Verbändereport AUSGABE 4 / 2001

Das französische Verbändesystem (1. Teil)

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Verbändereport startet mit dieser Ausgabe eine Folge von Beiträgen, die Verbände und Verbandssysteme in den anderen Staaten der Europäischen Union vorstellt. Die Serie stützt sich auf die empirischen Befunde, die in dem von Werner Reutter und Peter Rütters herausgegebenen Sammelband „Verbände und Verbandssysteme in Westeuropa“ zusammengetragen worden sind (erschienen 2001 bei Leske + Budrich, Opladen). Eröffnet wird die Reihe mit einem Beitrag über das französische Verbändewesen.

Das Französische Amt für Statistik (INSEE) zählte 1996 mehr als 700.000 Vereine und Verbände in Frankreich, in denen rund 20 Millionen Franzosen organisiert sind. Die folgende Übersicht gibt den Organisationsgrad von Vereinen und Verbänden in unserem Nachbarland in den Jahren 1983 und 1996 an. Die Prozentangaben sind erläuterungsbedürftig: Sie beziehen sich nicht auf die Gesamtbevölkerung, sondern nach einer Mitteilung von INSEE vom September 1997 auf das „theoretisch erreichbare Mitgliederpotenzial“. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Von allen Franzosen, die selbstständig oder nicht selbstständig erwerbstätig sind, gehörten 1983 14 Prozent und 1996 noch 8 Prozent beruflichen Interessenvertretungen oder den Gewerkschaften an.

Freizeitverbände gewinnen, Interessenverbände schmelzen ab

Die Zahlen bestätigen einen allgemeinen Befund: Interessenverbände verlieren an Boden, während „Freizeitverbände“ wachsende Mitgliederzahlen verzeichnen. Mit einem Organisationsgrad von gerade noch 8 Prozent bei Gewerkschaften und Unternehmerverbänden wird diese Entwicklung besonders deutlich, wobei allerdings die Mitgliederverluste der französischen Gewerkschaften besonders drastisch ausgefallen sind. Während 1987 noch 22 Prozent der französischen Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert waren, ist diese Zahl bis Anfang der neunziger Jahre auf 6,5 Prozent abgeschmolzen. Insgesamt lässt sich für das französische Verbändewesen feststellen: So zentralisiert der staatliche Aufbau ist, so dezentral und plural das Verbändeleben. Dies mag geschichtlich noch ein später Nachhall der revolutionären Ablehnung „intermediärer Organisationen“ sein.

Verbandlicher Organisationsgrad in Frankreich

Zweck der Organisation

Organisationsgrad in Prozent

 

1983

1996

Berufsverbände/Gewerkschaften

14

8

Sportvereine und -verbände

15

18

Mieterverbände/Wohnungseigentümerverbände

5

5

Humanitäre Organisationen

2

4

Religiöse Organisationen

4

4

Elternverbände

12

8

Seniorenclubs

21

16

Kultur/Musikverbände

5

7

Betriebliche Rentnervereine

5

7

Verbände von Kriegsveteranen

5

3

Quelle: INSEE PREMIERE Nr. 542, September 1997

Nur repräsentative Verbände als Gesprächspartner zugelassen

Anders als in Deutschland, wo nach § 47 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesregierung alle in der Lobbyliste des Bundestages registrierten Verbände prinzipiell im Vorfeld von Verordnungs‑ und Gesetzesvorhaben angehört werden können, müssen französische Verbände für eine solche Rolle „repräsentativ“ sein. Die Repräsentativitätskriterien wurden ursprünglich für Gewerkschaften entwickelt, werden seit den fünfziger Jahren aber auch auf andere Verbände angewendet. Die Repräsentativitätskriterien sind:

  • Mitgliederzahl
  • Unabhängigkeit
  • Beitragsaufkommen
  • Erfahrung und Alter
  • patriotische Haltung während der Besatzungszeit

Terminologie des Verbandswesens

Für Außenstehende fällt es nicht leicht, die Terminologie des französischen Verbandswesens zu verstehen. Dauerhafte Zusammenschlüsse, die der Vertretung beruflicher und wirtschaftlicher Interessen dienen, werden unter dem Begriff „syndicat“ zusammengefasst. „Syndicats“ werden nur als Zusammenschluss von Personen, die einen gemeinsamen oder verwandten Beruf ausüben oder gemeinsam ein Produkt herstellen. Gewerkschaften, Berufsverbände als Vertretungen der freien Berufe und Unternehmerverbände werden rechtlich gleich behandelt. Für diese Organisationseinheiten sind Musterstatuten entwickelt worden, die jedoch nicht verbindlich sind. Entscheidend ist, dass das Ziel dieser Organisationen nicht auf die Erwirtschaftung von Gewinnen gerichtet ist („association sans but lucratif“). Durch die fehlende Erwerbsausrichtung werden sie von Handelsgesellschaften, Genossenschaften und anderen Wirtschaftsunternehmen abgegrenzt. Durch die Dauerhaftigkeit ihres Zusammenschlusses werden sie ferner von der Versammlung („réunion“) unterschieden.

Dynamische Verbandsentwicklung

Das französische Vereins- und Verbandswesen ist durch eine ausgesprochen dynamische Entwicklung gekennzeichnet. Während zwischen 1937 und 1960 im Durchschnitt jährlich 9.000 bis 12.000 neue Vereinigungen gebildet wurden, stieg die Zahl der Neugründungen zwischen 1975 und 1981 von 20.000 auf 30.000 pro Jahr. Der Kulminationspunkt wurde 1989/1990 mit mehr als 60.000 Neugründungen von Vereinen und Verbänden erzielt. Allerdings wird statistisch nicht erfasst, wie viele Vereine und Verbände zwischenzeitlich ihre Aktivität eingestellt haben.

Die Stärke der französischen Verbände

Nach Ansicht von Beobachtern beruht die politische Stärke der französischen Verbände in erster Linie auf ihrer Mobilisierungsfähigkeit. So ist es in Frankreich nicht unüblich, dass auch Unternehmer „auf die Straße gehen“. Oft handelt es sich bei solchen Mobilisationswellen nur um „temporäre Organisationen“, die nach der Austragung des Konflikts aufhören zu existieren (mouvements de coordination).

Französische Unternehmerverbände

Das Lager der französischen Unternehmerverbände ist durch zwei Dachverbände charakterisiert, wobei die MEDEF die Großunternehmen und die CGME die kleinen und mittelständischen Unternehmen vertritt.

MEDEF: BDI und BDA à la carte

Die 1998 aus dem CNPF (Conseil national du Patronat français) hervorgegangene Mouvement des entreprise de France – MEDEF ist in Frankreich zuständig für die Aufgaben, die in Deutschland getrennt vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) wahrgenommen werden. Der MEDEF ist seit 1958 Mitglied des Europäischen Unternehmerverbandes UNICE.

Der MEDEF ist nach dem Industrieverbandsprinzip in 600 Wirtschaftsverbände (syndicats professionnelles) gegliedert, die ihrerseits wieder zu 85 Industrieverbänden (fédérations professionnelles) zusammengeschlossen sind. Horizontal bestehen 165 regionale und lokale Vereinigungen, die nach dem Prinzip der MEDEF gegliedert sind. In den Kommissionen und Arbeitsgruppen der MEDEF arbeiten 7.000 Unternehmer mit, ferner 10.000 Geschäftsführer und weitere 35.000 Mandatsträger.

In der jährlichen Vollversammlung entfallen 380 Sitze auf die Vertreter der Fachverbände und 170 auf die Repräsentanten der Regionalverbände. Auf Antrag des Präsidenten des MEDEF können bis zu zehn Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in der Vollversammlung vertreten sein.

