Verbändereport AUSGABE 7 / 1999

Die Zukunft der Wirtschaftsverbände

Fünf Thesen zur Zukunft der Wirtschaftsverbände

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Ein erheblicher Teil der verbandswissenschaftlichen Literatur nutzt dem Verbandspraktiker ausgesprochen wenig. Um so erfreulicher ist es, dass mit der Monographie von Inge Maria Burgmer eine Veröffentlichung angezeigt werden kann, die Verbände nicht nur von universitärem Katheder beobachtet, sondern aus einem umfangreichen Insiderwissen schöpfen kann.

Burgmer wurde nach ihren ersten beruflichen Schritten im Vorstandssekretariat von Daimler im Rahmen des BDI-Austauschprogramms im Büro des Präsidenten und der Hauptgeschäftsführung des BDI an den Spitzenverband ausgeliehen, für den sie auch das Brüsseler Terrain erkunden konnte. Für ihre politikwissenschaftliche Promotion hatte sie Zugang auf das Roland-Berger-Gutachten zur Reform des BDI im Jahre 1994 sowie den Berichten "BDI-2000" aus den Folgejahren. Für ihre Arbeit konnte sie desgleichen eine Vielzahl von Vermerken, Sitzungsprotokollen, Korrespondenzen und anderen Dokumenten des BDI erstmals unter dem Aspekt "Zukunft der Wirtschaftsverbände" auswerten. Es bleibt noch hervorzuheben, dass die Burgmersche Arbeit im Gegensatz zu vielen anderen akademischen Fingerübungen sich durch einen ausgesprochen frischen und gut lesbaren Stil auszeichnet.

Fünf Prämissen
Der Studie zur Zukunft der Wirtschaftsverbände liegen fünf zentrale Thesen zugrunde, wovon eine Prämisse, zwei mögliche Lösungsansätze und zwei weitere Thesen Prognosen über die weitere Entwicklung enthalten.

These 1
Die Zukunft der Wirtschaftsverbände wird vor allem von fünf Erscheinungen geprägt:
• die veränderte Denkrichtung der Unternehmer
• der Paradigmenwechsel in der Gesellschaft (Wertewandel, Ökonomisierung)
• die fortschreitende europäische Integration
• die zunehmende Globalisierung der Ökonomie
• der technologisch bedingte Strukturwandel der Wirtschaft.
Ausgehend von dieser Grundannahme gelangt die Autorin zu folgenden Lösungsansätzen:

These 2
"Um den Veränderungen Rechnung zu tragen, bedarf es einer umfassenden Neuausrichtung der Wirtschaftsverbände. Sie muss im Ergebnis dazu führen, dass die Interessen der jeweiligen Klientel wieder hinreichend vertreten werden."

These 3
Entscheidend für die Zukunftsfähigkeit der Wirtschaftsverbände ist einmal die Fähigkeit und Entschlossenheit, die notwendige Neuausrichtung rasch voranzutreiben und zum anderen einen bislang meist noch nicht vorhandenen Mechanismus einzubauen, der die "permanente Adjustierung für die Zukunft gewährleistet". Wenn das gelingt, dann stellt die Verfasserin den Wirtschaftsverbänden keine ungünstige Prognose.

These 4
Dauerhaft organisierte Wirtschaftsinteressen werden auch in Zukunft einen festen Platz im demokratischen Gefüge Deutschlands einnehmen, weil ihre intermediäre Funktion zwischen Wirtschaft und Politik unerlässlich ist (S. 23). Im Blick auf die immer komplexer werdenden Strukturen in Wirtschaft und Gesellschaft nimmt die Notwendigkeit einer formierten Organisation und Kommunikation eher noch zu. Damit wächst die Bedeutung der in Verbänden dauerhaft organisierten Interessen. Allerdings entstehen auch Risiken, nämlich dann, wenn die notwendige Neuausrichtung der Verbände nicht gelingt.

These 5
"Gelingen Neuausrichtung und Implementierung eines Mechanismus permanenter Adjustierung nicht beizeiten, werden die Strukturen der heute existierenden Wirtschaftsverbände auseinanderbrechen, mögen sie auch – formal betrachtet – bestehen bleiben." Bei dieser Zukunftsvariante erwartet Burgmer die Fortentwicklung der in Ansätzen bereits vorhandenen alternativen Strukturen, wie sie etwa die "Round Tables" und spezialisierte Lobby-Agenturen darstellen.

