Verbändereport AUSGABE 7 / 2000

Europäische Integration und das deutsche Verbändesystem

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Unter dem Titel Auswirkungen der europäischen Integration auf das deutsche Verbändesystem hat Dr. Hans-Walter P. Schloz eine Dissertation vorgelegt, die trotz ihres Erscheinungsjahrs 1994 auch heute noch aktuelle Thesen und Gesichtspunkte enthält. Die 352 Seiten umfassende Arbeit kann in der Dr. Neinhaus Verlag AG, Wollgrasweg 31, 70599 Stuttgart (Fax 0711-45 66 03) bezogen werden. Verbändereport stellte Auszüge aus der Zusammenfassung des Autors in Ausgabe 7/2000 zur Diskussion.

Die Rolle der Interessenverbände
Die Interessenverbände spielen für die Europapolitik eine grose Rolle. Noch stärker als auf der nationalen Ebene ist der Sachverstand der Verbände und deren Kommunikationsmöglichkeiten in Brüssel gefragt. Schon allein das Verhältnis von 7.000 Lobbyisten zu rund 14.000 Kommissionsbeschäftigten zeigt, welche Bedeutung die Interessenorganisationen in Brüssel geniesen. Gerade gegenüber der Kommission als der entscheidenden EG-Behörde fungieren die Verbände als wichtige Informationslieferanten und "Willensbildner". Nicht immer sind die Referate in der EG-Kommission mit den entsprechenden Fachleuten besetzt, wie dies üblicher Weise bei den Bundes- und Landesministerien der Fall ist. Aus diesem Grunde liefern die Interessenverbände für die Kommission wichtiges Fach- und Sachwissen. Trotz eines Europäischen Parlaments ist die Willensbildung der europäischen Politik weitgehend dem EG-Bürger und den Parteien entzogen; das gewählte Parlament verfügt nur vergleichsweise geringe politische Gestaltungsmöglichkeiten. Der Europäische Rat und der Ministerrat sowie die Kommissionen sind die eigentlichen "Machtzentren", in denen die Entscheidungen fallen.

Insofern dienen die Verbände als wichtige Informations- und Kontaktschienen zu den EG-Bürgern. Anfänglich und in verschiedenen Phasen der Integration waren dies auch nationale Verbände, heute sind es vorwiegend die Euro-Verbände sowie die Brüsseler Büros der nationalen Verbände.

Es ist verständlich, wenn sich die Kommission lieber mit Interessen konfrontiert sieht, die bereits durch verschiedene Verbandsebenen "gefiltert" und gebündelt ankommen. Allerdings steht die Bündelung verschiedener Interessen der Lieferung konkreten Sachverstands und konkreter Stellungnahmen entgegen. Werden viele Interessen in einem grosen Verband gebündelt, kann es hierdurch oftmals nur noch zu allgemein-politischen Stellungnahmen oder Bitten um Ablehnung von Initiativen kommen

Einflussmöglichkeiten
Die Einflussmöglichkeiten der nationalen Interessenorganisationen in Brüssel, sei es bei der Kommission oder beim Ministerrat, schwinden oder nehmen mit dem Einflussverlust einzelner Mitgliedsregierungen im Rat ab. Auch die neuen Diskussionen um die Stimmenverhältnisse und notwendigen Mehrheiten im Europäischen Rat zeigen, dass man den Einfluss einzelner oder weniger EU-Mitglieder weiter verringern möchte. Das bedeutet, dass aus der Sicht der nationalen Verbände die Möglichkeiten, über die eigene Regierung den Rat oder die Kommission zu beeinflussen, tendenziell geringer werden.

Verhältnis Staat / Interessenorganisation
Die nicht selten gleichgelagerten Interessen der nationalen Verbände und deren Regierungen haben auch in Deutschland dazu geführt, dass sie in vielen Fragen Partner geworden sind. So ist auf der Seite der Politik und der Ministerien, aber auch auf Seiten der Verbände zu hören, dass sich aus dem traditionellen "Gegenüber" von Staat und Verbänden eine Art Partnerschaft in vielen Fragen entwickelt habe. In vielen Fällen unterstützt man sich gegenseitig mit Informationen, mit Kontakten und in Ausnahmen auch mit Ressourcen aller Art. Dieses partnerschaftliche Verhältnis hat sich nicht nur gegenüber den Bundesverbänden und Bundesbehörden entwickelt, sondern auch auf Länderebene. In allen Fällen dienen die Länderbüros in Brüssel nicht nur der Landesregierung als Kontaktstelle, sondern auch den Landesverbänden und der Wirtschaft in den einzelnen Bundesländern.

