Verbändereport AUSGABE 4 / 2000

Der Blick in den Teller ist anders als der Blick aus dem Teller heraus!

Ein Berater erlebt die Wirklichkeit seines Berufsverbandes oder: Organisationsberatung als Betroffener

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Einige Zitate als Einstimmung: Der gesellschaftliche Umbruch im Wandel zum Informationszeitalter macht auch vor Verbänden und anderen Interessensgruppen nicht halt. Die Wertvorstellungen gesellschaftlich relevanter Gruppen und ihrer Vertreter in der Öffentlichkeit hat sich in den letzten Jahren zum Teil sehr weit von den Ansichten der Gruppenmitglieder entfernt. Begreifen Sie Ihre Mitglieder als Kunden und fragen sie nach ihren Bedürfnissen, um in Zukunft überhaupt noch gefragt zu sein. Diese willkürlich ausgewählten Zitate werden Ihnen beim Lesen bekannt vorkommen. Als Organisationsberater für soziale Institutionen und Verbände habe ich sie selbst schon oft in Vorträgen oder Präsentationen erläutert.

Inhaltlich soll es aber im folgenden nicht so sehr um diese Zitate gehen, sondern darum, was in einem Verband passieren kann, wenn solchen Erkenntnissen entsprechende Aktivitäten folgen. Denn so erlebte ich als frisch gewähltes Vorstandsmitglied. eines Berufsverbandes die "andere Seite" einer Organisationsberatung in einem Re-Organisationsprozess.

Wirtschaftsverbände sind anders
Auf einen wichtigen Unterschied zwischen Verbänden der Wirtschaft und solchen, die eher ethische oder soziale Ziele verfolgen, möchte ich zunächst hinweisen. In Wirtschaftsverbänden finden wir meist eine Führung und Vorstandschaft in einer klaren Organisationsstruktur. Diese stellt an die Fähigkeiten des Stelleninhabers klar formulierte Anforderungen. Die operativen Aufgaben des Verbandes werden von der Geschäftsführung wahrgenommen und koordiniert. Der Vorstand übernimmt strategische und repräsentative Aufgaben.

Soziokulturelle Verbände
In Verbänden mit ethischen und sozialen Zielen ist die Wahl in ein Vorstandsamt oft auch Ausdruck der Wertschätzung für bisher geleistetes Engagement. Die Organisation dieser Verbände zeigt vielmals eher familiäre Strukturen. Vorstandsmitglieder übernehmen auch operative Aufgaben. Neben den strukturierten Informationsflüssen über Verbandszeitschrift, Mitgliederrundschreiben und sonstigen Infos gibt es viele informelle Kontakte und ungeregelte Weitergabe von Informationen.
"Die Gerüchteküche ist meistens warm". So kommt es schnell zu Missverständnissen, aber auch Mehrfachbearbeitungen von Vorgängen, weil sich viele angesprochen fühlen bzw. mitreden wollen. Regelmäsig ist eine hohe Emotionalität zu finden, so dass die "Befindlichkeit" von haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen ein wichtiges Thema ist. Wird dem nicht genügend Raum gegeben, kommt es leicht zu negativen Auswirkungen "im Klima". Wird zuviel Raum gegeben, bleibt die eigentliche Arbeit liegen.
Hier die Balance herzustellen ist eine wichtige Aufgabe bei der Reorganisation. Zu schaffen ist dies durch klare Regelungen der Zuständigkeiten. Die Kompetenzen müssen geklärt werden. Die Mehrfachbearbeitung muss vermieden werden durch gemeinsames Erarbeiten von transparenten Strukturen. So weit, so einfach des Beraters Aufgabenbeschreibung. Aber: "Der Blick in den Teller ist anders als der Blick aus dem Teller heraus!" Schon wenige Monate nach meiner Wahl zum ehrenamtlichen Vorstand hatte ich das Gefühl, dass ich nicht wirklich dem gleichen Berufsverband vorstehe, dem ich schon seit mehr als zehn Jahren angehörte. Ich kannte viele der mehr als 1.700 Mitglieder persönlich, hätte aber nie gedacht, dass es so viele "graue Eminenzen" und "Interessensgruppen" gibt. Nach einigen "Vorfällen" waren wir uns im Vorstand (zwei Männer, zwei Frauen) einig, dass wir einen Berater brauchen, um effektiv arbeiten zu können. Das erste Angebot ging gleich an mich!