Motor für den Verbändewandel
Als inneren Motor für den Verbändewandel hat die Autorin fünf Erscheinungen ausgemacht. Wichtigster Faktor für die Wirtschaftsverbände sei die veränderte Denkrichtung der Unternehmer. Während bis Anfang der neunziger Jahre die langfristige Interessenpolitik als ein auch von den Unternehmern anerkanntes Verbandsziel galt, erscheint heute im Gefolge des "Shareholder value" die kurzfristige Wahrnehmung von Einzelinteressen die Oberhand gewonnen zu haben. Damit verliert das gesellschaftliche Engagement der Unternehmen, das nicht zu einer unmittelbaren Steigerung des Unternehmens führt, grundsätzlich an Bedeutung. Verbandsmitgliedschaften werden heute in ungleich höherem Mase als früher unter dem Aspekt des "return on investment" betrachtet. Deshalb müsste, so die Autorin, die bislang übliche Einteilung der Gesellschaft in die drei Sektoren "Staat", "Markt" und "Assoziationen" durch einen vierten Sektor "Finanzmärkte" ergänzt werden, weil die "investors relations" für die Unternehmen eine immer grösere Rolle spielen. Dies kommt bereits darin zum Ausdruck, dass zahlreiche Grosunternehmen neben ihren Public-Relations-Abteilungen einen eigenständigen Bereich "Investors Relations" eingerichtet haben.

Paradigmenwechsel in der Gesellschaft
Die verbandliche Neuorientierung wird aber auch durch einen grundlegenden "Paradigmenwechsel" in der Gesellschaft erzwungen. Waren in der Vergangenheit Solidarität und Gemeinwohlorientierung gemeinsames Credo aller Beteiligten, so führen die neuen Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesse zu einer abnehmenden Bindungswilligkeit der Verbandsmitglieder. Das Wort von BDI-Präsident Olaf Henkel von der "Konsenssülze" mag hierfür als Beispiel stehen. War es in der Nachkriegszeit für jeden standesbewussten Unternehmer so gut wie selbstverständlich, neben der Kammermitgliedschaft auch noch in dem einschlägigen Branchenverband und dem regionalen Arbeitgeberverband vertreten zu sein, so stehen heute die Begriff "Partikularlobbying" und "Interessenvertretung à la carte" auf der Tagesordnung.
Hierfür sind zwei Verhaltensweisen kennzeichnend: Einmal lassen immer mehr Unternehmen ihre speziellen Interessen zusätzlich durch eine Beratungsgesellschaft vertreten; zum anderen kündigen immer mehr Unternehmen ihre Verbandsmitgliedschaft, weil sie genau wissen, dass die "Kollektivleistungen" der Verbände ihnen auch ohne formale Mitgliedschaft zugute kommen. Burgmer: "Verbandsaustritte sind heute durchaus nichts Ehrenrühriges mehr. Trittbrettfahrer haben keinerlei Stigmatisierung zu befürchten. Im Gegenteil, es scheint dem Zeitgeist zu entsprechen, Verbänden den Rücken zu kehren." In der Sozialwissenschaft wird dieses Phänomen als "bowling alone" bezeichnet. Inwieweit ein solch kurzfristiges Denken geeignet ist, nachhaltig das auch in den Verbänden materialisierte "Sozialkapital" einer Gesellschaft zu erodieren, bleibt dahingestellt. Allerdings mahnt die Autorin insoweit ausstehende interdisziplinäre Forschungen an.

Europäische Integration und Globalisierung der Wirtschaft
Beide Entwicklungen führen zu einer Entscheidungsverlagerung von der nationalen auf die supranationale Ebene, wobei die internationale Ebene häufig nichtstaatlicher Art ist. Dies gilt etwa für die Welthandelsorganisation, zu einem guten Teil aber auch für die Europäische Union. Im Zuge dieser Entwicklung haben sich und bilden sich neue Spielregeln aus, so dass in einer gewissen Weise von einer "Co-Evolution politisch-administrativer und verbandlicher Strukturen" gesprochen werden kann. Verbände sind hier um so erfolgreicher, je besser sie die Mechanismen des "Klientelismus" verstehen. Da sich die Globalisierung der Wirtschaft weitgehend auserhalb staatlicher Strukturen vollzieht, kann der Verlust an politischem Einfluss auf der nationalen Ebene nicht durch vorhandene oder sich in Zukunft entwickelnde politisch-institutionelle Strukturen auf der internationalen Ebene kompensiert werden. "Die Folge ist eine Abnahme der Steuerungsfähigkeit der Nationalstaaten und damit auch der nationalen Verbände, ein Funktionswandel des Nationalstaates zeichnet sich ab, die nationale Verbändelandschaft erodiert", so Inge Maria Burgmer.

