Das kürzlich vom Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie vorgelegte Gutachten zu den Risiken des bundesrepublikanischen Korporatismus kann auf das besondere Interesse der Verbände zählen, werden in ihm doch den Verbänden ein besonderer Hang zur Sklerotisierung der Strukturen und zur Verteidigung des jeweiligen Besitzstandes nachgesagt. Die großen Konsensrunden aus Regierung, Arbeitgebern und Gewerkschaften (‚tripartistischer Korporatismus‘) böten mehr Risiken als Chancen, die Herausforderungen des globalen Wettbewerbs zu bewältigen, da sie dazu tendierten, zu Lasten nicht organisierter oder nicht organisierbarer Interessen - wie beispielsweise die zukünftigen Generationen - ‚Verträge zu Lasten Dritter‘ abzuschließen. Verbändereport bringt Auszüge aus dem verbandspolitisch brisanten Gutachten.
Anlass des Gutachtens
Wie schon frühere Regierungen setzt die Bundesregierung auf den Versuch, Lösungen für wirtschafts- und sozialpolitische Probleme im Konsens zwischen Regierung und organisierten Interessengruppen zu erarbeiten. Beispiele sind die 1977 eingerichtete "Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen" und das im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit stehende "Bündnis für Arbeit". Es geht bei dieser Art der Interessenabgleichung zwischen Verbänden und Regierung, die es auch in anderen europäischen Ländern gibt, namentlich in Österreich und den Niederlanden, gleichsam um tripartistische Formen des Korporatismus, bei denen wie beispielsweise im Bündnis für Arbeit die drei Parteien Regierung, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände in Konsensgesprächen zusammengeführt werden.
Tripartistischer Korporatismus: Regierung, Arbeitgeber, Gewerkschaften
Das besondere Charakteristikum dieses tripartistischen Korporatismus ist, dass die für alle Bürger handelnde Regierung sich in einem Verhandlungsprozess mit den Vertretern mächtiger Interessengruppen an einen Tisch setzt, um mit ihnen Lösungsansätze für spezifische wirtschaftspolitische Aufgaben zu erarbeiten. Die Spannweite der Verhandlungen reicht von wechselseitiger Orientierung bis zur Aushandlung konkreter Maßnahmen und Verhaltensweisen. Charakteristisch ist insbesondere, dass die Regierung wirklich verhandelt, also mehr tut, als nur den Rahmen für die Verhandlungen der Verbandsvertreter zu setzen oder nur Schiedsrichter oder Vermittler zu spielen. Statt dessen nimmt sie aktiv auf das Ergebnis der Verhandlungen zwischen den Verbandsvertretern Einfluss und ist auch bereit, selbst Leistungen zu erbringen und zu empfangen.
Fließende Kompetenzen
Im Unterschied zu der traditionellen, gesetzlich geregelten Zuständigkeit begrenzter Selbstverwaltung korporativer Organisation, wie etwa der Industrie- und Handelskammern, ist das Aufgabenfeld korporatistischer Institutionen nicht fest eingegrenzt, sondern es wird von den Beteiligten im Laufe der Verhandlungen entwickelt. Institutionen des tripartistischen Korporatismus sind daher eher prozess- als zielorientiert.
Risiken des Korporatismus
Korporatistische Institutionen sollen als ergänzende Elemente der marktwirtschaftlichen Ordnung dienen, insbesondere dort, wo Märkte offenbar versagen. Allerdings sind diese besonderen Institutionen nicht problemlos mit den tragenden Grundprinzipien der Marktwirtschaft und der repräsentativen Demokratie in Einklang zu bringen, wonach ein Konsens zwischen den Einzelinteressen der wirtschaftenden Menschen durch den Koordinationsmechanismus des im Wettbewerb organisierten Marktes oder durch die Einbeziehung aller Wahlberechtigten im demokratischen Abstimmungsprozess herbeigeführt wird und das so gewählte Parlament und die Regierung für die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs durch ordnungspolitische Rahmensetzung und begrenzte prozesspolitische Eingriffe sorgen.
In diesem Gutachten untersucht der Beirat typische Formen und Merkmale des tripartistischen Korporatismus daraufhin, ob sie geeignet sind, als ergänzende Institutionen die Funktionsfähigkeit der Marktwirtschaft zu verbessern.
Insgesamt kommt der Beirat zu der Einschätzung, dass die dem Korporatismus eigentümliche Teilung der wirtschaftspolitischen Verantwortung mit Interessengruppen große Gefahren in sich birgt und keinesfalls zu überlegenen wirtschaftspolitischen Lösungen im Sinne des Gemeinwohls führen muss. Zum einen ermöglichen korporatistische Institutionen es den Verbänden, über wirtschaftspolitische Maßnahmen mitzuentscheiden, für deren Verantwortung sie kein Mandat haben. So kann es zu Vereinbarungen zu Lasten Dritter kommen. Zum anderen besteht die Gefahr, dass es mit der Verlagerung wirtschaftspolitischer Entscheidungen in korporatistische Institutionen zu einer Schwächung der politischen Verantwortung auf Seiten der jeweiligen Regierung, aber zu einer Stärkung der Partikularinteressen der Verbände kommt. Das behindert die Anpassungsfähigkeit von Wirtschaft und Gesellschaft an die durch den technischen Fortschritt veränderten Rahmenbedingungen. Es fördert Reformstau anstatt Erneuerung und damit eine Zementierung der bestehenden Verhältnisse. Die Erfahrungen mit der korporatistischen Organisation des Gesundheitswesens in Deutschland zeigen dies deutlich.
Was das Bündnis für Arbeit angeht, ist es noch zu früh, ein endgültiges Urteil zu fällen. Auch hier ist die Gefahr groß, dass Tendenzen einer Zementierung der bestehenden Verhältnisse die Oberhand gewinnen. Aber wenn man die positiven Erfahrungen der Niederlande berücksichtigt, so könnte das Bündnis für Arbeit zur Plattform für einen neuen gesellschaftlichen Konsens darüber gemacht werden, dass es marktkonformer Antworten bedarf, um das Beschäftigungsproblem nachhaltig zu lösen.
Insgesamt kommt der Beirat zu der Einschätzung, dass die dem Korporatismus eigentümliche Teilung der wirtschaftspolitischen Verantwortung mit Interessengruppen große Gefahren in sich birgt und keinesfalls zu überlegenen wirtschaftspolitischen Lösungen im Sinne des Gemeinwohls führen muss.
I. Gründe für den Ruf nach tripartistischen Vereinbarungen
Der Ruf nach korporatistischen Institutionen als Alternative zu Marktlösungen hat viele Gründe. Ein tief liegender Grund für das Misstrauen in Marktlösungen ist die Bedrohung durch vorübergehende negative Rückwirkungen des an und für sich wohlstandsfördernden technischen Fortschritts. Dabei ist es eine gewisse Ironie, dass der technische Fortschritt gerade durch die Dynamik der dezentralen Marktmechanismen seine volle Kraft entfalten konnte (1). Den Verbänden, die durch die Globalisierung zunehmend unter Druck geraten, verhelfen korporatistische Institutionen zur Wahrung ihrer Legitimität und ihres Einflusses (2). Der Regierung erlauben korporatistische Institutionen schließlich die Bildung von Paketen, in denen das "Gemeinwohl" berücksichtigt und die Opfer der beteiligten Parteien "gerecht" verteilt werden können. Zudem hat die Regierung in einer schwierigen Lage oft das Interesse, dem Wähler eine aktive Rolle in "Konsensgesprächen" zu vermitteln, selbst wenn aus ihnen nicht unbedingt Problemlösungen folgen (3).
1. Globalisierung und Strukturwandel durch technischen Fortschritt
Die westeuropäischen Wohlstandsgesellschaften stehen vor vielen Herausforderungen. In der öffentlichen Diskussion werden am häufigsten genannt: der durch die Globalisierung beschleunigte Strukturwandel, die Krise des Sozialstaats und die hohe Arbeitslosigkeit.
Diese Herausforderungen sind ganz wesentlich Folgen der Veränderungsdynamik. Die Globalisierung der Märkte hängt vor allem mit dem technisch-wirtschaftlichen Fortschritt auf dem Gebiet der Kommunikation und des Transports zusammen. Die Probleme der Sozialversicherung beruhen zu einem erheblichen Teil auf den Fortschritten in der ärztlichen Kunst; diese sind Ursache der steigenden Lebenserwartung und steigender Aufwendungen im Gesundheitswesen für die Verhütung, das Erkennen, die Heilung und die Linderung von Krankheiten. Strukturwandel und Beschäftigungsproblem stehen in einem Zusammenhang mit den Rationalisierungsfortschritten in praktisch allen Branchen der Wirtschaft. Gerade bei den Befürwortern korporatistischer Problemlösungen ist die Meinung weit verbreitet, dass der Rationalisierungsfortschritt die Hauptursache für das Problem der Arbeitslosigkeit sei. Dies ist freilich eine verkürzte Sicht der Dinge.