Lobbying
Das Lobbying deutscher Verbände hat sich in weiten Teilen insofern verändert, als die Adressaten der Verbandsinteressen nicht mehr nur auf staatlicher Seite zu suchen sind. Für die deutschen Wirtschaftsverbände sind die europäischen Dachverbände ebenso zu Adressaten ihrer Interessenpolitik geworden. Da vor allem bei den Wirtschaftsverbänden die europäischen Verbandsstrukturen relativ weit gewachsen sind und der Einfluss der Bundesregierung über den Rat schwächer geworden ist, sind die deutschen Verbände gezwungen, durch geeignetes "Lobbying" in ihrem Euro-Verband die Interessen der deutschen Mitglieder wirksam einzubringen.

Problem der "Kompatibilität"
Nicht nur für deutsche Verbände hat sich im Rahmen der europäischen Verbandsentwicklung relativ ein Problem gezeigt: Nicht für alle Wirtschaftssparten, die sich in Deutschland auf verbandlicher Ebene organisiert haben, fand sich für den deutschen Wirtschaftsverband ein geeigneter Euro-Verband oder geeignete Schwesterverbände in anderen EU-Staaten.

Auch wenn sich für die industriell orientierten Fachverbände relativ bald Partnerorganisationen für einen Euro-Fachverband finden ließen, haben auch heute noch zahlreiche Wirtschaftsverbände Schwierigkeiten, sich einem Euro-Verband anzupassen, der zum Teil mehrere Branchen in sich vereinigt. Besonders diffus sind hier die europäischen Mittelstandsorganisationen strukturiert.

Deutscher Verband wird zum Euro-Verband
Für einige deutsche Wirtschaftsverbände stellte sich wegen fehlender Euro-Verbände oder wegen zu geringer Berücksichtigung deutscher Interessen die Aufgabe, aufgrund der eigenen führenden Marktstellung der deutschen Branche in der EU einen eigenen europäischen Verband aufzubauen. Auch wenn die Kommission mindestens drei Verbände aus verschiedenen europäischen Ländern als Mitglied zur Anerkennung eines europäischen Verbandes vorsieht, ist es doch zahlreichen deutschen Verbänden gelungen, durch die Mitgliedschaft ausländischer Unternehmen im deutschen Verband die eigene Bedeutung des Verbandes auf ein europäisches Niveau so zu heben, dass der Zugang zu den EG-Organisationen ermöglicht wurde.

Der EG-Behörden ist zudem die konstruktive Lieferung von Detailsachverstand wichtiger als allgemeine Erklärungen oder Stellungnahmen von Großverbänden. Aus diesem Grunde ist es einigen Bundesverbänden mit europäischer Unternehmensmitgliedschaft gelungen, ein gefragter Partner in Brüssel zu werden.

Die besten Einflussmöglichkeiten hat aber immer noch ein europäischer Fachverband für eine Branche mit schnellen Entscheidungswegen, einheitlicher Willensbildung, hohem Sachverstand und hohem Organisationsgrad.

Kräftebündelung und Einfluss
Deutsche Verbände haben erkannt, dass sie in Europa stärker präsent sein müssen, um im europäischen Verband oder gegenüber EG-Stellen Gehör zu finden. Auch stellt der finanzielle Bedarf für europäische Aktivitäten deutsche Verbände vor die Notwendigkeit, auf deutscher Ebene enger zusammen zu arbeiten, um so an Bedeutung zu gewinnen.
Das sich bereits abzeichnende Ende der Ausdifferenzierung des bundesdeutschen Verbandswesens wurde durch diese Faktoren begünstigt und beschleunigt. So ist zu beobachten, dass immer mehr Verbände verwandter Branchen enger zusammenrücken. Mit anderen Worten, es findet keine horizontale Arbeitsteilung statt.

Faktoren für die verbandliche Ausdifferenzierung
In den Wirtschaftsverbänden werden für die verbandliche Differenzierung vor allem Veränderung der Produktionsstrukturen und die Betriebsgröße der Mitglieder maßgeblich sein. Die Abgrenzung nach Brancheninteressen wird sich insofern abschwächen, als die branchenübergreifenden Fragen in wirtschaftlicher und technischer Hinsicht immer stärker produktionsbedingt vernetzt werden. Zudem vereinigen sich immer mehr Branchen und Produktionszweige innerhalb einzelner Konzerne.