Technologisch bedingter Strukturwandel der Wirtschaft
Als einen entscheidenden Antrieb für den Wandel der Verbändestrukturen hält die Autorin den technologisch bedingter Strukturwandel der Wirtschaft. Denn die Bedeutung industrieller Produktion sinkt – gemessen an der Bruttowertschöpfung – seit Jahren ständig ab, während die Bedeutung von Dienstleistungen rapide zunimmt. Die klassischen Grenzen zwischen Herstellung und komplementären Dienstleistungen verwischen sich immer mehr, so dass keiner der bestehenden Branchenverbände die gesamten Interessen der modernen Unternehmen voll abdecken kann. Dies führt dazu, dass die "Schnittmengen zwischen den Branchenverbänden" immer gröser werden. Folglich lassen sich die Betätigungsfelder der Unternehmen immer weniger eindeutig einem der klassischen Branchenverbände zuordnen. "Dies gilt in hohem Mase für die immer bedeutender werdenden Mischkonzerne. Dabei nimmt die generelle Bereitschaft der Unternehmen, Mitglied in verschiedenen Branchenverbänden zu sein, ab."
Die Autorin veranschaulicht die wachsenden "Schnittmengen" zwischen Branchenverbänden am Beispiel des Verbandes der deutschen Maschinen- und Anlagenbauer (VDMA) und des Zentralverbandes der elektrotechnischen Industrie (ZVEI). In beiden Verbänden wird seit geraumer Zeit von einer "Kernspaltung" gesprochen. Das "Diktat der Starkstromtechnik" gehöre endgültig der Vergangenheit an. Sowohl im Bereich der Informationswirtschaft als auch auf den Feldern der Automatisierung und Industrieausrüstung und der Verkehrstechnik sei eine immer höhere Verzahnung zu beobachten. (Heute bestehen bis zu 40 Prozent einer Maschine bereits aus Elektronikkomponenten.)

BDI: Bundesverband der traditionellen Industrien?
Inwieweit dies auch die traditionellen Spitzenverbände betrifft, ist leicht am Beispiel des Bundesverbandes der deutschen Industrie (BDI) ersichtlich: Traditionsgemäs vertritt er die industriellen Hersteller. Dabei läuft er Gefahr, nicht mehr die progressiven Wirtschaftszweige der Zukunft zu vertreten, weil diese nicht mehr im klassischen Sinne "Hersteller von Erzeugnissen" sind.

Ein Blick auf die Informationswirtschaft mag dies verdeutlichen. Zur Informationswirtschaft zählen Anwendungssoftware-Hersteller, Hersteller elektronischer Bauelemente, Content Provider, Distributoren, Informationstechnik- und Kommunikationstechnik-Hersteller, Netzbetreiber, Service-Provider und Hersteller von Unterhaltungselektronik. Dieses Konglomerat unterschiedlicher wirtschaftlicher Tätigkeiten wird gegenwärtig auf nationaler Ebene im wesentlichen durch folgende Verbände vertreten: Verband privater Kabelnetzbetreiber (ANGA), Bundesverband Informations- und Kommunikationssysteme (BVB), Bundesverband Informationstechnologien (BVIT), Deutscher Multimedia-Verband (dmmv), Fachverband Bauelemente der Elektronik im ZVEI, Fachverband Consumer Electronics im ZVEI, Fachverband Informationstechnik im VDMA und ZVEI, Fachverband Kommunikationstechnik im ZVEI, Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (SPIO), Verband für Anbieter von Telekommunikations- und Mehrwertdiensten (VATM), Verband privater Rundfunk und Telekommunikation (VPRT) und Verband der Softwareindustrie Deutschlands (VSI). Einen sie alle umfassenden Branchenverband Informationswirtschaft gibt es bis heute nicht, doch soll er am 28. Oktober aus der taufe gehoben werden. Daher werden die Bestrebungen, dieses Zukunftsfeld der Wirtschaft verbandlich zu arrondieren, in der BDI-Chefetage mit Argusaugen beobachtet. Denn auch dem BDI ist klar, dass er "als Spitzenverband der klassischen Industrien nur noch 33 Prozent der nationalen Bruttowertschöpfung repräsentiert, und das mit abnehmender Tendenz." Offenbar ist es aber gelungen den künftigen Spitzenverband der Informationswirtschaft BITKOM dem BDI als 35. Mitgliedsverband zuzuführen.