Der technisch-wirtschaftliche Fortschritt und Wandel schafft für die meisten Menschen eine enorme Steigerung des materiellen Lebensstandards. Ständig stellt er aber auch Marktpositionen von Unternehmern und Arbeitnehmern in Frage. Der technische Fortschritt ist Motor der Wohlstandssteigerung, die letztlich allen zugute kommt. Die Vorteile, die er bringt, sind allerdings oft längerfristiger Natur und nur in einem Prozess anhaltenden Strukturwandels zu realisieren, der zunächst die Unternehmen und Arbeitnehmer neuer Branchen zu Lasten der Produzenten tradierter Branchen begünstigt. Dies ist kein neues Phänomen: Von der Einführung des Maschinenwebstuhls profitierten die Konsumenten, aber auch die Maschinenbauer, während die Handweber arbeitslos wurden und den Beruf wechseln mussten.
Der Gesamtprozess des technisch-wirtschaftlichen Fortschritts ist selbst Resultat einer überwiegend dezentral organisierten Wissenschaft und Wirtschaft in der westlichen industrialisierten Welt. Nur durch diese dezentrale Struktur der modernen Welt konnte eine im historischen Vergleich ganz einmalige Fülle von Neuerungen entstehen, wie sie das 20. Jahrhundert auszeichnet.
Im Kern geht es bei der Beurteilung korporatistischer Institutionen um die Abwägung zwischen der Erhaltung der Wachstumsdynamik im Marktprozess auf der einen und der Hoffnung auf der anderen Seite, dass korporatistische Lösungsversuche die Anpassungsprobleme lösen können.
2. Das Interesse der Verbände an korporatistischen Institutionen Der Prozess der Globalisierung erleichtert die Verlagerung von Produktionsstätten ins Ausland und erodiert daher die Macht der nationalstaatlich organisierten Verbände. Der durch den technischen Fortschritt induzierte Strukturwandel schwächt viele der sektoral organisierten Verbände. Beides gilt für Arbeitnehmer- wie Arbeitgeberverbände. Korporatistische Einrichtungen geben den Verbänden den Anschein zusätzlicher Legitimation. Sie federn dadurch den Druck der Globalisierung und des Strukturwandels auf die Verbände ab. Das hilft diesen, die Anpassung des ihnen dienlichen Status quo weiter hinauszuschieben.
Die heute in der Politik einflussreichen Interessengruppen stemmen sich vielfach gegen marktkonforme Lösungen, die geeignete Antworten der Individuen und Unternehmen auf die Herausforderungen des technischen Wandels und der Globalisierung wahrscheinlicher, vielfach sogar erst möglich machen. Denn sie müssten dann Besitzstände ihrer Mitglieder hergeben. So fühlen sich Gewerkschaften aufgerufen, die "Errungenschaften" des Sozialstaats sogar dann zu verteidigen, wenn sie marktkonformen Antworten entgegenstehen. In der Tat ist die Reform des sozialstaatlichen Status quo bei den Mitgliedern äußerst unpopulär, da die in der längeren Sicht erst erkennbaren Vorteile einer Aufgabe von Besitzständen nicht oder nur schwer plausibel gemacht werden können. Die Motivation der betroffenen Verbände, und zwar sowohl der Gewerkschaften als auch der Arbeitgeberverbände, den Status quo zu verteidigen, indem sie den für sie nachteiligen Marktprozess in korporatistischen Verhandlungen aufzuhalten versuchen, ist daher groß.
Die leichtere Organisierbarkeit der Status-quo-Interessen verstärkt diesen Prozess. Die Welt der Interessenverbände wird von den Interessen etablierter Unternehmer und Arbeitsplatzbesitzer dominiert, während die Interessen der Konsumenten, insbesondere ihr Interesse an Innovation und Fortschritt, wesentlich schwerer zu organisieren sind. Noch schwerer sind die Interessen künftiger Arbeitnehmer und Unternehmer zu organisieren, die auf den Ergebnissen heutiger Innovationstätigkeit aufbauen können.
Die Welt der Interessenverbände wird von den Interessen etablierter Unternehmer und Arbeitsplatzbesitzer dominiert, während die Interessen der Konsumenten, insbesondere ihr Interesse an Innovation und Fortschritt, wesentlich schwerer zu organisieren sind.
Diejenigen, denen Globalisierung und Strukturwandel am meisten nützt, können sich also weniger artikulieren als die, denen Strukturwandel und Globalisierung zumindest kurzfristig schadet. Verbandsspitzen profitieren von korporatistischen Institutionen schließlich auch im Binnenverhältnis zu ihren Mitgliedern. Verbände müssen im Stande sein, die Interessen ihrer Mitglieder zu einer einheitlichen Position zu aggregieren. Das ist nur möglich, wenn die Verbandsspitze einen ausreichenden Entscheidungsfreiraum hat und wenn die Verbandsmitglieder das Verhandlungsergebnis dann auch umsetzen. Manchen Verbandsführungen gelingt diese Organisationsleistung aus eigener Kraft. Es ist für die Verbandsspitze jedoch verführerisch, sich dabei staatlicher Hilfe zu bedienen. Die Beteiligung an korporatistischen Arrangements verschafft der Verbandsspitze im Innern des Verbandes nicht nur zusätzliche Legitimität. Oft kann sie der Regierung auch ganz konkrete finanzielle Zuwendungen oder Zugeständnisse in Gesetzesvorhaben entlocken. Zudem kann die Regierung, gestützt auf ihre Parlamentsmehrheit, auch das Recht als Mittel einsetzen, um die Verbandsorganisation zu erleichtern. So setzt das Tarifrecht Organisationsanreize und definiert, welche Voraussetzungen ein Verband erfüllen muss, damit er tariffähig ist. In der korporatistischen Organisation des Gesundheitswesens geht dies noch weiter. Regierung und Parlament haben sich die privaten Verhandlungspartner im Sozialrecht selbst geschaffen und die Zwangsmitgliedschaft angeordnet, was den Verhandlungspartnern die Existenzberechtigung sichert.
3. Das Interesse der Regierung an korporatistischen Institutionen
Das Interesse der Regierung, in schwierigen Situationen sich auf korporatistische Institutionen zu stützen, ist vielfältig und zum Teil auch widersprüchlich. Zum einen liegt es nahe, dass die Öffentlichkeit Verhandlungen zwischen den Interessengruppen im Beisein der Regierung befürwortet, wenn die Chance besteht, dass solche Verhandlungen einen unbefriedigenden Status quo in mehrheitsfähiger Form, zum Beispiel einem großen Sozialkontrakt, auflösen. Korporatistische Institutionen können der Regierung zu mehr Informationsgewinn, zu Verhandlungsspielräumen und zu erweiterten Einflussmöglichkeiten verhelfen. Damit erhält sie die Möglichkeit, übergeordnete Interessen in Gruppenverhandlungen durchzusetzen. Auch wo das nicht erreichbar ist und der Status quo faktisch erhalten wird, kann es im Interesse einer Regierung sein, dem Wähler den Eindruck einer aktiven Rolle in korporatistischen Verhandlungen zu vermitteln.
Korporatistische Institutionen können der Regierung zu mehr Informationsgewinn, zu Verhandlungsspielräumen und zu erweiterten Einflussmöglichkeiten verhelfen. Damit erhält sie die Möglichkeit, übergeordnete Interessen in Gruppenverhandlungen durchzusetzen.
Korporatistische Institutionen können der Regierung auch dazu dienen, das zu lösende gesamtwirtschaftliche Problem mit den beiden privaten Partnern zu definieren und ein verändertes Wirklichkeitsbewusstsein zu schaffen. Diese Idee lag auch der "Konzertierten Aktion" in den sechziger und siebziger Jahren zugrunde. Sowohl die Definition des Steuerungsziels als auch die Abschätzung der Wirkungen eines Steuerungseingriffs sind in der politischen Wirklichkeit oft schwierig. Im Rahmen korporatistischer Institutionen verschafft sich die Regierung auch eine Vorstellung davon, von welcher Wirklichkeitssicht, d.h. von welcher Interpretation der wirtschaftlichen und sozialen Lage und ihrer Erklärungsgründe die Partner, die ja auch die Steuerungsadressaten sind, ausgehen. Einigungen werden in der Regel nur möglich, wenn sich Regierung und Adressaten auf eine gemeinsame Interpretation verständigt haben. Tripartistische Gespräche bieten der Regierung ein Forum für einen solchen Abgleich der verschiedenen Interpretationen.
Weil sich jede Interessengruppe gegen die Aufgabe von Besitzständen stemmt, kann es für eine Regierung im Hinblick auf die Notwendigkeit marktkonformer Antworten und zunehmender Flexibilität attraktiv sein, im Wege eines großen Sozialkontrakts ein Paket auszuhandeln, das die kurzfristig erforderlichen Besitzstandsopfer auf alle verteilt. In diesem Rahmen müsste ein so großer positiver Nettoeffekt realistisch glaubhaft gemacht werden, dass für jeden Verhandlungspartner die Besitzstandsopfer der eigenen Klientel gegenüber schmackhaft gemacht werden können. Wenn Flexibilität nicht durch unilateralen legislatorischen Rückbau von Besitzständen erreicht werden kann, dann kann die Regierung die Verbände vielleicht zu vergleichbaren Opfern aller Beteiligten bewegen. Es geht dann um das Aushandeln eines großen Pakets von "gerecht" verteilten Opfern.
