Pressemitteilung | Marburger Bund - Landesverband Niedersachsen e.V.

Marburger Bund erwirkt Urteil zur Rufbereitschaft

(Hannover) - Der Marburger Bund Niedersachsen hat vor dem Arbeitsgericht Hannover ein brisantes Urteil hinsichtlich zeitlicher Vorgaben für die Einrückzeit in der Rufbereitschaft erstritten.

Das Gericht erklärte die Dienstanweisung eines kommunalen Klinikums für unwirksam, das von einem Mitglied des Marburger Bundes verlangte, während der Rufbereitschaft innerhalb von 30 Minuten am Patienten verfügbar zu sein.

Hintergrund dieser Zeitvorgabe ist u. a. die nach einem Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) beschlossene Strukturvorgabe für ein gestuftes System von Notfallstrukturen, wonach ein Facharzt innerhalb von maximal 30 Minuten am Patienten verfügbar sein müsse. Die Klärung der Frage, ob diese Vorgabe auch durch den Kläger als Oberarzt im Rahmen einer Rufbereitschaft sichergestellt werden kann, wenn der Arbeitgeber diese Anrückzeit verpflichtend vorschreibt, oblag nunmehr dem Arbeitsgericht Hannover.

Der dem Arbeitsverhältnis zugrundliegende Tarifvertrag für die kommunalen Krankenhäuser (TV-Ärzte/VKA) enthält selbst keine Regelung zur Anrückzeit. Der Tarifvertrag bestimmt für Rufbereitschaft, dass sich der Arzt außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit an einem von ihm selbst gewählten, dem Arbeitgeber anzuzeigenden Ort aufhält, um bei Abruf die Arbeit aufzunehmen. Die freie Wahl des Aufenthaltsorts ist daher zentrales Merkmal des Rufbereitschaftsdienstes. Die Rufbereitschaftszeit ohne die konkreten Inanspruchnahmezeiten zählt als Ruhezeit im Sinne des § 5 Arbeitszeitgesetzes und diese wird erst mit dem Abruf des Arztes zur Arbeit unterbrochen. In Abgrenzung dazu steht die Aufenthaltsbestimmung durch den Arbeitgeber im Rahmen des Bereitschaftsdienstes, der im Bedarfsfall die sofortige Arbeitsaufnahme ermöglichen soll und der deshalb in der Regel direkt in der Klinik des Arbeitgebers zu leisten ist. Rufbereitschaft dagegen setzt voraus, dass der Arzt zumindest die Möglichkeit haben muss, sich in seiner an sich arbeitsfreien Zeit auch um persönliche und familiäre Angelegenheiten kümmern, an sportlichen oder kulturellen Veranstaltungen teilnehmen oder sich mit Freunden treffen zu können. Im Gegensatz zum Bereitschaftsdienst, der eine klare Aufenthaltsbeschränkung mit der Verpflichtung darstellt, bei Bedarf sofort am Patienten tätig zu werden.

Selbstverständlich ist es unstreitig, dass der Arzt auch in der Rufbereitschaft in der Wahl seines Aufenthaltsortes nicht völlig frei ist. Der Zweck der Rufbereitschaft besteht darin, dass der Arzt in der Lage sein muss, die Arbeit innerhalb einer angemessenen Zeitspanne auf Abruf aufnehmen zu können. Um eine Arbeitsaufnahme in angemessener Zeit zu gewährleisten, darf der Arbeitgeber daher auch konkrete Anrückzeiten anordnen. Es ist mithin zulässig, durch eine Zeitvorgabe dem Arzt mittelbar aufzuerlegen, sich nur in einer bestimmten Entfernung vom Arbeitsort aufzuhalten, die dem Zweck des Dienstes nicht zuwiderläuft. Wo die Grenze einer noch angemessenen Zeitspanne anzusiedeln ist, war Gegenstand mehrerer Entscheidungen der Arbeitsgerichte. Die Zeitvorgabe von 10 Minuten und 20 Minuten zwischen dem Abruf und der Arbeitsaufnahme wurde bereits für unzulässig gehalten (Urteil vom 19. Dezember 1991, Az.: 6 AZR 592/89; Urteil vom 31. 1. 2002, Az.: 6 AZR 214/00). Eine Anfahrtszeit von mehr als 45 Minuten erachtete die Rechtsprechung indessen mit den Anforderungen einer Rufbereitschaft nicht mehr für vereinbar (ArbG Marburg, Urteil vom 04.11.2003, Az.: 2 Ca 212/03).