Die Ausdifferenzierung des Verbandssystems in der Bundesrepublik Deutschland hat heute schon seinen Höchststand überschritten. Künftig wird man sich auf Grund der neuen europäischen Dimension des Verbandswesens auf stärkere Organisationen besinnen müssen, um nicht an Schlagkraft anderen Verbänden im europäischen Ausland nachzustehen. Dies bedingt ein hohes Maß an Disziplin und "Neuorganisation"; allerdings ist die Ausgangssituation für bundesdeutsche Verbände nicht schlecht: "Tatsächlich unterscheidet sich das Verbandswesen der Bundesrepublik von dem vieler westlicher Länder durch sein hohes Maß an Konzentration und Integration." (Manfred Groser, Verbände im vereinigten Deutschland, Sonde, 25. Jahrgang, Seite 23). Zudem ist das bundesdeutsche Verbandswesen durch eine weitgehend saubere Abgrenzung der Sektoren und einheitlicher Regelungen im Arbeits- und Sozialsystem sehr übersichtlich strukturiert.

Bedeutung der Betriebsgröße nimmt zu
Die Betriebsgröße als wesentlicher Gesichtspunkt für die unterschiedlichen Interessenslagen in Verbänden gewinnt durch die europäische Integration an Bedeutung. Die Geschwindigkeit der Verbändeintegration im Bereich der Wirtschaft wird zunächst einmal von der Orientierung auf den Markt abhängen. So waren auf den Verbandskongressen zu den europäischen Verbandsstrategien alle beteiligten Verbandsvertreter einhellig der Auffassung, dass die Industrie mit ihren Fachverbänden vorwiegend Detailinteressen für die Produktion in europäischen Fachverbänden vertritt, während der Mittelstand mit vorwiegend regionaler Marktausrichtung die regionale und nationale Zusammenarbeit branchenübergreifend suchen wird.

Während die Industrie mit internationaler Ausrichtung ihr Gewicht auf die Vertretung von Detailinteressen (beispielsweise Normung) legen wird, haben viele mittelständische Betriebe ein großes Interesse an der Sicherung ihres regionalen Marktes und an Hilfestellungen ihrer Verbände.

So stehen bei den Mittelstandsorganisationen die Dienstleistungen im Mittelpunkt. Diese Verbände sind nicht selten Profit-Organisationen, die in Form von Arbeitsteilung innerhalb der Mitgliedschaft Aufgaben übernehmen, mit denen der einzelne Mittelstandsbetrieb überfordert wäre. Hierzu gehören Analysen der Märkte und der Betriebsstrukturen sowie Informationen über europäische Entwicklungen und die Beratung bei konkreten Problemlagen.

Zukunft der Spitzenverbände
Die Problemfelder und Interessenlagen bei Handel, Handwerk und Kleingewerbe liegen zum Teil sehr viel näher bei einander als bei der Industrie. Aus diesem Grunde tun sich deutsche und europäische Spitzenverbände dieser Gewerbe leichter bei der Zusammenfassung aller Mitgliederinteressen als die Spitzenverbände der Industrie.
Europäische und deutsche Spitzenverbände hatten in der Vergangenheit erhebliche Identifikationsprobleme, weil sie es versäumt hatten, rechtzeitig ein leistungsfähiges Dienstleistungszentrum aufzubauen, das die Mitglieder an den Verband bindet.

Der gemeinsame "Nenner" auf europäischer und nationaler Ebene
Allgemein lässt sich feststellen, dass Wirtschaftsinteressen leichter auf einen Nennen zu bringen sind als vielschichtige Arbeitnehmer- und Sozialinteressen. Vor allem für Verbände mit Tariffunktionen wird die Integration des europäischen Verbandswesen mit weitreichenden Strukturveränderungen verbunden sein. Gerade die deutschen Arbeitgeber und Gewerkschaften haben Schwierigkeiten, mit entsprechenden Organisationen in anderen EU-Ländern Gemeinsamkeiten zu finden, da die Arbeits- und Sozialsysteme in der EU oft zu unterschiedlich sind.

Dennoch werden sowohl die Verbände des Arbeits- und Sozialbereichs als auch die Mittelstandsverbände sich langfristig schwer tun, nationale Spezifika aufrechtzuerhalten und diese Interessen in Brüssel direkt vorzubringen. Gleichzeitig wird es für die mittelständischen Wirtschaftszweige nicht leicht sein, europäische Verbände für diese Wirtschaftszweige aufzubauen.

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