Das Schnüren solcher Pakete kann im Rahmen korporatistischer Institutionen einfacher sein, weil die Regierung mehr Manövriermöglichkeiten hat. Zudem kann die Regierung das Ergebnis konkreter privater Verhandlungen in der Sache beeinflussen, wenn sie als Gegenleistung eine Veränderung des Verhandlungsrahmens für die Zukunft anbietet. Die Aussage gilt auch umgekehrt. Besteht das eigentliche Ziel der Regierung in der Reform dieses Rahmens, kann sie die privaten Verhandlungsparteien durch Zugeständnisse bei den konkret anstehenden Verhandlungen beeinflussen. Das Interesse an der Funktionsfähigkeit und am Fortbestand des korporatistischen Verhandlungssystems seitens der beiden privaten Verhandlungspartner ist ein Pfand, das die Verhandlungsmacht der Regierung erhöht. Diese haben Geld und Arbeit in das Verhandlungssystem investiert und beziehen Legitimationsvorteile aus der korporatistischen Institution, was den Gegner berechenbarer machen und seine Resonanzfähigkeit für staatliche Steuerungswünsche erhöhen kann.
Im besten Falle erlauben korporatistische Institutionen der für alle Bürger handelnden Regierung, das von ihr so verstandene Gemeinwohl in die Verhandlungen zwischen den Vertretern organisierter Verbandsinteressen einzubringen. Ohne staatliche Mitwirkung tendieren Verbände dazu, ihre Verteilungskonflikte auf Kosten außenstehender Dritter zu lösen. Dadurch, dass die Regierung mitverhandelt, kann sie diese Externalisierung möglicherweise verhindern. Sie handelt dann gleichsam stellvertretend für die außenstehenden und besonders für die schlecht organisierbaren Interessen. Ohne staatliche Mitwirkung tendieren Verbände dazu, ihre Verteilungskonflikte auf Kosten außenstehender Dritter zu lösen. Andererseits wird die Regierung konkret von Politikern und Beamten vertreten, die auch persönliche Interessen wie ihre Macht oder ihre Karriere im Auge haben. Korporatistische Arrangements sind auch solchen Zielen dienlich. Ein unmittelbarer Vorteil ist, dass die Politik gleich in diesen außerparlamentarischen Institutionen gemacht werden kann, anstatt in den oft schwerer steuerbaren demokratisch legitimierten Gremien. Ein zweiter Vorteil kann der persönliche Gewinn an Prestige und an Einfluss in anderen Angelegenheiten sein.
II. Funktions- und Erfolgsbedingungen korporatistischer Institutionen
Jedes korporatistische Arrangement ist anders. Zwei Fragen zu den Funktions- und Erfolgsbedingungen lassen sich trotzdem hinreichend allgemein beantworten. Erstens: Unter welchen Bedingungen kommt es zu einer Abrede, einem "politischen Vertrag", der stabil ist? Tripartistische Verhandlungen müssen nicht notwendigerweise zu einem konkreten Ergebnis führen, da alle Seiten schon davon profitieren können, dass überhaupt verhandelt wird (1). Zweitens: Unter welchen Bedingungen können die konkreten wirtschaftspolitischen und sozialen Ziele erreicht werden, die sich die korporatistische Institution auf das Panier geschrieben hat und an denen der Wahlbürger letztlich interessiert ist? So hat die "Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen" das erklärte Ziel, die Ausgabensteigerung im Gesundheitswesen zu dämpfen, und das "Bündnis für Arbeit" soll die Arbeitslosigkeit senken. Hier lassen sich aus den historischen Beispielen, zum Beispiel der "Konzertierten Aktion" in den sechziger Jahren Deutschlands und dem "Wassenaar-Prozess" in den achtziger Jahren der Niederlande Erfolgs- und Misserfolgsbedingungen ableiten (2).
1. Funktionsbedingungen politischer Verträge
Der Geltungsgrund von Abreden im Rahmen korporatistischer Arrangements liegt nicht im Recht. Die Verhandlungspartner treffen zwar Verabredungen, sie schließen aber keine juristischen Verträge. Die Bundesregierung wird im Bündnis für Arbeit nicht zur Partei von Tarifverträgen. Der Bundesgesundheitsminister schließt in der konzertierten Aktion des Gesundheitswesen mit den Vertretern der Gesundheitsberufe, der pharmazeutischen Industrie oder der Krankenkassen keine Verträge im Sinne des Sozialgesetzbuches. Kommt es zu Abreden, haben diese keine rechtliche, allenfalls eine politische Bindungskraft. Sie haben ihren Geltungsgrund also nur in den politischen Beziehungen der Verhandlungspartner.
Korporatistische Arrangements "funktionieren" daher nur, wenn bestimmte Anforderungen an die Verhandlungspartner und deren Verhandlungsmacht sowie an deren Selbstbindungsfähigkeit erfüllt sind. "Funktionieren" meint in diesem Zusammenhang das Zustandekommen eines politischen Vertrages und dessen Stabilität.
Die Partner handeln nicht als juristische Personen. Gebunden ist also weder "die Regierung" noch "der Verband". Es verhandeln zunächst einmal nur die anwesenden natürlichen Personen. Deren Anspruch, für eine staatliche Stelle oder für einen Verband zu handeln, bindet die Korporation noch nicht. Es kommt nicht auf juristische Vertretungsmacht an, sondern auf die Fähigkeit dieser Personen, ihrem Wort im Innern des Verbandes nachträglich Gehör zu verschaffen. Wechselt die Spitze einer der beteiligten Korporationen, bringt das potentiell immer auch die Abrede in Gefahr.
Funktionsfähig sind korporatistische Arrangements deshalb nur, wenn jeder Teilnehmer im Stande ist, in seiner Organisation einen einheitlichen Willen zu bilden und diesen nach außen mit einer Stimme vorzubringen. Dies ist oft jedoch gerade deswegen schwierig, weil die Vertretungsmacht der Verbände durch diejenigen Ereignisse erodiert wird, die zu der Einrichtung des korporatistischen Arrangements geführt haben. So droht der durch die Globalisierung beschleunigte Strukturwandel, die Macht der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände zu erodieren. Korporatistische Arrangements sind daher typischerweise fragil.
Zur Fragilität trägt insbesondere bei, dass die Bindungswirkung von Vereinbarungen gegenüber Verbandsmitgliedern nicht garantiert werden kann. Das ist offenkundig für eine Zusage, eine bestimmte Zahl von Ausbildungsplätzen oder von neuen Arbeitsplätzen zu schaffen. Die Mitglieder von Arbeitgeberverbänden können nicht zur Mehreinstellung von Arbeitskräften veranlasst werden, sofern Auftragslage und Gewinnsituation das nicht hergeben. Eine Zusage niedrigerer Lohnabschlüsse hat im Vergleich eine größere Bindungskraft, wenngleich auch sie durch eine spätere Gremienentscheidung oder in einer Urabstimmung zunichte gemacht werden kann.
So droht der durch die Globalisierung beschleunigte Strukturwandel, die Macht der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände zu erodieren. Korporatistische Arrangements sind daher typischerweise fragil.
Die politische Natur tripartistischer Vereinbarungen hat jedoch auch stabilisierende Elemente. So kann die Regierung damit drohen, die rechtlich verfasste Staatsgewalt zu betätigen, einen für einen Verhandlungspartner abträglichen politischen Prozess in Gang zu setzen (etwa bei den Gesprächen über den Ausstieg aus der Kernenergie) oder den Verhandlungsgegenstand in ein anderes Forum zu verlagern (beispielsweise von der nationalen zur europäischen Ebene oder von der außerparlamentarischen zur parlamentarischen Bühne).
Umgekehrt können die privaten Verhandlungspartner nicht nur mit der Ausübung ihrer rechtlich geschützten Vetopositionen drohen. Solch eine Position ergibt sich etwa aus der verfassungsrechtlich geschützten Tarifautonomie. Sie können vielmehr der Regierung politischen Widerstand androhen oder gar das Ausnutzen einer politisch ungünstigen Lage, in der sich die Regierung befindet. So würde es der gegenwärtigen Bundesregierung gewiss schwerfallen, das Scheitern des Bündnisses für Arbeit einzugestehen.
Für Verträge auf dem Boden des Rechts gilt der Satz "Pacta sunt servanda" qua Rechtsordnung. Die Gerichte nehmen den Parteien juristischer Verträge notfalls die Sorge um die Vertragserfüllung ab. Die Partner eines politischen Vertrages müssen dagegen selbst für seine Erfüllung Sorge tragen. Handeln sie rational, haben sie diese Sorge bereits bei Vertragsschluss im Auge.