Konsequenzen und Perspektiven der etablierten Wirtschaftsverbände
Der Bundesverband der Deutschen Industrie und andere wirtschaftliche Spitzenverbände werden sich in Zukunft nach Ansicht der Autorin dem Zwang offener oder verdeckter Firmendirektmitgliedschaften nicht entziehen können. Dass man auf diesem Wege bereits weiter vorangeschritten ist, als dies manche Branchenverbände wahrnehmen, illustriert die Autorin anhand der am 1. April 1998 gegründeten "Arbeitsgemeinschaft Telekommunikation und Multimedia im BDI". Die Arbeitsgemeinschaft, die den Kern für einen neuen Branchenverband schaffen soll, wird im BDI von der Abteilung "Verkehrs- und Telekommunikationspolitik" betreut. Anders als der Vorgängerarbeitskreis wird die Arbeitsgemeinschaft allerdings durch Unternehmensdirektmitgliedschaften getragen. Es sind im wesentlichen vier Unternehmen, die die Finanzierung übernommen haben: Bertelsmann AG, Mannesmann AG, VEBA AG und die Deutsche Telekom AG: Weder die Bertelsmann AG noch die Deutsche Telekom AG sind in einem Branchenverband des BDI Mitglied. Wie schon der Asien-Pazifik-Ausschuss der deutschen Wirtschaft besitzt auch die Arbeitsgemeinschaft Telekommunikation und Multimedia im BDI keine eigene Rechtspersönlichkeit; Beiträge der finanzierenden Unternehmen werden daher von der BDI-eigenen Industrie-Förderungs Gesellschaft mbH verwaltet. Falls es am 1. Januar 2000 zur Gründung des "Bundesverbandes Informations- und Kommunikationswirtschaft e.V." kommt, soll dieser, so eine Überlegung, 35. Mitgliedsverband des BDI werden. Hierzu haben sich sieben Gründungsmitglieder zusammengefunden. Ein Streitpunkt ist allerdings die vorgesehene Selbstauflösung der Gründerverbände zugunsten von Unternehmensdirektmitgliedschaften. Da der Verband für Anbieter von Telekommunikations- und Mehrwertdiensten (VATM) keine Selbstauflösung will, um seine Identität als Zusammenschluss der Telekom-Konkurrenten zu bewahren, wird die Mitgliederstruktur des möglichen 35. Branchenverbandes des BDI vermutlich aus Direkt- und Verbandsmitgliedern bestehen. Für den VDMA und den ZVEI bedeutet dies eine "verlustträchtige Entwicklung", da sie Teile ihrer eigenen Verbandsstruktur zugunsten des neuen Bundesverbandes aufgeben müssen, der zudem in Zukunft in "machtpolitischer Konkurrenz" zu dem eigenen Verband stehen wird.

Pikant in diesem Zusammenhang ist die Vermutung der Autorin, dass bei der gescheiterten Fusion von VDMA und ZVEI der BDI Regie geführt haben könnte. Burgmer: "Danach sei die Fusion von VDMA und ZVEI verhindert worden durch jene Absprachen am Rande des Treffend des Marienburger Gesprächskreises vom 3. Dezember 1997 (bei dem die Schaffung der Arbeitsgemeinschaft Telekommunikation und Multimedia im BDI vereinbart worden war). Richtig ist, dass mit der bevorstehenden Gründung des BVIK und seiner Aufnahme in den BDI als 35. Branchenverband ein jahrelanges Tauziehen um diese Zukunftsbranche zugunsten des BDI und zuungunsten des VDMA, vor allem aber des ZVEI zu Ende gehen wird. Richtig ist auch, dass die Motivation für eine Fusion durch das bevorstehende Herauslösen des gemeinsamen Fachverbandes Informationstechnik im VDMA und ZVEI und des Fachverbandes Kommunikationstechnik im ZVEI zugunsten des zukünftigen BVIK deutlich geringer geworden ist, liegen doch genau in diesem zukunftseisenden Bereich wesentliche Synergieeffekte. Richtig ist des weiteren, dass mit der geplanten Fusion von VDMA und ZVEI ein Branchenspitzenverband entstanden wäre, dessen dominierende Stellung innerhalb des BDI unmittelbar zu neuen machtpolitischen Gewichtungen in den BDI-Gremien geführt hätte." Und die Autorin fügt hinzu: "Und richtig ist schlieslich, dass der BDI sowohl in Pekuniäre als auch in machtpolitischer Hinsicht von dem Nichtzustandekommen der Fusion profitiert."

