Pressemitteilung | Mehr Demokratie e.V. - Bundesverband

Italienische Verhältnisse beim Volksentscheid?

(Bremen) - Gestern beriet der Parteivorstand der SPD über die von einer Arbeitsgruppe unter der Leitung von Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin vorgelegten Eckpunkte für Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide. In dem Papier werden u.a. Beteiligungsquoren für Volksentscheide vorgeschlagen. Die Mindestbeteiligungen sollen für einfache Gesetze bei 20, 50 oder 66 Prozent der Wahlberechtigten liegen, bei Verfassungsänderungen bei 40 oder 66 Prozent.

Dazu erklärt Claudine Nierth, Vorstandssprecherin der Bürgeraktion Mehr Demokratie:

Mehr Demokratie lehnt jede Art von Zustimmungs- oder Beteiligungsquoren ab. Wir fordern die Gleichbehandlung von Wahlen und Volksentscheiden. Bei allen Wahlen in Deutschland gilt das Mehrheitsprinzip ohne Quoren: Nur diejenigen Bürgerinnen und Bürger entscheiden, die sich beteiligen.

Gegen Quoren sprechen gewichtige Gründe:

1. Quoren prämieren Verweigerung und Boykott
Ein Quorum soll ein Mindestmaß an Beteiligung für einen Volksentscheid garantieren. In der Praxis führen Quoren zu weniger als zu mehr Beteiligung. Denn das Quorum liefert für die Gegner eines Vorschlages einen Anreiz zum Boykott. Es genügt, die Beteiligung niedrig zu halten, um einen Volksentscheid zu verhindern. Verweigerung der öffentlichen Debatte und Passivität werden prämiert.

Dieser Effekt zeigt sich in Italien, wo für Volksentscheide ein Beteiligungsquorum von 50 Prozent gilt. Regelmäßig rufen die Gegner einer Vorlage ihre Anhänger dazu auf, nicht zur Urne zu gehen. 1999 scheiterte ein Referendum zum Wahlrecht, weil die Mafia den Boykott ausrief. Zwar hatten 91 Prozent der Italiener für die Reform gestimmt. Doch die Beteiligungshürde wurde mit 49,6 Prozent knapp verfehlt. Das Quorum führte zu einer absurden Situation: Wären einige tausend Nein-Stimmen mehr in der Urne gelandet, hätte die Ja-Seite gewonnen.

2. Quoren behindern den politischen Wettbewerb
Auch beim Volksentscheid ist wie bei Wahlen verlass auf den politischen Wettbewerb. Dieser funktioniert jedoch nur ohne Quoren. Denn nur dann sind nicht nur die Befürworter, sondern auch die Gegner gezwungen, ihre Anhänger an die Urne zu mobilisieren. Wer am Ende gewinnt, müssen die entscheiden, die teilnehmen nicht diejenigen, die zuhause bleiben.

Wie gut der Wettbewerb in der Direkten Demokratie funktioniert, zeigt die Praxis. In Bayern hat die CSU die Mehrzahl der Volksentscheide gegen die Initiatoren gewonnen. In der Schweiz kommt sogar nur jeder zehnte Volksentscheid zum Erfolg. In den US-Staaten werden drei von fünf Abstimmungen abgelehnt. In allen Fällen verzichtet man auf Quoren.

3. Die Angst vor aktiven Minderheiten ist unbegründet
Die Zahlen belegen, dass die Angst vor Minderheiten, die bei quorenlosen Volksentscheiden die Politik bestimmen könnten, unbegründet ist. Dieser Angst liegt ein Misstrauen gegenüber dem Volk zugrunde: Die Bürger seien Schlafmützen, die sich von aktiven Minderheiten übertölpeln lassen könnten. Trauen sich die Parteien etwa nicht zu, ihre Anhängerschaft gegen "aktive Minderheiten" zu mobilisieren? Das wäre allerdings ein Armutszeugnis für die Kampagnefähigkeit unserer Volksparteien.

4. Ganz im Gegenteil erst durch Quoren setzen sich Minderheiten durch
1998 stimmten in Hamburg 74,1 Prozent für eine Reform der Direkten Demokratie. Zweidrittel aller Wähler hatten sich beteiligt. Ein Ergebnis, von dem Parteien nur träumen können. Trotzdem war der Volksentscheid ungültig, weil das Zustimmungsquorum von 50 Prozent verfehlt wurde. Nur eine Minderheit der Hamburger Wähler hatte "Nein" gestimmt sie setzte sich durch.

5. Die Beteiligung ist naturgemäß niedriger als bei Wahlen.
Eine einzelne Sachfrage mobilisiert nur in Ausnahmefällen so viele Bürger wie Wahlen, bei denen über die gesamte Politik der nächsten vier Jahre entschieden wird. Deshalb ist es unsinnig, an Volksentscheide höhere Anforderungen zu stellen als an Wahlen. In der Schweiz liegt die Durchschnittsbeteiligung bei 45 Prozent. Bayern erreicht in den Gemeinden 50 Prozent. Bei den bisherigen Abstimmungen in den Bundesländen lag die Beteiligung zwischen 23 und 66 Prozent.


6. Hohe Akzeptanz von Volksentscheiden
Die Praxis zeigt, daß Volksentscheide selbst bei geringer Beteiligung eine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung genießen. Ausschlaggebend ist für die Bürger offenbar die Möglichkeit zur Teilnahme. Wer zu Hause bleibt, hat dafür gute Gründe und darf sich nachher nicht über das Ergebnis beklagen.

7. Papierkorb-Volksentscheide schüren Politikverdrossenheit
Wenn die Bürger an die Urnen gerufen werden, muss ihre Stimme auch zählen. Wenn sich in Italien 25 Millionen Menschen beteiligen oder in Hamburg 800.000, dann ist den Bürgern nicht zu erklären, warum ihre Stimmen im Papierkorb landen.

Auch für Abstimmungen über Verfassungsfragen braucht man keine Quoren. Es gibt bessere Möglichkeiten, solche Volksentscheide zu erschweren. Zum Beispiel durch eine im Vergleich zu einfachgesetzlichen Vorschlägen höhere Unterschriftenhürde beim Volksbegehren. Oder wie im Parlament durch eine Zweidrittelmehrheit der Abstimmenden beim Volksentscheid.

Wir fordern die SPD auf, gänzlich auf Quoren zu verzichten. Nur so kann der Volksentscheid zu einer Bereicherung für unsere Demokratie werden. Mehr Demokratie wird in Kürze einen ausgearbeiteten Gesetzentwurf mit fairen Spielregeln für die Direkte Demokratie vorlegen.

Quelle und Kontaktadresse:
Mehr Demokratie e.V. - Bundesverband Clüverstr. 29 28832 Achim Telefon: 04202/888774 Telefax: 04202/888902

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