Sie können die politische Abrede zu diesem Zweck in ein Geflecht umhegender Institutionen einbetten. Beispiel sind die korporatistischen Institutionen, die sich im Gesundheitswesen gebildet haben, etwa die kassenärztlichen Vereinigungen. Hieraus erklärt sich zugleich der Wunsch nach der Dauerhaftigkeit korporatistischer Arrangements. Die Parteien müssen die Abrede von vornherein so gestalten, dass sie sich selbst durchsetzt. Das bedeutet, dass die Leistungen so ausbalanciert sein müssen, dass sich jede Seite dann am meisten selbst schadet, wenn sie die Abrede nicht erfüllt. Bildlich gesprochen muss jede Seite der anderen zu diesem Zweck eine Art Geisel stellen. Eine solche Selbstbindung ist eine zentrale Funktionsbedingung politischer Verträge, so auch im Rahmen korporatistischer Arrangements. Auf der Seite der Regierung geschieht das zum Beispiel durch die Besiegelung der Abrede in aller Öffentlichkeit durch den Auftritt des Bundeskanzler oder eines Bundesministers, die mit ihrer persönlichen politischen Glaubwürdigkeit für die Stabilität des Arrangements haften. In ähnlicher Weise ist auch die interne Machtposition der Verbandsfunktionäre gefährdet, wenn sie es nicht schaffen, korporatistische Abreden durchzusetzen.
Der Abschluss politischer Verträge gelingt leichter, wenn die Parteien vorbeugend etwaige Ausweichmöglichkeiten ausgeschlossen haben. Das macht es wahrscheinlicher, dass aus dem Vertragsprogramm schließlich Wirklichkeit wird. Diese Überlegungen legen nahe, die Verhandlungsarena eng zu begrenzen. Neue oder außenstehende Verbände werden deshalb möglichst nicht an den Verhandlungen beteiligt.
Wirtschaftlicher Wettbewerb von Außenseitern stört die Stabilität der Verhandlungsinstitution besonders. Daher leidet die Vertragserfüllung, wenn die Adressaten der im Rahmen eines korporatistischen Arrangements vereinbarten Regeln ins Ausland ausweichen können. Die Infragestellung nationaler Arrangements durch den Außenwettbewerb ist auf dem Arbeitsmarkt offensichtlich, wird aber auch im Gesundheitswesen immer virulenter, da zunehmend preisgünstigere Behandlungen im Ausland angeboten werden. Korporatistische Arrangements haben deshalb eine protektionistische Tendenz.
2. Bedingungen für den Erfolg korporatistischer Institutionen
Mehr als das bloße Funktionieren korporatistischer Institutionen im Sinne eines nicht abreißenden Verhandlungsprozesses interessiert die Bürger natürlich die Erfüllung der konkreten Aufgaben, die sich die korporatistische Institution gesetzt hat. Konkretes Ziel des Abkommens von Wassenaar war die Senkung der Arbeitslosigkeit; die gleiche Zielsetzung hat das Bündnis für Arbeit. Die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen soll die Ausgabensteigerung im Gesundheitswesen dämpfen.
Lange Zeit war Schweden das Vorzeigemodell, wie man den korporatistischen Weg erfolgreich gehen könne. Seit sich das schwedische Modell als nicht mehr finanzierbar erwiesen hat, blickt man auf die Niederlande. Der Haupterfolg in den Niederlanden ist die Zahl der neu geschaffenen Arbeitsplätze; auch das Arbeitsvolumen ist gestiegen, allerdings weit weniger stark als zum Beispiel in den Vereinigten Staaten. Das Bruttosozialprodukt ist seit Mitte der achtziger Jahre schneller als in Deutschland gewachsen, allerdings wiederum nicht so schnell wie in den Vereinigten Staaten. Weniger konkret, aber ebenso bedeutsam war die Schaffung einer Reform- und Aufbruchsstimmung, die Änderungen in der Arbeits- und Sozialgesetzgebung ermöglichte, die vor dem Wassenaar Abkommen nicht mehrheitsfähig gewesen wären. Hinzu kam eine konsequente Lohnzurückhaltung, eine stark steigende Flexibilisierung der Arbeitszeit und die Aufgabe sozialpolitischer "Errungenschaften", die sich als unfinanzierbar erwiesen hatten.
Einen wichtigen Beitrag zur Schaffung neuer Arbeitsplätze leistet die niederländische Lohnpolitik. Sowohl die Lohnhöhe als auch die Lohnstrukturen sind in den Niederlanden relativ flexibel. Die höhere Flexibilität in den Niederlanden resultiert zum anderen auch aus einer veränderten Struktur der Arbeit: Teilzeitarbeit und flexible Arbeit haben stark an Bedeutung gewonnen, die reguläre Vollzeitbeschäftigung hat erheblich abgenommen. Der positive Einfluss auf die Beschäftigung resultiert wohl vor allem daraus, dass die Arbeitsmärkte mit dem Umfang der Teilzeit- und Flex-Arbeit flexibler geworden sind. So machten 1996 Arbeitnehmer auf Abruf und mit variablen Arbeitsstunden über 40 Prozent der Flex-Arbeitnehmer aus.
Die flexibleren Arbeitsmärkte sind schließlich auch darauf zurückzuführen, dass nach Wassenaar wichtige Reformen des Sozialstaats verabschiedet werden konnten. Das verstärkte den Druck auf die Mindestlöhne und erhöhte die Beschäftigung in einer der Problemgruppen auf den Arbeitsmärkten, den gering qualifizierten Arbeitnehmern. Zu den Reformen gehörte die Rückführung des sozio-ökonomischen Existenzminimums, das Anfang der 70er Jahre noch 2/3 des durchschnittlichen Arbeitseinkommens betrug, zwischen 1975 und 1983 auf über 80 Prozent anstieg, und nach dem Wassenaar-Abkommen wieder auf die alte Marke von 2/3 zurückgeführt wurde. Die Reform der Arbeitslosen- und der Invalidenversicherung reduzierte nicht nur die Arbeitslosenquote, sondern anschließend auch die Invalidität (1984 waren 13,5 Prozent der Erwerbspersonen invalide; 1996 nur noch 9,7 Prozent). Die Rate innovativer Lösungen ist in den Niederlanden auch auf dem Felde der Beratung und Vermittlung von Arbeitnehmern relativ groß. Der Grund ist einfach: Das staatliche Monopol wurde abgeschafft, auch dieser Markt wurde für private Anbieter geöffnet. Vielfältige Formen neuer Vermittlungs- und Beratungsaktivitäten, wie etwa Zeitarbeitsfirmen, Dienstleistungsagenturen etc., waren die Folge.
Der Erfolg der Niederlande ist zum einen darauf zurückzuführen, dass es mit Hilfe der Reform- und Aufbruchstimmung, die der Wassenaar-Prozess erzeugte, gelang, die Systeme der sozialen Sicherung an die veränderten wirtschaftlichen Gegebenheiten anzupassen. Die tripartistische Organisation dieser Systeme wurde abgeschafft, die Kontrolle in die Hände einer vom Staat und den Tarifparteien unabhängigen Kommission gelegt und die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wurde privatisiert. Das verringerte den institutionellen Mismatch und verbesserte die Flexibilität der Arbeitsmärkte.
Prinzipiell betrachtet ist das Erfolgsgeheimnis des Wassenaar-Prozesses darin zu sehen, dass Staat und Verbände sich der grundlegenden Frage gestellt haben, was heute das richtige Mischungsverhältnis von Markt und Staat ist. Das für deutsche Augen Erstaunliche ist, dass die Niederländer gerade nicht versucht haben, die Probleme innerhalb der korporatistischen Institution zu lösen, sondern diese Institution dazu genutzt haben, die Lösung der Probleme wieder mehr dem institutionellen Wettbewerb zu überantworten.
Dass in den Niederlanden auf die traditionellen korporatistischen Tauschgeschäfte zu Gunsten der Problemlösung durch Marktmechanismen verzichtet wurde, dürfte sich aus den besonderen Bedingungen einer kleinen, sehr offenen Volkswirtschaft erklären. Die Niederländer wurden früher und nachhaltiger mit den weltwirtschaftlichen Herausforderungen konfrontiert und dazu gezwungen, nach einem erfolgversprechenderen Weg der Anpassung zu suchen. Die korporatistische Institution wurde genutzt, das in einem suboptimalen Zustand der gegenseitigen Blockade (Gefangenendilemma) verharrende polit-ökonomische Gleichgewicht zu brechen. Den Erfolg einer neuen Wachstumsdynamik brachten die Marktkräfte.
Erfahrungen mit der ‚Konzertierten Aktion‘
Die deutschen Erfahrungen mit korporatistischen Institutionen auf dem Arbeitsmarkt stammen aus der Zeit der ersten Rezession der Nachkriegszeit. Sie sind mit den Erfahrungen von Wassenaar nicht unmittelbar vergleichbar. Bei der 1966/67 eingerichteten "Konzertierten Aktion" ging es um eine Abstimmung der Lohnpolitik auf die Fiskalpolitik und die Geldpolitik. Nach keynesianischem Konzept sollte dem sprunghaften Anstieg der Arbeitslosigkeit mit einer Expansion von Fiskal- und Geldpolitik begegnet werden.