Fairerweise sollte jedoch hinzugefügt werden, dass auch die offizielle Lesart der gescheiterten Fusion Plausibilitätsgründe für sich geltend machen kann: Danach waren für das Scheitern im wesentlichen die unterschiedlichen Mitglieder- und Beitragsstrukturen von VDMA und ZVEI ursächlich. Der VDMA vertritt hauptsächlich mittelständische Unternehmen, während der ZVEI von den Groskonzernen dominiert wird. Desgleichen versteht sich der ZVEI in erster Linie als politischer Lobbyist, während die VDMA sich als Serviceeinrichtung für die mittelständischen Maschinenbauer sieht. Aus Kreisen des ZVEI wurde zudem immer wieder geltend gemacht, dass es den eigenen Mitgliedern nicht zuzumuten sei, nach einer Fusion mit der VDMA zu einem erheblichen Teil die mittelständischen Unternehmen des VDMA mitzufinanzieren.

Verbandsfusionen
Im Blick auf den raschen Wandel der Umwelt wird die Zahl der Verbandszusammenschlüsse in Zukunft ansteigen. Dies entspricht auch der Erwartung der Unternehmen, wie sie in der Ifo-Umfrage aus dem Jahre 1997 deutlich wurde. Auf die Frage, ob es auf Bundesebene zu viele Spitzenverbände gäbe, antworteten 80 Prozent der befragten Unternehmer mit Ja und lediglich 12 Prozent mit Nein. Ob dies jedes Mal zu einer Verschmelzung der bisherigen Verbände oder nur zu einer engeren Kooperation unter Nutzung von Synergieeffekten führt, lässt sich derzeit noch nicht abschätzen. Allgemein wird erwartet, dass der Umzug nach Berlin den Fusions- und Kooperationsdruck erhöhen wird. So werden BDI, DIHT und BDA den Umzug nutzen, um das gemeinsame "Haus der deutschen Wirtschaft" in Berlin zu beziehen. Der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) wird mit der Bundesvereinigung der Fachverbände des Deutschen Handwerks (BFH) und dem Deutschen Handwerkskammertag (DHKT) wie schon in Bonn auch in Berlin ein "Haus des deutschen Handwerks" beziehen.
Auch der Bundesverband des deutschen Gros- und Ausenhandels (BGA) zieht mit dem Hauptverband des deutschen Einzelhandels (HDE), der Bundesarbeitsgemeinschaft der Mittel- und Grosbetriebe (BAG), dem Bundesverband der Filialbetriebe und Selbstbedienungswarenhäuser (BFS) sowie dem Bundesverband der Automatenunternehmer, dem Bundesverband des deutschen Holzhandels, der Centralen Vereinigung deutscher Wirtschaftsverbände für Handelsvermittlung und Vertrieb (CDH) und dem Deutschen Hotel- und Gaststättenverband (DEHOGA) in ein gemeinsames "Haus des Handels". Im Handelsbereich werden für die nähere Zukunft weitergehende Zusammenschlüsse erwartet. Gleiche Entwicklungen kann man auch in den Nachbarländern beobachten: So sind in den Niederlanden seit der Fusion der Vereniging van Nederlandse Ondernemers (VNO) und der Nederlandse Christelijke Werkgevers (NCW) jetzt sogar Handel, Banken, Versicherungen, moderne Dienstleister, die Industrie und auch die Arbeitgeber in einem Verband zusammengeschlossen. Damit sollte ihre "nationale Schlagkraft für Europa optimal gebündelt werden".

