Verbändereport AUSGABE 7 / 2006

Am Puls der Globalisierung. Die Wirtschaftsvereinigung Stahl

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Elefantenhochzeiten, strategische Bündnisse und Übernahmekämpfe beherrschen das Geschehen auf dem internationalen Stahlmarkt. Der globale Wettbewerb hält auch die Stahlproduzenten in Deutschland in Atem. Deren Sprachrohr, die Wirtschaftsvereinigung Stahl, zeigt selbstbewusst Flagge.

Auf das Stehvermögen der deutschen Stahlproduzenten lässt Prof. Dieter Ameling nichts kommen: „Die Stahlindustrie ist in diesem Prozess des Wandels sehr gut aufgestellt.“ Der Präsident der Wirtschaftsvereinigung Stahl (WV Stahl) und Vorsitzender Stahlinstitut VDEh (Verein Deutscher Eisenhüttenleute) übernahm nach dem Studium der Metallurgie und Werkstoffwissenschaften zunächst betriebliche Führungsaufgaben und dann als „Stahlwerker“ Vorstandstätigkeiten in verschiedenen Stahlunternehmen. Seit 1998 ist Prof. Ameling Mitglied der Hauptgeschäftsführungen beider Verbände, die heute unter einem Dach im Düsseldorfer Stahl-Zentrum an der Sohnstraße residieren. Seine Funktion als Präsident und Vorsitzender übernahm er am 1. April 2000.

Kompetenz für Stahl

Die WV Stahl und der VDEh arbeiten auf unterschiedliche Weise für ein gemeinsames Ziel und ergänzen sich dabei. Die WV Stahl vertritt die branchenpolitischen Interessen fast aller in Deutschland produzierenden Stahlunternehmen und assoziierter ausländischer Mitgliedsunternehmen gegenüber Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit. Der VDEh fördert die technisch-wissenschaftliche Zusammenarbeit der Ingenieure rund um die Weiterentwicklung des Werkstoffs Stahl und dessen Technologie.

Gestern und heute

Die Geschichte der WV Stahl reicht über 130 Jahre zurück. Die Keimzelle bildete sich 1874 mit dem „Verein Deutscher Eisen- und Stahl-Industrieller“, der 1935 in die „Wirtschaftsgruppe Eisen schaffender Industrie“ überführt wurde. Als Nachfolgeorganisation entstand 1946 die „Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie“, die schließlich im Jahr 1988 ihren jetzigen Namen erhielt. In den Reihen des Bundesverbandes der Deutschen Industrie e.V. besetzt die WV Stahl eine prominente Rolle, die an Tragweite zunimmt. Der Werkstoff Stahl erlebt eine Renaissance, ein profitabler wie heiß umkämpfter Markt. Prof. Ameling: „Die Entwicklung bei der Stahlnachfrage ist eng mit der fortschreitenden Globalisierung verknüpft. Eine wachsende Zahl von Ländern nimmt an der internationalen Arbeitsteilung teil. Sie alle brauchen Stahl, um ihre Bedürfnisse zu decken.“

Auf Expansionskurs

Die globale Weltstahlindustrie liegt mit einer Wachstumsrate von knapp sechs Prozent in diesem Jahr weiterhin auf Expansionskurs. Der nach wie vor gewaltige Nachholbedarf Chinas – die Pro-Kopf-Versorgung mit Stahl ist dort mit 270 Kilogramm nur etwa halb so groß wie in anderen Industriestaaten -, spricht dafür, dass der Boom auch in Zukunft anhalten wird. Außerdem wird die globale Stahlnachfrage angetrieben durch Infrastruktur- und Bauinvestitionen in allen bevölkerungsreichen Schwellenländern.