Die Konzertierte Aktion schien anfangs erfolgreich zu sein. Die Geldpolitik und die auch nach Offenbarwerden der Rezession zunächst bloß moderat expansive Fiskalpolitik wurden von einer zurückhaltenden Lohnpolitik flankiert. Die Rezession war schnell überwunden, wenn dies auch nicht alsbald erkannt wurde. Die Arbeitslosigkeit ging rasch wieder zurück. Als der neue Aufschwung schon im Gange war, es aber noch unsicher schien, ob er tragen würde, legte die Finanzpolitik weitere Konjunkturprogramme auf, die schließlich zur Übersteigerung der kommenden Hochkonjunktur statt nur zur Sicherung des Aufschwungs beitrugen. Eine rechtzeitige Aufwertung der Währung, die dämpfend gewirkt hätte, wurde tabuisiert. Das Ergebnis war ein Boom, wie er stärker in der Bundesrepublik vorher und auch nachher nicht erlebt worden ist.
"Im Sog des Booms" kam es zu Protesten der gewerkschaftlichen Basis in Form wilder Streiks und damit zur Bedrohung der Macht der Gewerkschaftsführungen. Es folgte eine explosive Korrektur der Löhne nach oben. Und dies war der Beginn einer ganzen Reihe von Jahren mit überzogenen Lohnsteigerungen, die wesentlich zur Abschwächung der Wachstumsdynamik in der Bundesrepublik beigetragen haben. Für diese aggressivste Phase in der deutschen Lohnpolitik waren sicherlich in erster Linie andere Gründe maßgeblich als das Schockerlebnis des Jahres 1969. Zusammenfassend kann man sagen: Die Konzertierte Aktion hat wirtschaftspolitischen Konsens, soweit die Voraussetzungen für ihn gegeben waren, eher manifest gemacht, als dass sie ihn hervorgebracht hätte.
Vom Konzept her war die Idee der Konzertierten Aktion Teil der die späten 60er Jahre noch beherrschenden Vorstellungen von der Machbarkeit der Konjunktur durch den Staat. Denn nur wenn man die Konjunktur normalerweise wirtschaftspolitisch im Griff hat, das Unerwartete also verhindern oder jedenfalls rasch korrigieren kann, sind ja die Voraussetzungen für eine zumutbare Verhaltensbindung gegeben. Sicherlich, die Wirtschaftspolitik der Jahre 1968/69 war – durch ihr währungspolitisches Versagen – viel schlechter, als sie hätte sein können. Aber nicht das ist das Entscheidende. Bessere Wirtschaftspolitik kann das Problem bloß verringern, nicht beseitigen, von glücklichen Einzelfällen abgesehen. Da die Machbarkeit der Konjunktur durch den Staat nun einmal eine Illusion ist, waren Enttäuschungen für die an der Konzertierten Aktion Beteiligten von vornherein unvermeidlich, namentlich für die Gewerkschaften, die ja gewonnen worden waren mit der Verheißung, dass sie für - temporäre - lohnpolitische Zurückhaltung allemal mit einer Stabilisierung von Konjunktur und Beschäftigung belohnt würden. Nachdem diese Verheißung sich als falsch herausgestellt hatte, wurde die Konzertierte Aktion immer offener zu einer Veranstaltung, besser, zu einer öffentlichen Aufführung, deren wichtigster Zweck darin bestand, dass Regierung, Bundesbank und Sachverständigenrat es den Gewerkschaften erschweren sollten, ihre problematische Marktmacht, die man ihnen der Tarifautonomie wegen nicht wegnehmen konnte oder nicht wegnehmen wollte, zu missbrauchen. Es überraschte nicht, dass die Gewerkschaften sich nach zehn Jahren aus der Konzertierten Aktion zurückgezogen haben.
Inzwischen weiß man, dass auch gute Makropolitik vor allem gute Ordnungspolitik voraussetzt. Die beste Lehre, die man aus den Erfahrungen mit der Konzertierten Aktion ziehen kann, ist daher die, dass von einem Neubeginn in Sachen tripartistischem Korporatismus, der aussichtsreicher sein soll als die damalige Veranstaltung, zu aller erst die Entschlossenheit aller Beteiligten zu verlangen ist, dass man dort in erster Linie über Ordnungspolitik reden will, über den nötigen Wandel von Institutionen, über das unvermeidliche Aufbrechen alter Verteilungskoalitionen - geleitet von der Überzeugung, dass eine erfolgreiche Nation ihre Institutionen ständig auf dem Prüfstand halten und fähig sein muss, Bedingungen zu schaffen oder zuzulassen, unter denen überständige Verteilungskoalitionen, die die Wirtschaft skleroseanfällig machen, zerbrechen.
III. Gefahren durch tripartistische, korporatistische Vereinbarungen
Wie immer man die Chancen einschätzt, mit Hilfe von korporatistischen Institutionen verhaltensbestimmende Regeln zur Lösung neu auftretender volkswirtschaftlicher Probleme zu formulieren und ihre Befolgung sicherzustellen, die nachteiligen Konsequenzen, die solche korporatistischen Vereinbarungen in der Regel mit sich bringen, dürfen nicht übersehen werden. Ihnen gemeinsam ist das Kernproblem tripartistischer Arrangements, nämlich der Konflikt zwischen den verständlicherweise partikularistischen Interessen der Verbände und dem (zumindest nach außen immer wieder betonten) Bestreben der Regierung, gerade in ein solches Arrangement Gemeinwohlinteressen einzubringen. Die Konstruktion tripartistischer Verhandlungssysteme ist daher prekär und von mehreren einschneidenden Konstruktionsfehlern geprägt: der Tendenz zur Besitzstandswahrung und zu Unbeweglichkeit (1), der Tendenz zu effizienzvermindernden Maßnahmen, die getroffen werden, um offene Flanken des korporativen Arrangements zu schließen, mit der Konsequenz noch größerer Beschäftigungs- und Wachstumsverluste (2), dem Hang zur Kurzfristorientierung (3) und der Notwendigkeit von Paketlösungen, die dann Dritte belasten (4). Schließlich tendieren korporatistische Arrangements dazu, die verfassungsgemäß vorgesehenen Entscheidungsorgane zu präjudizieren, was zu Widersprüchen mit der demokratisch-politischen Grundordnung führen kann (5).
Tendenz zur Besitzstandswahrung und zur Unbeweglichkeit
Die größte Gefahr korporatistischer Arrangements sieht der Beirat in dem Widerspruch zwischen dem Interesse der Verbände, den Status quo zu verteidigen (vgl. I.2), und dem eigentlichen Grund für die Einrichtung einer korporatistischen Institution, nämlich der Notwendigkeit, durch Strukturänderungen sich einer gewandelten wirtschaftlichen Lage anzupassen (vgl. I.1).
Es ist gegen die Interessen von Verbandsfunktionären, sich mit dem Staat über die Gestaltung eines neuen Systems wirtschaftlicher Ordnung (vergleichbar etwa dem GATT von 1947 zur Liberalisierung des Welthandels) zu verständigen. Vielmehr ist zu erwarten, dass sie defensiven Strategien mit dem Ziel zuneigen, Veränderungsprozesse in Wirtschaft und Gesellschaft abzubremsen, um auf solche Weise die Positionen im Macht- und im Verteilungsgefüge von Gesellschaft und Wirtschaft zu erhalten (Besitzstandwahrung). Von keiner Gewerkschaft ist zu erwarten, dass sie ihre Mitglieder in neu entstehende Branchen etwa im dynamischen Bereich der Datenverarbeitung und der Kommunikationstechnologie entlässt, da die Macht der Gewerkschaftsfunktionäre von der Mitgliederzahl abhängt. Noch weniger ist zu erwarten, dass sie Arbeitslosen die Möglichkeit eröffnet, ihre Arbeitskraft zu Löhnen anzubieten, die niedriger liegen als die, die im Tarifvertrag mit dem entsprechenden Arbeitgeberverband vorgesehen sind. Auf Grund der Motive ihrer Mitglieder und ihrer Funktionäre steht es dem ureigensten Interesse der Verbände entgegen, sich am Prozess der schöpferischen Zerstörung aktiv zu beteiligen. Wegen dieser Interessenlage ist es fraglich, ob in tripartistischen, korporatistischen Verhandlungen das Gemeinwohl durch flexible Anpassung der institutionellen Regelungen an das geänderte wirtschaftliche Umfeld gesteigert werden kann.
Dass die den Verbänden eigentümliche Tendenz zur Besitzstandswahrung zu Lasten des Gemeinwohls gehen kann, insbesondere zu Lasten des Wirtschaftswachstums und der Beschäftigung, wird oft nur im längeren Zeitverlauf offenkundig. Es kommt damit zu dem unpopulären Zustand eines Andauerns von Problemen, weil geeignete Reformen zu ihrer Beseitigung bei den am korporatistischen Verhandlungssystem beteiligten Partnern noch unpopulärer sind. Die Folge ist nicht zuletzt Politikverdrossenheit und eine prekär niedrige Meinung der Wähler von den Fähigkeiten der Politiker und Verbandsfunktionäre, die sie selbst gewählt haben.
