Pressemitteilung | Deutsche Vereinigung für Datenschutz e.V. (DVD)

Artikel 10-Gesetz wird verschlimmbessert

(Berlin) - Mit Urteil vom 14. Juli 1999 hat das Bundesverfassungsgericht Teile des 1994 novellierten G 10-Gesetzes beanstandet und dem Gesetzgeber aufgegeben, bis Mitte 2001 die Kontrolle von Abhöreingriffen zu verbessern und differenzierte Eingriffs- und Verwendungsregelungen zu schaffen. Die Bundesregierung nimmt diese Aufgabe zum Anlass, bei Gelegenheit verfassungsrechtlich zwingender Verbesserungen des Grundrechtsschutzes gegen den Staubsauger im Äther die Befugnisse des Bundesnachrichtendienstes (BND) erneut zu erweitern. Neu im Arsenal der Überwachung der internationalen Telekommunikation ist vor allem die Befugnis, nunmehr nicht nur Satelliten- und Funkverbindungen ohne Anlass abzuhören, sondern auch den internationalen Leitungsverkehr.

Mit der Behauptung, die aus technischen Gründen geringe Zahl von tatsächlich erfolgreichen Überwachungsfällen belege die grundrechtliche Unbedenklichkeit der Satelliten- und Funküberwachung, hatte sich die Bundesregierung einst vor dem Bundesverfassungsgericht verteidigt. Nun wendet sich genau diese angebliche Ineffektivität des Staubsaugers im Äther wieder gegen das Post- und Fernmeldegeheimnis: Zu ihrer Kompensation sei auch die Überwachung des leitungsgebundenen Kommunikationsverkehrs, dessen Bedeutung aus technischen Gründen wieder zunimmt, erforderlich geworden. In der Sache erweist sich das Artikel 10-Gesetz einmal mehr als Vorratsgesetzgebung, mit welcher der Staat sich auf die Eventualitäten der zukünftigen technischen Entwicklung vorbereitet. Moderne Überwachungstechnologie mit Stimmerkennung und –analyse, automatischer Durchsuchung des digitalen Datenverkehrs und Entschlüsselungstechnik ermöglicht theoretisch schon heute die flächendeckende Überwachung der internationalen Massenkommunikation in Echtzeit. Von weiterhin rasant zunehmenden technischen Möglichkeiten geht offenbar auch die Bundesregierung aus, wie die neue gesetzliche Überwachungs- Obergrenze von 20% des relevanten Datenaufkommens belegt, welche die Überwachung auf ein grundrechtsverträgliches Maß beschränken soll. Die Diskussion um die Anhebung dieser Obergrenze ist schon heute abzusehen. Nicht das Gesetz, sondern das Budget der Dienste beschreibt in Zukunft die Grenzen des heimlichen Abhörens.

Die Novellierung des Artikel 10-Gesetzes ist damit aus Sicht der BürgerInnenrechte keine Trendwende in der bundesrepublikanischen Sicherheitsgesetzgebung, wie sie nach der Kohl/Kanther-Ära notwendig gewesen wäre. Die strategische Fernmeldeüberwachung entwickelte sich in dieser Zeit von einem Ausnahmeinstrument der Außen- und Sicherheitspolitik unter den Bedingungen des kalten Krieges zu einem gesetzlichen Normalfall für eine Vielzahl von Bedrohungslagen der inneren Sicherheit, einschließlich der Verfolgung normaler Kriminalität. Dabei soll es offenbar bleiben. Mit dem Rückenwind medienwirksamer Einzelfälle kommen nun neue Überwachungsziele hinzu – etwa Geiselnahmen im Ausland oder die Vorbereitung von Partei- und Vereinsverboten – und fallen weitere Verwendungsbeschränkungen – etwa auf die Verfolgung und Verhütung organisierter Straftaten - weg. "Zufallsfunde" über zeitgemäße Zielobjekte wie Castor-GegnerInnen und Neofaschisten können ihren Weg zu den Polizeibehörden finden. Die aus guten Gründen historisch geprägte Trennung von Polizei und Geheimdiensten verliert zugunsten einer intensivierten Arbeitsteilung und Verzahnung von Polizei, polizeilichem Staatsschutz, Auslandsnachrichtendienst und Verfassungsschutzämtern weiter an Bedeutung. Zu dieser Entwicklung gehört auch die Spontanübermittlungsbefugnis für Bundesbehörden an den BND, die das Gesetz nebenbei neu einführt.

Bündnis 90/Die Grünen scheinen den Kampf gegen diese Vergeheimdienstlichung der inneren Sicherheit aufgegeben zu haben, um ihn gegen eine Verbesserung der Kontrolle der Überwachung einzutauschen. Diese Rechnung ist insoweit aufgegangen, als einige datenschutzrechtliche Verbesserungen und eine aufgewertete Kontrolle durch die parlamentarischen Gremien eingeführt werden sollen. Kontrollmechanismen aber verlieren an Wert, wenn die Kontrollmaßstäbe abhanden kommen: wo es zunehmend weniger gesetzlich geregelte Schranken der Überwachung gibt, kann auch keine Kontrolle diese Schranken verteidigen.

Gegen das G 10-Gesetz in der noch geltenden alten Fassung ist eine Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßbourg anhängig. Was der Gerichtshof der Kritik des Bundesverfassungsgerichts hinzuzufügen hat, hat die Bundesregierung nicht abgewartet. Wenn das Artikel 10-Gesetz ein Fortschritt für die Menschenrechte in der Bundesrepublik werden soll, müssen die politischen Akteure auf die erneute Erweiterung der strategischen Überwachung in die Kabelnetze und auf neue Verwendungszwecke für die aus dem Äther abgesaugte Informationen verzichten.

Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Fernmeldeüberwachung drohen zu einem Dauerthema zu werden, wenn mit jeder Korrektur zugunsten der Grundrechte zugleich neue Begehrlichkeiten der Überwachungsbehörden bedient werden.

Quelle und Kontaktadresse:
Deutsche Vereinigung für Datenschutz e.V. (DVD) Sönke Hilbrans – DVD Wolfgang Kaleck - RAV Bonner Talweg 33-35 53113 Bonn Telefon: 0228/222498 Telefax: 0228/241352

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