In Deutschland rechnet Prof. Ameling nach dem Rekordjahr 2004 und leichtem Rückgang in 2005 dieses Jahr wieder mit einem erneuten Anstieg der Rohstahlproduktion auf 45,7 Mio. Tonnen. Grund sei die anziehende Konjunktur in den Bereichen Maschinenbau und Schiffsbau sowie bei der Fertigung von Rohren. In der Europäischen Union sind die deutschen Rohstahlhersteller mit ihren 92.000 Beschäftigten führend. Auf der Weltrangliste rangiert die Branche auf Platz sechs hinter China, Japan, USA, Russland und Südkorea. Deutschlands größtes Stahlunternehmen, die ThyssenKrupp AG, ist das neuntgrößte Unternehmen der Welt. Von dem Übernahmeversuch des Weltmarktführers Mittal Steel und der Nummer Zwei Arcelor sind auch Produktionsstätten in Deutschland betroffen.

Stellung bezogen

Für die internationale Wettbewerbsfähigkeit hat sich die deutsche Stahlindustrie hinreichend qualifiziert; der Schlüsselbegriff lautet Hochtechnologie. Es erschließen sich neue Verwendungsbereiche, die bisher Kunststoffen oder anderen Metallen vorbehalten waren. Dieser technische Fortschritt im Paket mit besten Werkstoffqualitäten, besonderen Leistungen in Forschung und Entwicklung, ferner konsequentes Kostenmanagement, intelligente Vertriebssysteme und Kundenservice ist die richtige Antwort auf den zunehmenden Wettbewerb.

Die WV Stahl unterstützt diesen Prozess, indem sie sich von ihren Verbindungsbüros in Berlin und Brüssel aus für geordnete wirtschaftliche Rahmenbedingungen einsetzt. Ziel ist es, ein Umfeld zu schaffen oder zu sichern, in dem die Verbandsmitglieder erfolgreich arbeiten können. Dies gleicht am Standort Deutschland einem ständigen Kampf gegen hohe Steuerlasten und Lohnkosten, gegen hohe Umweltschutzauflagen und Regulierungsdichte. Darauf Einfluss zu nehmen, fordert Präsenz an vielen Fronten. Die WV Stahl ist heute an der branchenrelevanten Politik im Bund und in Europa beteiligt. Ein wirtschaftspolitisches Lobbying, das auf den entscheidenden parlamentarischen und ministeriellen Ebenen greift.

Standpunkte

Die derzeitige Energie- und Klimapolitik fordert den Verband geradezu zur Stellung- und Einflussnahme heraus. Zum Thema Klimavorsorge kritisiert die WV Stahl, dass die europäische Politik an den starren Obergrenzen des Kyoto-Protokolls festhalte. Eine Vorreiterrolle somit auch der deutschen Industrie bringe insgesamt aber wenig, der heimischen Wirtschaft gehe allerdings viel Wachstum verloren. Und weiter: Statt die Industrie bei der Klimavorsorge in die Verantwortung zu nehmen, etwa über Selbstverpflichtungen, werde sie in Europa in das bürokratische Korsett des Emissionshandels gezwängt – auch das behindere Wachstum. Die WV Stahl befürchtet massive Wettbewerbsverzerrungen, da gerade die deutschen Stahlproduzenten durch absolute Minderungsverpflichtungen benachteiligt seien. Ärgerlich vor allem deswegen, weil sie mit ihrer Selbstverpflichtung den richtigen Kurs eingeschlagen hätten – im Vergleich zu 1990 gut 14,7 Prozent weniger CO2-Emissionen je Tonne Rohstahl.

Energiekosten drosseln

Zum Strom- und Emissionshandel kommentiert der Verband: „Seit Beginn des Emissionshandels sind die Strompreise überall in Europa gestiegen, in Deutschland um etwa 30 Prozent. Die Energieversorger beziehen die kostenlos zugeteilten Zertifikate zum aktuellen Börsenkurs in ihre Strompreiskalkulation ein. Sie schaffen es, diese am Markt an die Kunden zu überwälzen, weil es am Strommarkt so gut wie keinen Wettbewerb gibt. Ihnen entstehen dadurch ,Windfall-Profits’ in Höhe von rund 5 Mrd. Euro pro Jahr. Dies können wir nicht hinnehmen.“ Die WV Stahl rechnet mit einer Mehrbelastung für die deutschen Stahlunternehmen von etwa 150 Mio. Euro pro Jahr und verlangt, „den Emissionshandel auszusetzen, solange die schwerwiegenden Konstruktionsfehler nicht beseitigt sind.“

Vermeidbare Belastungen

Die Förderung erneuerbarer Energien als staatliches Ziel führe laut der WV Stahl zu einer künstlichen Verteuerung des Energieverbrauchs. Dabei bezieht er sich auf eine Studie der Deutschen Energieagentur, die der Windenergie eine konventionelle Erzeugungsreserve von 92 Prozent anrechnet. Der Verband merkt an: „Die Erzeugungsleistung muss also noch ein zweites mal konventionell investiert werden. Diese Doppelbelastung tragen die Industrie und der Endverbraucher. Industrielle Wertschöpfung, die uns hierdurch verloren geht, kostet uns aus volkswirtschaftlicher Sicht viel mehr als die Verlagerung der Förderung auf das Steuersystem oder die Stufe der Endkonsumenten. Der Umstieg auf erneuerbare Energien und der Ausstieg aus der Kernenergie belastet die Volkswirtschaft mit der unglaublichen Summe von rund 256 Mrd. Euro.“

Leistungsbereit

Nach dem Strukturwandel stellt nun der globale Wettstreit die traditionsreiche Organisation vor die nächste große Herausforderung. Hans Jürgen Kerkhoff, Hauptgeschäftsführer der WV Stahl, bilanziert: „Unsere Unternehmen stehen im Wettbewerb. Wir, die Verantwortung für Verbände tragen, möchten, dass der Wettbewerb auch für uns gilt. Wir wollen uns mit unseren Mitgliederleistungen an dem messen lassen, was andere Anbieter auf dem Markt der Beratung und Meinungsbildung für ihre Leistungen erbringen.“ Kerkhoff führt fort: „Ich bin davon überzeugt, das Stahl-Zentrum in Düsseldorf verfügt über hervorragende Kompetenzen, zumal es sich international noch breiter aufgestellt hat. Die Arbeiten der Stahlverbände in Deutschland sind in diesem Sinn wettbewerbsfähig. Die Mitarbeiter haben ihren Beitrag auf dem Gebiet der Verbandsarbeit dafür geleistet, dass unsere Stahlindustrie heute ein Stück weit mehr öffentliche Wertschätzung erhält“, lobt der Hauptgeschäftsführer.

Interview - Werte im Wandel

Interview mit Prof. Dieter Ameling, Präsident Wirtschaftsvereinigung Stahl und Vorsitzender Stahlinstitut VDEh

Verbändereport: Die fortschreitende Globalisierung hat auch den Weltstahlmarkt deutlich verändert. Welche Faktoren geben den Ausschlag?

Prof. Ameling: Der internationale Wettbewerb wird immer härter. Neue Anbieter aus Osteuropa, Entwicklungs- und Schwellenländern wie insbesondere China haben Weltmarktanteile übernommen. Darüber hinaus hat sich die Arbeitsteilung innerhalb der Wertschöpfungsketten verändert. Stahlunternehmen wandeln sich vom reinen Werkstofflieferanten zum Systempartner, die den Stahlverarbeiter bei der Forschung und Fertigung unterstützen und eigene Impulse für Entwicklungen geben. Drittens der Trend zu immer größeren Unternehmenseinheiten. Dieser Konsolidierungsprozess hat gerade in den letzten zwei Jahren kräftig an Fahrt aufgenommen.

Verbändereport: Kann sich die deutsche Stahlindustrie in diesem Prozess behaupten?