Ein Element in dem bisher geschilderten Mechanismus verdient es, besonders hervorgehoben zu werden. Es wird in der Frage erkennbar, wie eine Gesellschaft mit dem Phänomen "Risiko" fertig zu werden versucht. Dieses Phänomen stellt derzeit eine besonders große gesellschaftliche Herausforderung dar, da die Zukunftsgewissheit auf Grund des sich beschleunigenden wirtschaftlichen und technischen Wandels abzunehmen scheint. Dem steigenden Tempo des Wirklichkeitswandels im Geist der Zementierung der bestehenden Verhältnisse entgegenzutreten, mag kurzfristig vielleicht den Eindruck erwecken, die Risiken (zum Beispielden Arbeitsplatz oder die finanzielle Absicherung durch das Sozialsystem zu verlieren) ließen sich klein halten. Wichtig ist jedoch die Einsicht, dass die Verweigerung der aktiven Gestaltung des unaufhaltsamen Wirklichkeitswandels wegen des dadurch gebremsten Wirtschafts- und Beschäftigungswachstums die Risiken in mittel- und erst recht in langfristiger Sicht gerade nicht senkt, sondern erhöht. Auch in Hinsicht auf die Risikominimierung sind tripartistische Vereinbarungen daher skeptisch zu beurteilen.
Dass die den Verbänden eigentümliche Tendenz zur Besitzstandswahrung zu Lasten des Gemeinwohls gehen kann, insbesondere zu Lasten des Wirtschaftswachstums und der Beschäftigung, wird oft nur im längeren Zeitverlauf offenkundig.
2. Der Außenwettbewerb als offene Flanke
Zu dieser skeptischen Beurteilung trägt die Erkenntnis bei, dass korporatistische Absprachen eine besonders empfindliche offene Flanke besitzen: den Außenwettbewerb. Je schärfer dieser ist, desto größer sind auf Dauer die Wachstums- und Beschäftigungsverluste auf Grund von korporatistischen Vereinbarungen, die den legislativen Status quo erhalten, traditionelle Arbeitsplätze schützen und bisher zugesicherte Sozialleistungen weiterhin gewährleisten sollen. Letztlich wird nur wertvolle Anpassungszeit vertan. Der Beschäftigungserfolg der Niederlande beruht darauf, dass im Rahmen des Wassenaar-Abkommens diese Besitzstände gerade nicht erhalten, sondern dem Marktprozess ausgesetzt wurden. Im Bündnis für Arbeit sind ähnliche Schritte derzeit nicht absehbar.
Hinzu kommt, dass tripartistische Vereinbarungen letztlich Kartellabsprachen entsprechen. Solche Absprachen in einer Zeit einzuhalten, die durch die Globalisierung der Märkte und die Internationalisierung von Wettbewerb und Produktion gekennzeichnet ist, erscheint nahezu unmöglich.
3. Kurzfristorientierung
Eine Gefahr korporatistischer Vereinbarungen ist die verhängnisvolle Kurzfristorientierung. Die Teilnehmer sind oft an schnellen Erfolgen interessiert: Die Regierung möchte noch vor den nächsten Wahlen verkünden können, dass es mit ihrer Hilfe gelungen sei, ein gravierendes volkswirtschaftliches Problem zu lösen, zumal wenn sie versprochen hat, sich am Ausmaß der Problemlösung messen lassen zu wollen. Und Verbände, die sich zunehmend den Zwängen des Marktes ausgesetzt sehen, haben das Bedürfnis, ihre politische Macht zu demonstrieren, um Mitglieder weiterhin an sich zu binden. Die Kurzfristorientierung ist deshalb eine Gefahr, weil erfolgversprechende Reformen oft einen langen Atem verlangen. Anfängliche Rückschläge hinzunehmen mag Voraussetzung dafür sein, dass die Wirtschaft schließlich die Fähigkeit gewinnt, dem beschleunigten Wirklichkeitswandel flexibel zu begegnen.
Verbände, die sich zunehmend den Zwängen des Marktes ausgesetzt sehen, haben das Bedürfnis, ihre politische Macht zu demonstrieren, um Mitglieder weiterhin an sich zu binden
4. Paketlösungen zu Lasten Dritter
Ein weiterer Mangel, dessen Erörterung bereits zu den Konsequenzen der aktuellen Formen korporatistischer Arrangements für die politische Ordnung überleitet, ist in der großen Versuchung zu sehen, Vereinbarungen zu Lasten Dritter, die nicht mit am Verhandlungstische sitzen, zu treffen. Charakteristisch für tripartistische Vereinbarungen der Gegenwart ist es, dass alle Teilnehmer Zusagen machen, die zu sogenannten Paketen geschnürt werden. Auch die Vertreter der Regierung beteiligen sich daran, und zwar mit gesetzlichen Regelungen, finanziellen Leistungen oder verstärktem Engagement auf staatlichen Handlungsfeldern. Dadurch werden Dritte belastet, obwohl deren Interessen eigentlich durch die Regierung vertreten werden sollten. Die belasteten Dritten können Steuer-/Zwangsbeitragszahler (wenn zusätzliche Sozialleistungen oder Subventionen zugesagt oder vermehrt ABM-Maßnahmen versprochen werden), künftige Generationen (Vorverlegung des Eintritts in den Ruhestand) oder Arbeitslose (Kündigungsschutzgesetze, Allgemeinverbindlichkeitserklärung) sein.
Zudem wächst die Gefahr von "Interventionsspiralen", da die Regierung sich immer wieder neu der Notwendigkeit ausgesetzt sehen könnte, mit Zugeständnissen an einzelne Interessengruppen deren Kooperation "einzukaufen": Die Interessengruppen verlangen Entschädigungen, die sozialpolitischer (Frühverrentung, Sozialhilfe), tarifprotektionistischer (Arbeitnehmerentsendegesetz, Kündigungsschutz, Allgemeinverbindlichkeitserklärung) oder ständerechtlicher (Korporationszwang, Festhalten am Meisterbrief) Natur sein können und letztlich dazu tendieren, wiederum zu Lasten Dritter auszufallen. Letztendlich dringen dann korporatistische Arrangements weit in gesellschaftliche Ordnungssysteme vor, wie das Beispiel der paritätisch besetzten Arbeitsgerichte belegt, durch deren Rechtsprechung korporatistische Anliegen gestärkt, die Rechte Einzelner aber eher geschwächt worden sind.
5. Konflikte mit der demokratisch-politischen Grundordnung
Schon durch diese Hinweise wird deutlich, dass die im Rahmen des tripartistischen Korporatismus entstehenden Institutionen nicht nur mit der marktwirtschaftlichen, sondern auch mit der demokratisch-politischen Grundordnung Deutschlands in Widerspruch geraten. Die Regierung gerät in den tripartistischen Verhandlungen unter Druck, direkt oder indirekt Befugnisse an Interessengruppen abzugeben. Die den Verhandlungsinstitutionen eigentümliche Vermischung getrennter Verantwortlichkeiten verringert die Zurechenbarkeit von Verantwortung. Das schwächt tendenziell die Bereitschaft, Verantwortung wahrzunehmen und beeinträchtigt die demokratischen Kontrollmöglichkeiten.
Teilnehmer an tripartistischen Verhandlungen ist auf Seiten der Regierung häufig ein zuständiger Fachminister mit den obersten Beamten. Was diese in den Verhandlungen zusagen, kann nicht immer mit dem Bundeskanzler, der die Richtlinienkompetenz besitzt, abgesprochen werden und präjudiziert nicht selten auch das Parlament in seiner gesetzgeberischen Zuständigkeit. Wenn sich der Staat nicht nur ausnahmsweise, sondern routinemäßig korporatistischer Arrangements als Handlungsform bedient, verändert das daher allmählich die politischen Institutionen. "Checks and balances", die die Verfassung mit gutem Grund vorgesehen hat, werden überspielt, damit die Regierung in den tripartistischen Verhandlungen aktionsfähig bleiben kann. Verändert werden auch die Mechanismen zur Legitimation staatlichen Handelns. Die formale Legitimation des gewählten Parlaments wird ersetzt durch die faktische Legitimität korporatistischer Arrangements, die sie allein aus ihrem Erfolg, das heißt aus der materiellen Richtigkeit der Entscheidung, beziehen. Da sich diese materielle Richtigkeit nicht beweisen lässt, ist das ein prekärer Mechanismus.
IV. Anwendungsfelder: das Gesundheitswesen und der Arbeitsmarkt
Denkbaren Erfolgen korporatistischer Institutionen stehen beträchtliche Gefahren gegenüber. Dies zeigen die beiden wichtigsten korporatistischen Institutionen, mit denen derzeit in Deutschland versucht wird, die Probleme der sozialen Sicherung und des Arbeitsmarktes zu lösen: die korporatistische Organisation des deutschen Gesundheitswesens (1) und das Bündnis für Arbeit (2).
