Aus alldem resultiert die Notwendigkeit der Entwicklung variabler europäischer lobbyistischer Mehrebenensysteme, welche diese Struktur- und Entscheidungsprobleme antizipieren und situationsgerecht den jeweils adäquaten Ansatzpunkt zur Einflussnahme erkennen. Daraus sind folgende Handlungsmaximen ableitbar:
- Jeder nationale Verband muss heute mit einer eigenen Repräsentanz in Brüssel Flagge zeigen, da der derzeitige Vergemeinschaftungsgrad der EU nicht zementiert ist, sondern in Zukunft stetig fortschreiten wird; jedes organisierte Interesse wird daher à la longue vor der Notwendigkeit stehen, mit entscheidungsbefugten Gemeinschaftsorganen kommunizieren zu müssen.
- Um frühzeitig erkennen zu können, ob in Politikfeldern mit ergänzender Zuständigkeit eine europäische Regelung absehbar ist, ist eine solche Präsenz ebenfalls unabdingbar: Denn je nach Beantwortung dieser Frage hat sich ein nationaler Verband auf die lobbyistische Einflussnahme in Brüssel - und dies konzertiert mit dem eigenen europäischen Dachverband und den anderen nationalen Vereinigungen - einzustellen oder auf das traditionelle nationale Lobbying.
- Gerade kleine nationale Vereinigungen können und sollten dabei die Chancen stellvertretender Interessenwahrnehmung durch Public-Affairs-Agenturen in Brüssel nutzen, welche den Aufbau einer eigenen teuren Geschäftsstelle oft überflüssig machen, trotzdem aber einen guten lobbyistischen Wirkungsgrad erzielen.
- Auch die Arbeit der europäischen Verbände stellt dies vor große Herausforderungen. Denn nicht nur das allgegenwärtige Problem schwieriger Konsenssuche unter Mitgliedsorganisationen aus derzeit 15 Staaten ist zu bewältigen, sondern auch die effektive Konzertierung supranationaler und nationaler Interessenvertretung: Denn mit der Verabschiedung europäischer Richtlinien ist der Rechtsetzungsprozess noch nicht abgeschlossen, sondern wird erst durch die Formulierung nationaler Anpassungsgesetze in den Mitgliedstaaten geltendes Recht; lobbyistisches Monitoring ist auch in diesem finalen Stadium nicht unwichtig, um durch Beeinflussung des Gesetzestextes eventuell nötige Feinkorrekturen bewirken zu können.
- Das Konzert aus nationalen Mitgliedsverbänden und europäischer Spitzenorganisation muss flexibel genug sein, um sich auf die verschiedenen Entscheidungssituationen variabel einstellen zu können: Ist der Erlass einer europäischen Regelung absehbar, muß eine kurzfristige Effektivierung der innerverbandlichen Kooperation und die Formulierung eines gemeinsamen Standpunkts gegenüber Kommission, Parlament und Rat möglich sein; ist aber das Gegenteil zu erwarten, muß die europäische Spitzenorganisation die lobbyistische Federführung ihren nationalen Mitgliedern überlassen und das Fortbestehen spezifischer nationaler Regelungen akzeptieren.
- Schließlich ist bei der konkreten lobbyistischen Arbeit in Brüssel darauf zu achten, die eigenen Kontaktnetzwerke möglichst flächendeckend zu strukturieren. Sicherlich sind die federführende Generaldirektion der Kommission und der für sie zuständige Kommissar mit seinem Kabinett erste Adresse; gerade aber die geschilderte Machtdynamik des Europäischen Parlaments macht es unumgänglich, die zuständigen Parlamentarier in jedem Falle einzubinden: Formale parlamentarische Entscheidungskompetenzen weichen oft sehr von den faktischen ab, und im Regelfall sind diese Kompetenzen größer als zunächst erwartet.
- Erfolgreiche Interessenvertretung im europäischen Mehrebenensystem ist die mit 6,0 Punkten bewertete lobbyistische Kür, um einen Vergleich zum Eiskunstlauf zu ziehen: Selten wird dieser Score erreicht, und aus den genannten Gründen können auch altgediente Verbandsfunktionäre hier mit einer Wertung von 5,7 durchaus zufrieden sein. Zieht man den Vergleich zur nationalen lobbyistischen Praxis, mutiert letztere nachgerade zum Pflichtprogramm: Sie ist durch vergleichsweise klare Kompetenzverteilung der Verfassungsorgane wesentlich besser planbar, durch vergleichsweise homogene nationale Interessen besser konzertierbar und durch überschaubarere Netzwerke auch besser zu steuern.
- Um im Bilde zu bleiben: Im Eiskunstlauf folgt die Kür der Pflicht, und auch für den anspruchsvollen Beruf des Interessenvertreters liegt ein solcher Karriereparcours nahe: Erst nach dem Erlernen des nationalen lobbyistischen Handwerkszeugs und dem Erwerb des Gesellenbriefs sollte man sich auf die Ablegung der europäischen Meisterprüfung vorbereiten.