Verbändereport AUSGABE 1 / 2003

Globale Probleme – Regionale Interessenverbände?Ist das Verbändesystem für die internationale Verflechtung gerüstet?

Ist das Verbändesystem für die internationale Verflechtung gerüstet?

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Wer sich vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden globalen Entwicklungen der Weltwirtschaft mit dem Verbändewesen beschäftigt, muss sich der historischen Ausgangslage vergewissern, um abschätzen zu können, welche institutionellen Entwicklungen auf die wirtschaftlichen wie sozialen Verbände zukommen.

Wer sich mit der Entstehung und dem Wandel der europäischen Geschichte beschäftigt, stellt fest, dass die Ordnung der Institutionen und die damit eintretende Verrechtlichung des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens erst um die erste Jahrtausendwende mit der Herrschaft Karls des Grosen einsetzte. Die autokratische Herrschaft des Mittelalters stützte sich auf die bipolare Herrschaft von Königtum und Kirche und wurde masgeblich bestimmt von der dialektischen Spannung zwischen weltlicher und geistlicher Macht, die dem Individuum in ihrem jeweiligen Herrschaftsbereich einen festen und damit abgegrenzten Platz im Gefüge der Ordnung zuwies.

Die feudale Ordnung bezog ihre Legitimation auserhalb der konkreten Lebenswirklichkeit. Die geistig-kirchliche Herrschaft war und ist bis heute im neutestamentarischen Sendungsauftrag begründet. Die weltliche Macht hat ihre tiefen Wurzeln im Königtum, das erst in der Neuzeit einer verfassungsmäsigen Bestätigung bedurfte. Nicht ohne Grund also war bis in den Beginn des 20. Jahrhunderts das „Gottesgnadentum“ ein fester Bestandteil der Herrschaftsvorstellung und von der Ordnung der Welt. Individuelle Macht wurde in beiden Ordnungsbereichen aus übergeordneter Herrschaft begründet und von dieser abgeleitet. