Die Schweizerischen Verbände sind seit je her in die Wechselwirkung einer langen demokratischen Tradition, starken Elementen der direkten Demokratie, des Föderalismus und des Korporatismus eingebunden. Was dabei oft übersehen wird: Die Schweiz ist auf dem europäischen Kontinent das Land mit der längsten demokratischen Tradition. Die folgende Darstellung des schweizerischen Verbändesystems beruht im Wesentlichen auf den Befunden des Sammelbandes „Verbände und Verbandssystem in Westeuropa“ herausgegeben von Werner Reutter und Peter Rütters (Leske + Budrich, Opladen 2001).
Spezifika des CH-Verbändesystems
Eine historische Zäsur bedeutete die Gründung des modernen Schweizer Staates im Jahre 1848, mit der auch die Handels- und Gewerbefreiheit sowie die Koalitionsfreiheit eingeführt wurde. Allerdings haben die Schweizer Kaufleute dafür gesorgt, dass die Vereinigungsfreiheit ihre Interessen doch nicht all zu sehr störte. So war das Streikrecht noch lange Zeit durch das Zivilrecht eingeschränkt; Streikführer wurden noch bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts strafrechtlich verfolgt.
Eine Änderung brachten hier erst die Rechtsänderungen im Jahre 1999, mit denen das Streikrecht in die Verfassung aufgenommen wurde. Am ehesten unterscheidet sich das Schweizer Verbändesystem von dem anderer europäischer Länder noch durch seine ununterbrochene historische Kontinuität.
Dagegen ist die starke regionale und sprachliche Fragmentierung der Schweiz und seiner Verbände kein schweizerisches Spezifikum, sondern auch in anderen europäischen Staaten vorhanden, man denke nur an Belgien, die Niederlande oder auch - mit Einschränkungen - Deutschland.
Machthebel Referendum
Allerdings verleihen die Elemente der direkten Demokratien der Schweiz Verbänden ein in anderen Staaten unbekanntes politisches Gewicht. Sofern Verbände nämlich die Möglichkeit besitzen, ein Referendum auf der politischen Ebene herbeizuführen, werden die von ihnen repräsentierten Interessen von der politischen Sphäre in besonderem Maße berücksichtigt. Verstärkt wird das Einflusspotential schweizerischer Verbände durch die Tendenz des schweizerischen Staates, zahlreiche Aufgaben, die in anderen Ländern als originäre Staatsaufgaben betrachtet werden, auf Verbände zu delegieren.
Staatliche Mitfinanzierung
Gleichzeitig verschafft sich der Staat durch eine Mitfinanzierung von Verbandsbereichen einen rückkoppelnden Einfluss auf die Verbände. So wurden beispielsweise die Spitzenverbände subventioniert, um ihnen die Mittel für die Erhebung von statistischen Daten zu verschaffen. 1878 wurde auf diese Weise die Geschäftsstelle des schweizerischen Handels- und Industrievereins bezuschusst, in späteren Jahren erhielten auch Bauernverbände und die Gewerkschaften solche Subventionen. Schon sehr frühzeitig bildete der schweizerische Staat Netzwerke von Experten aus Verbänden, die für die Beratung des Staates herangezogen wurden. Nicht der Aufbau eigener Bürokratien, sondern die Heranziehung des Expertenwissens von Verbänden, ist daher eine bis heute durchgehende rote Linie der schweizerischen Politik.
Lange Tradition der schweizerischen Verbände
Nach einer Vermutung von Mancur Olson nimmt die Zahl der Verbände mit der Dauer der Demokratie zu. Diese Vermutung scheint offensichtlich für die Bundesrepublik Deutschland zu gelten: Nicht wird die Liste der beim Deutschen Bundestag registrierten Verbände immer länger, sondern es wächst trotz aller Fusionen und Verbandssterbefälle per Saldo die Anzahl der in Deutschland aktiven Interessenorganisationen.
Das folgende Schaubild zeigt die Gründungsdaten und -größe ausgewählter Schweizer Verbände:
(Aus: Reutter/Rütters a.a.O.)
Hohe Verbandsmitgliedschaft in der Schweiz
Im Jahre 1996 wurde die Mitgliedschaft der Schweizer in Verbänden erhoben. Danach sind im europäischen Vergleich Schweizer überdurchschnittlich oft in Verbänden organisiert. In der Studie wurde gefragt, wie die Schweizer in folgenden Verbandsarten organisiert waren: Sport-Freizeitverbände, Kultur-, Musik-, Bildungsvereine, Gewerkschaften, Umweltschutzverbände, Berufsvereinigungen, Karitative Vereinigungen, Sonstige Verbände.
Die Befragung erbrachte folgende Ergebnisse:
Mitgliedschaft in Verbänden (1996)
Schwacher Zentralstaat = starke Regionalverbände
Der mit einem schwachen Zentralstart gepaarte starke Föderalismus in der Schweiz bewirkt eine für andere Länder untypische Regionalisierung des Verbandswesens. Die für die meisten Verbände wichtigen Entscheidungszentren liegen auf kantonaler Ebene (26 Kantone) und bei den knapp 3.000 Gemeinden. Die schweizerischen Verbände sind daher durch die Stärke ihrer Regionalvertretungen und die Schwäche ihrer Zentralen gekennzeichnet.
Dies gilt jedoch nicht für die Interessenverbände der Landwirtschaft, der Wirtschaft und der Sozialpartner. Bei diesen ist die innerverbandliche Entscheidungskompetenz stärker zentralisiert.
Die Schwäche des schweizerischen Zentralstaates beruht zum Teil auch auf der Übung, Verbände mit Aufgaben des Staates zu betreuen. Dadurch haben diese einen starken Einfluss auf die staatliche Politik erworben. Das ist besonders den Unternehmensverbänden gut gelungen.
Formen des Korporatismus
Die Formen der Kooperation von Verbänden und Staat werden in dem von Peter Farago und Hanspeter Kriesi im Jahre 1986 herausgegebenen Werk „Wirtschaftsverbände in der Schweiz“ von als Mitsprache, Kooperation und Delegation beschrieben.
Mitsprache
Bei der Mitsprache handelt es sich um eine besondere Form der Meinungsäußerung im so genannten Vernehmlassungsverfahren. Dieses Verfahren zwingt die Regierung, Verbände anzuhören und auf ihre Argumente im Einzelnen einzugehen. Dieses Vernehmlassungsverfahren ist verfassungsmäßig abgesichert. Die Vernehmlassung kann der Regierung auch wichtige Hinweise geben, ob mobilisierungsfähige Verbände gegebenenfalls ein Referendum planen.
Kooperation
Unter der Kooperation versteht man Formen der Zusammenarbeit von Staat und Verbänden in gemeinsamen Kommissionen. Im Jahre 1977 wurden bei einer Untersuchung auf Bundesebene 373 solcher Expertenkommissionen mit insgesamt 5.300 Kommissionsplätzen gezählt, die auf 3.800 Experten entfielen. 1.500 Sachverständige kamen dabei aus dem Kreis der Interessenverbände. Dieses gemischte Kommissionssystem wird als „Milizverwaltung des Bundes“ bezeichnet.
Delegation
Mit dem Begriff Delegation bezeichnet man die Auslagerung staatlicher Aufgaben auf Verbände, wie sie in der Bundesrepublik beispielsweise bei den technischen Überwachungsvereinen (TÜV) erfolgt ist. Ein solches Outsourcing staatlicher Aufgaben findet beispielsweise in der Berufsausbildung, der Implementierung der Landwirtschaftspolitik und bei der Setzung praktisch verbindlicher Normen im Industrie- und Wirtschaftsbereich statt. Ein weiteres wichtiges Feld der Delegation staatlicher Aufgaben ist die Milizausbildung, derzufolge die Milizionäre regelmäßige Schießübungen durchführen müssen, wobei sie Anlagen der Schützenvereine nutzen. Die Schützenvereine erhalten hierfür eine Ausgleichszahlung durch den Staat.
Einige gesamtschweizerische Verbände
Im Folgenden sollen einige schweizerische Verbände kurz in ihrer Bedeutung vorgestellt werden:
Schweizerischer Bauernverband
Dieser Verband umfasst 25 kantonale Bauernverbände, 36 Fachverbände der Produktionszweige und 9 regionale Verbände und Genossenschaft sowie 17 weitere Organisationen. Die innerverbandliche Opposition wird im wesentlichen durch die Mitgliedervereinigung zum Schutz der kleinen und mittleren Bauern sowie die Union des Producteurs Suisses vertreten, wobei letztere einen aktionistisch ausgerichteter Alternativverband zum Bauernverband darstellt.
Schweizerischer Gewerbeverband
Im schweizerischen Gewerbeverband sind 25 kantonale Gewerbeverbände mit 120.000 Mitgliedern sowie 205 nationalen Berufsverbänden und 46 Selbsthilfeorganisationen des Gewerbes organisiert. Der Verband versteht sich als Interessenvertretung des selbstständigen Mittelstands und hat sich in der Vergangenheit stets skeptisch bei geplanten wirtschaftspolitischen Öffnungen geäußert. Dies galt sowohl für den Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum oder der Europäischen Union.