1.Korporatistische Koordination im Gesundheitswesen
Das deutsche Gesundheitswesen enthält als zentrales Element die gemeinsame Selbstverwaltung von Krankenkassen und Kassenärzten, die zugleich die Einweisung in eine stationäre Behandlung und die Versorgung mit Arzneimitteln veranlassen. Zudem wurden die Kassen auch mit den Verhandlungen mit den Krankenhäusern beauftragt. Manche politischen Akteure streben gar Preisverhandlungen mit den Einzelunternehmen der pharmazeutischen Industrie an. Diese korporatistische Koordination wurde akzentuiert durch die Schaffung der "Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen", die sich aus Vertretern der Leistungserbringer (im wesentlichen Kassenärzte und Krankenhäuser), der gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen, der Arbeitsmarktparteien, der pharmazeutischen Industrie und der Gebietskörperschaften und Ministerien zusammensetzt.
Die korporatistische Koordinierung lässt dem Wettbewerbsmechanismus in weiten Teilen des Gesundheitssektors kaum noch Raum. Zwar wurde auf dem Versicherungsmarkt mit der jüngeren Gesetzgebung Wettbewerb dadurch eingeführt, dass die Versicherten einmal im Jahr zu einer Kasse nach freier Wahl wechseln können. Die Hoffnung, allein dadurch das Gesundheitswesen effektiver und damit kostengünstiger zu machen, hat sich jedoch als illusionär erwiesen, weil das korporatistische Grundprinzip des bilateralen Monopols nicht aufgegeben wurde. So musste zuletzt, als Notnagel und Indiz für das Scheitern, die Globalbudgetierung eingeführt werden, eine Maßnahme, die wiederum nur in einer korporatistischen Marktorganisation möglich ist.
Das Kernproblem der korporatistischen Koordination im deutschen Gesundheitswesen liegt darin, dass einzelne Krankenkassen und einzelne Leistungserbringer keine Leistungspakete schnüren können, die in Preis und Qualität variieren. Auf der Seite des Versicherungsmarktes bietet die gesetzliche Krankenversicherung ein Einheitsangebot an, dessen Preis nicht nach der Qualität der Gesundheitsdienstleistungen variieren darf. Auf der Seite der Leistungserbringer ist Wettbewerb um effiziente Organisationsform und Leistungserbringung durch Globalbudgetierung und Katalogabrechnung sinnlos geworden. Als Folge bleiben insbesondere organisatorische Innovationen aus, und es werden Verträge zu Lasten Dritter geschlossen.
Die Bemühungen der Krankenkassen um ihre Kunden richten sich auf Kosteneinsparungen, um die Beiträge niedrig zu halten. Die wichtigsten Parameter für die in Wettbewerb stehenden Kassen sind für diese jedoch gar nicht verfügbar, nämlich die Wahl qualitativ und preislich günstiger Anbieter von Gesundheitsleistungen, da sie auf diesem Beschaffungsmarkt den Bindungen an ihre korporatistischen Verhandlungspartner unterliegen. Sie können zum Beispiel nicht kostengünstige und medizinisch wie organisatorisch besonders effektive Versorgungsformen wählen, da einzelne Ärzte und Krankenhäuser nicht frei sind, mit einzelnen Kassen Verträge zu schließen. Die einzige Ausnahme hiervon waren vereinzelte Modellversuche und Strukturverträge, die jedoch von den kassenärztlichen Vereinigungen genehmigt werden mussten und nach der letzten Gesundheitsreform wegen des Globalbudgets unattraktiv geworden sind. Organisatorische Innovationen, besonders eine effizientere Arbeitsteilung zwischen ambulanter und stationärer Behandlung, sind damit im Keim erstickt worden. Die Gefahr einer Zementierung der bestehenden Verhältnisse (III.1) hat sich bewahrheitet.
Der prinzipiell mögliche Prämienwettbewerb der Kassen um Versicherungskunden kann daher nur die Krankenversicherungen selbst zu Effizienz zwingen, nicht aber diesen Effizienzdruck an die eigentlichen Leistungserbringer weiterleiten. Daher können die Krankenversicherungen ihre Funktion als Wächter sparsamen Ressourcenverbrauchs nicht wahrnehmen. Dies wäre erst dann möglich, wenn die einzelnen Kassen einzelne Leistungserbringer belohnen und bestrafen können. Dies wird aber durch den Zwang, Verhandlungen en bloc führen zu müssen, durch die fehlende Möglichkeit freier Verhandlungen über Leistungspakete und deren Preise und schließlich durch das Globalbudget unmöglich gemacht. Verhandlungsführer und wirtschaftliche Akteure sind getrennt, in dieser Hinsicht entsteht ein "institutioneller Mismatch" ähnlich dem des Arbeitsmarktes (vgl. IV.2).
Der mangelnde Effizienzdruck hat in Deutschland zu einem im internationalen Vergleich überdurchschnittlichen Ressourceneinsatz pro Krankheitsfall geführt. Sogar im Vergleich mit den Vereinigten Staaten, einem Land mit bekanntermaßen teurem Gesundheitswesen, werden in Deutschland pro Kopf 35 Prozent mehr Ärzte und 20 Prozent mehr Krankenhauspersonal beschäftigt, wird eine fast doppelt so hohe Krankenhauskapazität vorgehalten und werden etwa 20 Prozent mehr Medikamente verschrieben. Trotz des geringeren Ressourceneinsatzes sind die krankheitsspezifischen Überlebensraten in den USA jedoch höher als in Deutschland. Die in den USA höheren Gesundheitsausgaben ergeben sich vornehmlich aus den höheren Löhnen und Gehältern des amerikanischen Gesundheitspersonals.
Insgesamt sieht der Beirat in der korporatistischen Organisation des Gesundheitswesens ein Beispiel dafür, dass die ohnehin prekäre Balance zwischen Erfolgschancen und Gefahren korporatistischer Institutionen sich zum Schaden des Gemeinwohls wenden kann.
2. Bündnis für Arbeit
Das "Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit" (kurz: "Bündnis für Arbeit") ist ein Versuch, die beiden drängendsten sozialen Probleme des gegenwärtigen Deutschlands, nämlich die Arbeitslosigkeit und die Krise des Sozialstaates, zu lösen. An den tripartistischen Verhandlungen sind die Bundesregierung durch den Bundeskanzler und fünf Bundesminister, die Arbeitgeberseite durch vier Verbandspräsidenten und die Gewerkschaften durch den DGB-Vorsitzenden und vier Vorsitzende von Einzelgewerkschaften vertreten. Das Bündnis ist mehr als eine informelle Verhandlungsrunde, es ist institutionalisiert mit eigenen Arbeits- und Expertengruppen.
Das Bündnis setzt sich zwölf konkrete Ziele, von denen die ersten sechs wie folgt lauten:
- Eine dauerhafte Senkung der gesetzlichen Lohnnebenkosten; eine strukturelle Reform der Sozialversicherung,
- eine beschäftigungsfördernde Arbeitsverteilung,
- eine Unternehmenssteuerreform zur Entlastung der mittelständischen Wirtschaft,
- eine Verbesserung der Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen,
- flexibilisierte Möglichkeiten für das vorzeitige Ausscheiden aus dem Erwerbsleben,
- eine Tarifpolitik, die den Beschäftigungsaufbau unterstützt.
Die weiteren Ziele reichen vom verbesserten Zugang kleiner und mittlerer Unternehmen zu Wagniskapital bis zu einem Ausbau des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums zur Bekämpfung von Langzeit- und Jugendarbeitslosigkeit, insbesondere einer Verbesserung der Weiterbildungsmöglichkeiten.
Ausgangspunkt des Bündnisses ist die anhaltend desolate Lage auf den Arbeitsmärkten, vor allem die hohe Langzeitarbeitslosigkeit unter den gering qualifizierten Arbeitnehmern. Dieses Gutachten ist nicht der Platz, umfassend auf die Ursachen der Arbeitslosigkeit einzugehen. Festzuhalten ist jedoch: Ein wichtiger Auslöser der Arbeitslosigkeit liegt in dem technisch-wirtschaftlichen Wandel, der zu einem volatileren wirtschaftlichen Umfeld und einer sektoral, regional und qualifikatorisch sich verändernden Struktur der Arbeitsnachfrage geführt hat. Zudem reagiert heute die Arbeitsnachfrage wesentlich elastischer als früher auf Veränderungen der Arbeitskosten. Von dieser Entwicklung sind Unternehmungen und Arbeitnehmer ganz unterschiedlich betroffen. Die Problematik wird verstärkt durch den Teufelskreis, der bei der Arbeitslosigkeit beginnt und über die finanziellen Ungleichgewichte in den Systemen der Sozialen Sicherung und dementsprechend hoher Lohnnebenkosten wieder bei der Arbeitslosigkeit endet.