Nach dem Motto "Du kennst Dich aus, weist worum es geht" und unausgesprochen "bist vielleicht auch nicht so teuer" sollte ich die Beratung führen. Aber ein Berater kann nur wirklich helfen, wenn er oder sie nicht beteiligt ist. Also suchten und fanden wir einen externen Berater. Er erhielt die Aufgabe, die entwickelten Strukturen eines dreisig Jahre alten Verbandes anzuschauen und so zu reorganisieren, dass wir uns als Verband weiterentwickeln können. Bildlich gesprochen: So wie ein Obstbaum für einen kontinuierlich guten Ertrag immer wieder gezielte Schnitte und manchmal eine Stütze braucht.

Reaktionen des ‚Establishments‘
Als erste Reaktion spürte ich ein leichtes Beben in den informellen Kanälen: "Schafft der Vorstand die Arbeit nicht mehr?" "Wieso holen die einen von außen? Der kennt sich doch nicht aus!" Von den hauptamtlichen Mitarbeiterinnen kam die besorgte Frage an mich, ob ihre Arbeitsplätze denn noch sicher seien. Die ehrenamtlichen "Posteninhaber" fragten mal offen, meist aber hinter vorgehaltener Hand, ob ihr Bereich wohl bestehen bliebe. Ich hatte plötzlich das Gefühl, auf offener See mit einer Luftmatratze in stürmisches Wetter zu geraten.

Der Berater führte ruhig und gelassen den Prozess, während bei einigen Betroffenen die Nerven schon bald blank lagen. Einige hatten vielleicht die Erwartung, dass durch einen externen Berater Zeit zu sparen sei im Veränderungsprozess. Anderen ging alles viel zu schnell.

Reorganisation als Achterbahnfahrt
Diese Phase des akuten Umbruchs kenne ich als Berater nur zu gut. Es ist wie bei einer Achterbahnfahrt. Am Anfang geht es aufwärts, eine Strecke liegt vor uns, das Tempo ist langsam. Dann kommt der Kipp-Punkt und sowohl die Dynamik wie auch der Verlauf müssen als Teil des Prozesses gesehen werden. Der Berater lenkt und steuert, aber auf offener Strecke kann niemand einfach umkehren. Als dann Projektgruppen gebildet wurden, die sowohl "Mandatsträger" wie "einfache Mitglieder" zusammenführten, kam der Prozess in ruhigeres Fahrwasser. Die aufgewühlte Stimmung wich wachsender Zuversicht: wir bewegen etwas, statt bewegt zu werden. Und: wir schaffen an unserem Berufsverband!

Kommunikation. Kommunikation, Kommunikation!
Auch in diesem Prozess einer Organisationsberatung, den ich von der "anderen Seite" erleben durfte, zeigte sich: Kommunikation ist der Schlüssel zum Erfolg! Eine offene Information aller Mitglieder und noch mehr (und evtl. ausführlicher) aller "Mandats- und Postenträger" muss schon frühzeitig den Beratungsprozess begleiten. Gerade die sogenannten "kritischen Stimmen" geben Projektgruppen die nötige Vielfalt und sollten auch in den koordinierenden Arbeitskreisen bewusst eingebunden werden. Klar formulierte Ziele braucht ein Verband. Um diese im Sinne der Mitglieder erreichen zu können braucht er transparente und einfache Strukturen. Die Aufgaben müssen ehren- und hauptamtlichen MitarbeiterInnen gleichermaßen verständlich sein. Die Ehrenamtlichen können so wenig ohne die Hauptamtlichen sein wie umgekehrt. Ein Auto braucht neben dem Motor auch noch Räder, um vorwärts zu kommen.
Ein Zeit- und Kostenmanagement setzt Mittel frei für die eigentlichen Ziele, statt einen Verwaltungsbauch zu füttern. Serviceleistungen für Mitglieder, die diese wünschen und wirklich brauchen, erhöhen die Bindung an den Verband. Solche Ergebnisse rechtfertigen es immer, die große Herausforderung einer Re-Organisation zu wagen. Erwarten Sie aber keine "schnellen" Ergebnisse! Sie wissen ja, dass gut Ding auch Weile haben will. Der kontinuierlich geführte Prozess, der offen kommuniziert wird, nimmt dann auch alle Verbandsmitglieder mit auf den Weg in die Zukunft. Und die Mitglieder stehen schließlich im Mittelpunkt.

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