Politischer Kurs

Politisch tritt der MEDEF in erster Linie mit seinen Forderungen nach einer Deregulierung des Arbeits-, Kündigungs- und Arbeitsvertragsrechts in Erscheinung. Eine Kernforderung ist die Verlagerung von Tarifverhandlungen auf die betriebliche Ebene. Eine politische Niederlage erlitt der Verband bei seinem erfolglosen Kampf gegen die Einführung der 35-Stunden-Woche. Dies war auch der Anlass für eine grundlegende Verbandsreform, aus der der MEDEF in seiner heutigen Gestalt hervorgegangen ist.

CGPME: Klein, aber fein und stark wie Asterix

Die Confédération Générale de Petites et Moyennes Entreprises et du Patronat Réel (CGPME) stellt die verbandliche Vertretung der rund 2,4 Millionen klein‑ und mittelständischen Unternehmen bis 500 Beschäftigte in Frankreich dar. Allerdings ist der Agrarsektor nicht in ihr organisiert. Damit vertritt der Verband Unternehmen in Industrie, Handel und Dienstleistung, die 89 Prozent aller Arbeitsplätze zur Verfügung stellen und 61 Prozent des Umsatzes sowie 49 Prozent des Exports erwirtschaften. Sie repräsentiert 1,6 Millionen Unternehmen.

Als Verband der Verbände sind in der CGPME 400 Industrieverbände mit insgesamt 3.500 Einzelorganisationen zusammengeschlossen. Am einflussreichsten sind hiervon die Union Nationale des PME du Commerce (UNPMC), also der Verband der kleineren und mittleren Handelsunternehmen, die Union Nationale de la Petit et Moyen Industrie (UNPMI), der Verband der kleineren und mittleren Industrieunternehmen, sowie die Union Nationale des Prestataires de Services (UNPS), der Verband der Dienstleistungsunternehmen.

Auch dieser Dachverband verfügt über zahlreiche regionale und fachliche Gliederungen. Die CGPME ist in zahlreichen staatlichen Beratungsgremien vertreten. Dies reicht von der Tarifpolitik über die Berufsausbildung, die Sozialversicherung und Beschäftigungspolitik bis hin zur Investitionspolitik im Handel. So hat sie beispielsweise Sitz und Stimme im Aufsichtsrat der Sozialversicherungen, der Rentenzusatzversicherungen für Arbeiter und Angestellt sowie in den sozialen Sicherungssystemen (Krankenversicherung, Rentenversicherung, Familienversicherung, Arbeiterunfallversicherung).

Die CGPME hat eine eigene Vertretung in Brüssel. Auf dem Dienstleistungssektor bietet die CGPME ihren Mitgliedern Finanzierungen, Kredite, berufliche Weiterbildung, Zusatzversicherungen für Mitarbeiter der Firmen sowie Wohnungsbeihilfen an.

UNAPL: Interessenvertretung der freien Berufe

Für die 1,5 Millionen Angehörigen freier Berufe in Frankreich (6 Prozent aller Beschäftigten) stellt die UNAPL als „Union Nationale des Professions Libérales“ den nationalen Dachverband dar, der sie in allen staatlichen Konsultativorganen und bei Tarifverhandlungen vertritt. In der UNAPL sind 55 nationale Verbände zusammengeschlossen, darunter 32 auf dem Gesundheitssektor, 16 auf dem Gebiet Technik und Umwelt und sieben auf dem Gebiet des Rechtswesens. Auf internationaler Ebene ist sie dem Weltverband der freien Berufe angeschlossen. Ihre Hauptziele liegen in der Förderung der Ausbildung sowie der Absicherung der Entfaltungsmöglichkeiten freier Berufe und in der Verbesserung der Alterssicherung für die Verbandsangehörigen.

>>>Fortsetzung>>>

 

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Autor/in

Helmut Martell

ist Rechtsanwalt. Helmut Martell war Gründungsvorsitzender der DGVM und zwanzig Jahre ihr Stellvertretender Vorsitzender. Von 1997 bis 2014 fungierte er als Herausgeber des Verbändereport.

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