Bibliotheken unumkehrbar in Mitleidenschaft zieht. Sie zersetzt das Material von innen heraus. Gut 80 Millionen Bücher aus säurehaltigem Papier sind davon in Deutschland betroffen.
"Wir müssen dringend handeln, um unsere kostbaren historischen Bestände vor dem Verfall zu retten", sagt Dr. Ursula Hartwieg. Sie leitet die vor gut einem Jahr gegründete Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts (KEK). "Mit zehn Millionen Euro jährlich könnten wir die drängendsten Aufgaben bewältigen", sagt sie. "Die Massenentsäuerung von Büchern ist extrem teuer." Doch von dieser Summe kann momentan keine Rede sein. Die Koordinierungsstelle hat einen jährlichen Etat von 600.000 Euro. Er wird vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien mit 500.000 Euro sowie der Kulturstiftung der Länder mit 100.000 Euro bereitgestellt.
Immerhin gilt die Einrichtung der Koordinierungsstelle als ein bedeutender Schritt für den Schutz der alten Bücher, Handschriften und Karten in Bibliotheken und Archiven. Zu den Hauptaufgaben der KEK zählen nämlich die Erstellung eines nationalen Bestandserhaltungskonzepts, die Evaluation bereits vorhandener Erkenntnisse sowie die Vernetzung bestehender Institutionen. "Wir unterstützen durch die Förderung von Modellprojekten auch die Forschung", sagt Hartwieg. Allein im vergangenen Jahr wurden 40 Projekte gefördert. Dabei wolle man insbesondere mit regionalen Einrichtungen zusammenarbeiten. "Dort liegen viele Schätze, die es sehr schwer haben, Aufmerksamkeit zu erhalten", sagt die Frau, die sich seit ihrem Anglistikstudium in den 80er Jahren mit historischen Buchbeständen beschäftigt.
Große Teile der Bestände des Alten Archivs der bayrischen Kleinstadt Wasserburg zum Beispiel wurden durch eine KEK-Förderung vor dem Verfall gerettet. Sie waren im Jahr 1874 nach einem Rathausbrand feucht geworden. "In der anschließenden jahrzehntelangen unsachgemäßen Lagerung in alten Archivschränken wurden sie allmählich von Schimmel befallen", erzählt Matthias Haupt, der Leiter des Archivs. "2011 konnten wir dann einen beträchtlichen Teil der Urkunden und Handschriften in einer von der KEK unterstützen Sicherungsmaßnahme konservatorisch behandeln, unter anderem reinigen und neu verpacken." Heute lagern die Archivalien, die bis zum Jahr 1301 zurückreichen, in einem Neubau, in dem geeignete klimatische Bedingungen herrschen. "Die Arbeiten sind damit zwar noch nicht abgeschlossen", sagt Haupt. "Knapp 1000 der insgesamt 5000 Pergament-Urkunden müssen noch gesichert werden. Aber wir sind einen großen Schritt vorangekommen."

Jahrelange politische Überzeugungsarbeit
Der Einrichtung der KEK war harte politische Überzeugungsarbeit vorausgegangen - und beendet ist sie noch lange nicht. Bereits 2001 hat sich die Interessengemeinschaft "Allianz Schriftliches Kulturgut Erhalten" gegründet. Mit Denkschriften, Stellungnahmen und einem Nationalen Aktionstag versucht sie seither, Politiker und Öffentlichkeit von der Relevanz dieses Themas zu überzeugen. Rückenwind kam von der Enquetekommission des Bundestages "Kultur in Deutschland". Sie empfahl Bund und Ländern 2007 ein nationales Konzept für die Bestandserhaltung zu erarbeiten. "2009 hat die Allianz dann eine Denkschrift an den damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler überreicht", sagt Ursula Hartwieg. "Darin wurde unsere Koordinierungsstelle explizit gefordert."
Die KEK wurde schließlich auf Initiative von Kulturstaatsminister Neumann im August 2011 bei der Stiftung Preußischer Kulturbesitz eingerichtet. Mit einer Laufzeit von zunächst fünf Jahren ist sie an der Staatsbibliothek zu Berlin angesiedelt, jedoch eine eigenständige Einrichtung. Als wäre es ein Sinnbild, liegt das Büro im Gebäude der Staatsbibliothek inmitten einer riesigen Baustelle. "Hier am Standort Unter den Linden wird gerade von Grund auf saniert", sagt Ursula Hartwieg. Aber das scheint die große, schlanke Frau nicht zu stören. Trotz des Lärms der Baumaschinen erläutert sie ungerührt und blitzschnell die Arbeit und Ziele ihrer KEK.
"Wir können uns nun vor allem auf nationaler Ebene mit Fragen zur Sicherung des schriftlich überlieferten Kulturerbes befassen", sagt Hartwieg. Das sei auch dringend nötig. "Denn aufgrund der Kulturhoheit der Länder hat Deutschland keine einheitliche nationale Strategie zur Bestandserhaltung. Bei unseren Nachbarn, den Niederlanden oder der Schweiz zum Beispiel, ist das anders."
Seit 1999 arbeitet Ursula Hartwieg in Berlin. Bevor sie die Leitung der KEK übernahm, war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin der Staatsbibliothek. Von diesen Aufgaben ist sie für die fünfjährige Aufgabe freigestellt. Insgesamt 2,5 Personalstellen hat sie nun zu verantworten, die ebenfalls aus dem 600.000-Euro-Budget finanziert werden. "Große Sprünge können wir mit diesem Etat also nicht machen", sagt sie. "Wir hoffen deshalb, dass die Koordinierungsstelle nach Ablauf der ersten fünf Jahre fortgeführt wird und dass wir dann eine deutlich bessere finanzielle Ausstattung erhalten." Bis dahin wolle man der Politik modellhaft zeigen, was möglich sei. Säurefraß, Wasser- und Feuerschäden jedenfalls seien dafür in deutschen Bibliotheken und Archiven ausreichend vorhanden.

Quelle und Kontaktadresse:
Deutscher Bibliotheksverband e.V. (dbv) Pressestelle Fritschestr. 27-28, 10585 Berlin Telefon: (030) 644989910, Telefax: (030) 644989929

(tr)

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