Der Kläger war im vorliegenden Fall der Auffassung, dass er bei der streitgegenständlichen Zeitvorgabe von 30 Minuten faktisch gezwungen ist, sich in unmittelbarer Nähe des Arbeitsplatzes aufzuhalten, um die Arbeit bei Bedarf fristgerecht aufnehmen zu können. Zumal er nicht nur in der Klinik ankommen müsse, sondern innerhalb der Zeitvorgabe am Patienten verfügbar sein solle, was vorherige Umkleide- und Wegezeiten somit miteinschließe. Dies habe die Beklagte nicht ausreichend berücksichtigt. Die Dienstanweisung sei mit dem Wesen der Rufbereitschaft somit nicht vereinbar. Mit der Vorgabe der vorliegenden Eintreffzeit habe der Arbeitgeber die örtliche Beschränkung, wie sie für den Normal- und Bereitschaftsdienst typisch sind, lediglich durch den Faktor Zeit ersetzt.

Das Arbeitsgericht schloss sich der Auffassung des Klägers an und hielt die Zeitvorgabe in Anbetracht der Anfahrtszeit und der ebenfalls im Klinikum zu berücksichtigenden Umkleide- und Wegezeiten für unzumutbar und gab dem Kläger Recht.

Rechtsanwältin Sarah Steenken vom Marburger Bund Niedersachsen betont: „Dieses Urteil ist ein wichtiges Signal für den Schutz der Arbeitsrechte von Ärzt*innen. Es geht um die Freizeit und ihren Erholungswert, der als Ruhezeit auch in Form der Rufbereitschaft gewahrt sein muss. Dabei ist entscheidend, ob der/die Arzt/Ärztin seine/ihre Freizeit zu Hause verbringen kann oder faktisch doch dazu verpflichtet wird, näher und damit letztlich am Krankenhaus zu verweilen, und ob allgemein die persönlichen und sozialen Interessen in diesem Zeitpunkt trotz Rufbereitschaft in einem der klassischen Ruhezeit vergleichbaren Umfang gewahrt werden.

Sicherlich bleibt zu bedenken, dass die Rufbereitschaft ein kostengünstigeres und personalsparendes Instrument für den Arbeitgeber darstellt als andere Arbeitsformen. Für die Sicherstellung von externen Vorgaben – seien es Strukturvorgaben oder haftungsrechtliche Anforderungen – dürfen aber gesetzliche und tarifliche Vorgaben, die letztlich dem Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer dienen, nicht zurücktreten. Will der Arbeitgeber eine Eintreffzeit von 30 Minuten sicherstellen, muss er daher auch auf andere zulässige Arbeitsformen wie beispielsweise Bereitschaftsdienste zurückgreifen. Das sah das Arbeitsgericht im Übrigen genauso und verwies auf die Möglichkeit einer anderweitigen Dienstorganisation, um externen Strukturvorgaben gerecht zu werden.“

Das Urteil (Arbeitsgericht Hannover vom 24.04.2025 - Az 2 Ca 436/24) ist nicht rechtskräftig. Der Arbeitgeber hat Berufung eingelegt.

Quelle und Kontaktadresse:
Marburger Bund - Landesverband Niedersachsen e.V., Schiffgraben 22, 30175 Hannover, Telefon: 0511 543066-0

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