Industrieverbände
Die schweizerischen Industrieunternehmen sind in drei Verbänden zusammengefasst:
Vorort
Der so genannte Vorort ist hierbei der älteste Verband von 19 kantonalen und regionalen Handelskammern, die auf freiwilliger Mitgliedschaft beruhen. Sein offizieller Name lautet: „Schweizerischer Handels- und Industrie-Verein“ (SHIV). Der Vorort vertritt auch mehr als 80 Fachverbände, die bestimmte Brancheninteressen repräsentieren. Seinen Namen erhielt der Vorort ursprünglich, weil die Geschäftsleitung turnusmäßig von einer regionalen Handelskammer (dem Vorort) zur anderen wechselte. Der Name wurde beibehalten, obwohl 1883 ein fester Verbandssitz etabliert wurde. Der Vorort ist Sprecher für die wirtschaftspolitischen Interessen der Industrie mit einem besonderen Schwerpunkt auf den Interessen der Exportindustrie.
Arbeitgeberverband
Der Arbeitgeberverband vertritt rund 1.000 Firmen mit über 1 Millionen Beschäftigten. Er tritt nur als Interessenvertreter gegenüber den Gewerkschaften auf. Deshalb gehören in der Regel Industrieunternehmen sowohl dem Vorort als auch dem Arbeitgeberverband an.
Gesellschaft zur Förderung der schweizerischen Wirtschaft
Diese Gesellschaft wurde in den 30-er Jahren als Öffentlichkeitsabteilung des SHIV gegründet.
Gewerkschaftsverbände
Die schweizerischen Gewerkschaften sind in vier Arbeitnehmerorganisationen aufgeteilt. Neben dem sozialdemokratisch orientierten schweizerischen Gewerkschaftsbund werden die Interessen der Arbeitnehmer noch von dem Christlich-nationalen Gewerkschaftsbund vertreten, während die Angestellten meist in der Vereinigung schweizerischer Angestelltenverbände organisiert sind. Als vierte Gruppe existieren daneben noch unabhängige Arbeitnehmervereinigungen. Ende der 90-er Jahre waren nur 25 Prozent der Arbeitnehmer in der Schweiz gewerkschaftlich organisiert. Dazu trägt vermutlich auch bei, dass Tarifverträge nur einen kleinen Teil der erwerbstätigen Bevölkerung betreffen. Ein weiterer Grund wird die fehlende Präsenz der Gewerkschaften in den Betrieben sein, da die Schweiz kein Betriebsratssystem kennt. Wenngleich die Position der schweizerischen Gewerkschaften gegenüber den Arbeitgeberverbänden schwächer als in der Bundesrepublik ist, darf man ihren politischen Einfluss nicht unterschätzen, der von dem erheblichen Mobilisierungspotential herrührt.
Verbraucherverbände
In der Schweiz konkurrieren drei Verbraucherverbände miteinander: Der 1964 gegründete schweizerische Konsumentenbund, dem die Konsumentinnenverbände der Französischen
Schweiz und des Tessins sowie die Verbraucherverbände des Christlich-nationalen Gewerkschaftsbundes angehören, dagegen steht die Stiftung für den Konsumentenschutz dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund sehr nahe. Das Konsumentinnenforum geht schließlich auf eine Abspaltung vom Schweizerischen Konsumentenbund aufgrund einer Initiative aus der Frauenbewerbung zurück.
Sonstige Verbände
Auf gesamtschweizerischer Ebene sind ferner die Verkehrsverbände, die Mieter- und Hauseigentümerverbände, die Jugendorganisationen und Rentnerverbände hervorzuheben, die über ein erhebliches Mitglieder- und Mobilisierungspotential verfügen.
Fazit
Obwohl die schweizerischen Verbände einen erheblichen Einfluss in Politik und Gesellschaft besitzen, wäre es übertrieben, die Schweiz als Verbändestaat zu charakterisieren, denn die staatlichen demokratischen Prozesse funktionieren. Im Vergleich zu anderen europäischen Staaten fällt die starke Fragmentierung in regionale und sprachkulturelle Strukturen auf. Eine zunehmende Zentralisierung des schweizerischen Verbandswesens ist vor allem auf dem Gebiete von Arbeit, Kapital und Landwirtschaft festzustellen.