Dogma der Tarifeinheit ist mit Grundrechten der Arbeitnehmer nicht vereinbar
(Berlin) - "Die Auffassung der Arbeitgeber zur Tarifeinheit hält einer verfassungsgemäßen Prüfung nicht stand. Wir sehen in dem Versuch, das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 7. Juli 2010 wieder rückgängig zu machen, einen Angriff auf unsere in der Verfassung verbrieften Grundrechte. Dagegen werden wir uns mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zur Wehr setzen", kommentierte Armin Ehl, Hauptgeschäftsführer des Marburger Bundes, die gestrigen (29. Juli 2010) Verlautbarungen der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Das im Auftrag der BDA erstellte Gutachten des Verfassungsrechtlers Scholz stehe im klaren Widerspruch zu bisher bekannt gewordenen Auffassungen anderer Verfassungsjuristen und des Bundesarbeitsgerichts. "Um es klar zu sagen: Die Arbeitgeber bedienen sich der Rechtsauffassung eines in dieser Frage offensichtlich in seiner Zunft weitgehend isolierten Verfassungsjuristen", sagte Ehl.
Das Selbstbestimmungsrecht von Menschen in ihren eigenen Angelegenheiten gehöre in der Demokratie zu den ehernen Grundrechten und im deutschen Grundgesetz zu den Garantien, die unmittelbar aus der Menschenwürde resultieren. "Das Grundgesetz gewährleistet auch im Bereich des Tarifvertragsrechts völlig selbstverständlich die positive und die negative Koalitionsfreiheit. Im Zweifel gilt der Vorrang der Freiheit", betonte der MB-Hauptgeschäftsführer. Das Konstrukt Tarifeinheit durch Einheitstarifvertrag sei von der Wirklichkeit längst überholt. "Seit Jahren werden in Betrieben verschiedene, von unterschiedlichen Gewerkschaften abgeschlossene Tarifverträge angewandt und gelebt. Das Bundesarbeitsgericht hat erkannt, dass das Dogma der Tarifeinheit mit dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit unvereinbar ist. Nur die Pluralität der Gewerkschaftslandschaft schützt vor Tarifkartellen und Zentralismus", so Ehl. Es spreche für die ausgeprägte argumentative Not der BDA und des von ihr beauftragten Verfassungsjuristen, dass sie ihre abwegige Rechtsauffassung mit der Warnung versehen, durch die seit Jahren bestehende Tarifpluralität drohten in Deutschland englische Verhältnisse der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. "Die Arbeitgeber malen bewusst das Schreckensszenario von Dauerstreiks an die Wand, weil ihre sonstigen Argumente keinerlei Überzeugungskraft entfalten", kritisierte Ehl.
Mit seinem Urteil vom 7. Juli 2010 hat das Bundesarbeitsgericht die notwendige Änderung der Rechtsprechung im Sinne der grundgesetzlich garantierten Tarifpluralität vollzogen. Damit wird die Rechtsprechung des Gerichts der seit Jahren bestehenden Rechtswirklichkeit angepasst. Das Bundesarbeitsgericht hat klargestellt, dass die Verdrängung eines Tarifvertrages durch einen anderen mit dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit aus Artikel 9 Abs. 3 Grundgesetz nicht zu vereinbaren ist. Nach Auffassung des Gerichts erlangen Inhalt und Wirkungsweise eines Tarifvertrags Legitimation durch die "freie Entscheidung der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, Mitglied einer Koalition zu werden". Der Abschluss von Tarifverträgen und die damit bewirkte Normsetzung ist "kollektiv ausgeübte Privatautonomie". Die Tarifvertragsparteien und ihre Mitglieder haben dadurch ihr Grundrecht aus Artikel 9 Abs. 3 Grundgesetz wahrgenommen und Regelungen zu bestimmten Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen geschaffen. Wer Mitglied in der tarifvertragschließenden Gewerkschaft ist, will insbesondere an den von dieser in Tarifverträgen vereinbarten Mindestbedingungen teilhaben. Die Verdrängung eines Tarifvertrags nach dem Grundsatz der Tarifeinheit ist deshalb mit dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit nach Artikel 9 Abs. 3 Grundgesetz nicht zu vereinbaren.
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