European Round Table
Der gestiegene Einfluss groser Unternehmen in der europäischen Interessenvertretung spiegelt sich in der Einrichtung von sogenannten "Runden Tischen" wider, die seit Anfang der achtziger Jahre von sich reden machen. Die beiden wichtigsten sind der European Round Table of Industrialists (ERT) und der European Information Technology Industry Round Table (EITIRT). Der ERT ist 1983 vom damaligen Vorstandsvorsitzenden des Volvo-Konzerns geschaffen worden und umfasst heute 44 Vorstandsvorsitzende europäischer Industriekonzerne unterschiedlicher Branchen aus 17 europäischen Ländern. Hintergrund der damaligen Schaffung des Runden Tisches war der Eindruck, dass im Bereich der Grosindustrie das Gefühl vorherrschte, durch den europäischen Industrieverband UNICE im Hochtechnologiesektor nicht adäquat vertreten zu sein. Die Top-Level-Struktur des ERT verschafft ihm den direkten Zugang zu allen wichtigen Entscheidungsträgern in der Europäischen Union. Auf ihn ist letztlich das Binnenmarktprogramm von Jacques Delors zurückzuführen, das Bestandteil der Einheitlichen Europäischen Akte geworden ist. Der ERT gilt heute als der mächtigste und einflussreichste Zusammenschluss europäischer Industrieinteressen. Da die persönlichen Referenten der Vorstandsvorsitzenden in den entsprechenden Gremien der UNICE mitarbeiten, wird heute das Verhältnis von ERT und UNICE eher als sinnvolle Symbiose gesehen. Dass damit der Einfluss der nationalen Verbände in der UNICE gleichzeitig geschwächt wird, liegt naturgemäs auf der Hand.

Ebenfalls im Jahre 1983 gegründete der damalige Industrie- und Forschungskommissar Etienne Davignon den ESPRIT-Round Table, der im Jahre 1987 in den European Information Technology Industry Round Table (EITIRT) mutierte. Heute befasst sich dieses Gremium in erster Linie mit handelspolitischen Grundsatzfragen und mit der Liberalisierung der Telekommunikationsmärkte. Ziel ist der Abschluss eines sogenannten Information-Technology-Agreements (ITA). Hierzu werden enge Kontakte mit dem Europäischen Spitzenverband der Metallindustrie unterhalten. Obwohl der BDI ursprünglich die Einrichtung der Runden Tische eher ablehnte, wird heute die Zusammenarbeit freundlicher beurteilt. Der komplementäre Nutzen solcher Einrichtungen liegt nach Ansicht des BDI auf der Hand.
 
Neue Konkurrenten für Verbände
Den industriellen Branchenverbänden entstehen zunehmend Wettbewerber in Form von Rechtsanwaltskanzleien und Beratungsunternehmen, die Lobbyfunktionen und beratende Aufgaben für die Unternehmen wahrnehmen. Insbesondere auf Brüsseler Ebene mit ihrem "Klientelismus" sind diese Agenturen dauerhaft oder projektbezogen für Unternehmen tätig. So hat der Europäische Verband der Spielzeugindustrie seine gesamten Verbandsleistungen an ein Beratungsunternehmen delegiert.
Von den Verbänden meist noch nicht wahrgenommen, entwickeln sich auch die "neuen Medien" mit ihren aktuellen Informationsangeboten und Recharchemöglichkeiten in Datenbanken zu Wettbewerbern von Verbänden. Denn neben den Vertretungs- und Beratungsleistungen waren und sind die Informationsleistungen ein wesentliches Feld der Verbandsarbeit.

Nach Auffassung der Autorin können die alternativen Anbieter letztlich jedoch nicht die traditionellen Verbände verdrängen, weil sie lediglich Teilfunktionen erfüllen. Die komplexer werdende Umwelt erfordert mehr als ein nur partikulares Lobbying und eine firmenindividuelle Beratung; sie fordert die umfassende Partizipation dauerhaft organisierter Interessen, so dass auch in Zukunft Verbände einen festen Platz im demokratischen Gefüge Deutschlands einnehmen werden.
Entscheidend für den künftigen Erfolg der Verbände ist nach Burgmers Ansicht die Einrichtung eines Mechanismus zur permanenten "Adjustierung" der Verbandsleistungen an die wechselnden Bedürfnisse der Mitglieder. Sie schlägt hierzu eine Art "Ombudsmann" vor, das eine nicht mehr im aktiven Wettbewerb stehende, verbandserfahrene Persönlichkeit sein könne, die wie ein Seismograph auf frühe Unzufriedenheitsprozesse reagieren könne und damit ein wertvoller Ratgeber für die laufende Verbandsarbeit sein könne.

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Autor/in

Helmut Martell

ist Rechtsanwalt. Helmut Martell war Gründungsvorsitzender der DGVM und zwanzig Jahre ihr Stellvertretender Vorsitzender. Von 1997 bis 2014 fungierte er als Herausgeber des Verbändereport.

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