Prof. Ameling: Ja, beim internationalen Handel weisen die deutschen Stahlunternehmen eine Exportquote von über 50 Prozent auf – international gesehen ein Spitzenplatz. Außerdem verfügen wir besonders im Stahlbereich über eine ausgeprägte Werkstoffkompetenz, die auf einer fruchtbaren Forschungslandschaft gründet. Durch die Technologiekompetenz ergeben sich Wettbewerbsvorteile in den besonders hochwertigen Marktsegmenten. Der steigende Export von oberflächenveredelten Blechen ist hierfür ein Beleg. Hinzu kommt, dass mit dem Trend zu Systempartnerschaften die Nähe zu und die Einbettung in leistungsfähige Wertschöpfungsnetze immer bedeutender wird. Deutschland und auch die Europäische Union insgesamt halten hier hervorragende Karten in der Hand. Schließlich hat auch die Konsolidierung den Stahlmarkt in Deutschland gefestigt. Die Stahlunternehmen haben im vergangenen Jahr, trotz überhöhter Lagerbestände und steigender Rohstoffpreise, schwarze Zahlen geschrieben.

Verbändereport: Die Stahlunternehmen leiden darunter, dass ihnen die Rohstoffpreise quasi diktiert werden.

Prof. Ameling: Wir sehen in dieser Entwicklung eine große Gefahr. Bereits heute ist ein freier und fairer Zugang zu den metallischen Rohstoffen nicht gewährleistet. Der Markt für Eisenerz wird weiterhin durch ein Oligopol dreier Unternehmen bestimmt. Handelshemmnisse im Rohstoffbereich nach chinesischem Vorbild sind weltweit immer häufiger anzutreffen. Die Politik muss international alle Hebel ansetzen, um zu verhindern, dass es zu noch gravierenderen Verzerrungen im internationalen Rohstoffhandel kommt. Für unsere Industrie ist das lebenswichtig.

Verbändereport: Sie vermissen in Deutschland eine politische Kultur „industrieller und technischer Wert-Schätzung“.

Prof. Ameling: Eine Existenzfrage für unsere Industrie sind politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die den globalen Wettbewerb anerkennen und ausreichend Freiräume für industrielle Schaffenskraft bieten. Umgekehrt gilt, unsere Gesellschaft braucht eine international wettbewerbsfähige Industrie als Grundlage für Wachstum, Beschäftigung und Wohlstand. Industrielle Wertschöpfung ist die Basis für die Entwicklung eines modernen Dienstleistungssektors. Sie ist die Quelle für technischen Fortschritt und eine nachhaltige Entwicklung. Trotz ermutigender Anzeichen erhalten die Leistungen und Belange der Industrie zurzeit wenig Gewicht. Von einer politischen Kultur der industriellen Wert-Schätzung sind wir noch entfernt. Das gilt auch für die Akzeptanz von Technik und Naturwissenschaften, die viel zu niedrig ist. Vor diesem Hintergrund haben wir eine Broschüre „Zukunftsrat Stahl“ veröffentlicht.

Verbändereport: Hat die neue Bundesregierung richtige Antworten auf die drängenden Fragen gegeben?

Prof. Ameling: Trotz einiger Verbesserungen für die Industrie gilt: Die grundlegenden Probleme werden nicht angegangen. So fällt das Urteil über die Koalitionsvereinbarungen insgesamt enttäuschend aus, eine wertschöpfungsorientierte Politik sieht jedenfalls anders aus. Trotzdem möchte ich meine Hoffnung nicht begraben, dass auch eine Große Koalition eine gute Basis für umfassende Politikmaßnahmen sein kann. Deutschland ist kein hoffnungsloser Fall. Wir können – mutige Reformen vorausgesetzt – Lähmung und Blockade überwinden und wieder zum Antreiber und Vorbild für Europa werden. Wir werden auch in Zukunft diese Reformen einfordern.

Vielen Dank für das Gespräch!

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