Im niederländischen Wassenaar-Prozess ist es gelungen, marktkonforme Antworten auf die veränderten, heterogenen wirtschaftlichen Gegebenheiten zu geben, insbesondere die Flexibilität der Reallöhne zu verbessern, für anpassungsfähigere sektorale, regionale und qualifikatorische Lohnstrukturen zu sorgen und die Arbeitnehmer räumlich und beruflich mobiler zu machen. An all dem fehlt es bisher in Deutschland. Statt dessen erweitern der hohe Zentralisierungsgrad der Tarifverhandlungen und der ausgebaute Sozialstaat den Tarifvertragsparteien die Möglichkeit, Teile der Lasten aus den veränderten wirtschaftlichen Gegebenheiten auf Dritte abzuwälzen, anstatt sich den Veränderungen selbst anzupassen.
Das Bündnis für Arbeit wird sein Hauptziel einer dauerhaften Senkung der Arbeitslosigkeit nur erreichen können, wenn es dazu genutzt wird, grundlegende Reformen der Arbeitsmärkte und der Systeme der sozialen Sicherung auf den Weg zu bringen. Notwendig ist zum einen, die Institutionen des Tarifvertragssystems so zu verändern, dass mehr Flexibilität bei den Löhnen und den Arbeitsbedingungen möglich wird, die der Heterogenität von Unternehmen und Arbeitnehmern Rechnung trägt. Erweisen sich die Tarifvertragsparteien dazu außerstande, so müssen wirksame gesetzliche Öffnungsklauseln für Abhilfe sorgen. Notwendig sind zum anderen Reformen, die für mehr Effizienz in den Systemen der sozialen Sicherung sorgen, indem sie Fehlanreize beseitigen und der Kapitaldeckung von Versicherungsleistungen mehr Raum geben. Solche Reformen waren zentrale Elemente des Wassenaar-Prozesses; sie finden sich auch in dem Zielkatalog des Bündnisses für Arbeit wieder.
Das zentrale politische Problem dieser Aufgabe besteht jedoch darin, dass das gegenwärtige institutionelle Arrangement Deutschlands ein polit-ökonomisches Gleichgewicht ist. Will man ein anderes Gleichgewicht, so braucht es das koordinierte Handeln derer, die für das neue Gleichgewicht nötig sind. Eine Mehrheit in der Bevölkerung ist mit den gegenwärtigen Institutionen einverstanden; eine Reform würde sie kurzfristig gesehen schlechter stellen. Nur die Arbeitslosen und die Eigentümer von Realkapital würden unmittelbar gewinnen, während die Arbeitsplatzbesitzer erst einmal mit geringeren Lohnzuwachsraten zu rechnen hätten. Die in den Gewerkschaften tonangebenden Arbeitsplatzbesitzer sind nur bereit, einer solchen Vereinbarung zuzustimmen, wenn sie für die temporäre Lohnzurückhaltung entschädigt werden. Dies kann den Staat als dritten Partner dazu veranlassen, durch zusätzliche Sozialleistungen oder eine verminderte Steuerlast für einen Ausgleich zu sorgen.
Es wird für die Regierung als dem unverzichtbaren dritten Partner in einem Bündnis für Arbeit immer schwieriger, für solche Entschädigungen zu sorgen. Die Lasten zusätzlicher Sozialleistungen werden vor allem auf Dialogoutsider verlagert, im wesentlichen auf zukünftige Generationen. Auch für das Bündnis für Arbeit gilt, was schon für die Konzertierte Aktion zutraf: Korporatistische Arrangements sind grundsätzlich nur dann einigermaßen stabil, wenn die tripartistischen Vereinbarungen zentral getroffen werden.
Damit werden aber die Schwierigkeiten, die strukturellen Probleme auf den Arbeitsmärkten adäquat anzugehen, nicht kleiner, sondern größer. Die Zusage der Arbeitgeberverbände, bei einer moderaten Lohn- und Tarifpolitik mehr Beschäftigung zu schaffen, muss relativ unverbindlich bleiben, weil sie ihre Mitgliedsunternehmungen nicht wirklich dazu verpflichten können. Damit sind die Zusagen der Arbeitgeberverbände in einem Bündnis für Arbeit für die Gewerkschaften, die ohnehin nicht davon ausgehen, dass Lohnzurückhaltung zu mehr Arbeitsnachfrage führt, nicht sehr viel wert. Zudem können die zentralen Vereinbarungen auf der Ebene des Bündnis den spezifischen Besonderheiten von Sektoren, Regionen und Unternehmungen ebenso wenig entsprechen wie den unterschiedlichen Gegebenheiten auf Seiten der Arbeitnehmer. Die strukturellen Probleme auf den Arbeitsmärkten erfordern Lösungen vor Ort; gerade das können aber zentrale, korporatistische Abmachungen nicht leisten.
Das endgültige Urteil über das Bündnis für Arbeit ist damit allerdings noch nicht gesprochen. Notwendig ist ein neuer gesellschaftlicher Konsens darüber, was des Staates und was des Marktes ist. Ein Bündnis für Arbeit wird von vielen als ein Vehikel gesehen, diese eminent wichtige ordnungspolitische Aufgabe einer Lösung näher zu bringen. Das Bündnis für Arbeit wird also nur Erfolg haben, wenn es gelingt, die Tyrannei des institutionellen Status quo abzustreifen.
Die bisher beobachtbaren Indizien geben dem Beirat jedoch Anlass zur Sorge. Sie bestätigen die oben aufgeführten Befürchtungen. Das alte Spiel der Tarifpartner, beschäftigungspolitische Lasten auf Dritte abzuwälzen, geht im neuen Gewande des Bündnis für Arbeit weiter. An Ideen für interventionistische staatliche Aktivitäten herrscht kein Mangel; aus dem Bündnis für Arbeit kommen immer neue Vorschläge: Einmal sollen Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik ausgebaut werden, dann soll flächendeckend ein staatlich subventionierter Niedriglohnsektor eingerichtet werden, ein anderes Mal soll der Übergang in die Rente über beitrags- und steuerfinanzierte Tariffonds erleichtert werden. Die Rente mit 60 ohne adäquate versicherungsmathematische Abschläge war die aktuellste, sicherlich nicht letzte Idee, zukünftige Generationen auch weiter als Lastesel zu missbrauchen. Nicht institutionelle Innovation dominiert, sondern die Bewahrung überkommener Verhältnisse. Bisher kommt im Bündnis für Arbeit gerade das nicht zustande, was im Prozess von Wassenaar gelang: das Durchbrechen des polit-ökonomischen Gleichgewichts.
Schlussbemerkungen
Korporatistische Institutionen können helfen, wirtschaftspolitische Defizite und polit-ökonomische Blockaden aufzulösen, wenn sie die Einsicht befördern, dass es marktkonformer Antworten und Reformen bedarf, um die Wohlstandsgewinne ausschöpfen zu können, die der beschleunigte technisch-wirtschaftliche Wandel bietet.
Das niederländische Beispiel des Abkommens von Wassenaar hat gezeigt, dass eine korporatistische Institution die Chance hat, marktkonforme Reformen in Gang zu setzen. Insbesondere durch das Aufbrechen der polit-ökonomischen Blockade gelangen dort wichtige Schritte zu einer Verbesserung der ordnungspolitischen Rahmenbedingungen und einer Erweiterung des Geltungsbereichs dezentraler Marktlösungen. Marktkonforme Antworten auf die Globalisierung der Märkte und das Beschäftigungsproblem sind eine größere Innovationsfähigkeit, Flexibilität und Mobilität der Unternehmen und Arbeitskräfte in bezug auf Standort, Ausbildung, Lohn- und Arbeitsbedingungen. Eine marktkonforme Antwort auf die steigende Lebenserwartung ist die Bereitschaft, die eigene Lebenserwerbszeit zu verlängern. Zu den marktkonformen Antworten auf das Ausgabenproblem im Gesundheitswesen gehören dezentrale Verhandlungen zwischen einzelnen Kassen und Leistungserbringern, die zu Einsparungen zugunsten der Gemeinschaft der Versicherten führen würden.
Korporatistische Institutionen können helfen, wirtschaftspolitische Defizite und polit-ökonomische Blockaden aufzulösen, wenn sie die Einsicht befördern, dass es marktkonformer Antworten und Reformen bedarf, um die Wohlstandsgewinne ausschöpfen zu können, die der beschleunigte technisch-wirtschaftliche Wandel bietet.
Die in diesem Gutachten angestellte Analyse der Funktionsbedingungen des tripartistischen Korporatismus zeigt aber auch, dass solche Institutionen stets in der Gefahr sind, rückwärtsgewandte Tendenzen der Besitzstandswahrung zu verstärken und sie zu Lasten Dritter durchzusetzen. Die historischen Erfahrungen Deutschlands, etwa im Gesundheitswesen oder am Arbeitsmarkt, sind wenig ermutigend.
Insgesamt gesehen erscheinen die Chancen, mit Hilfe korporatistischer Institutionen zu besseren wirtschaftspolitischen Lösungen zu kommen, nicht hoch. Auch der Wassenaar-Prozess war langwierig und sehr schwierig. Worauf es in Deutschland jetzt ankommt, ist, die vorhandenen korporatistischen Institutionen, auch das Bündnis für Arbeit, für den Versuch zu nutzen, den Spielraum für Marktlösungen nachhaltig zu erweitern.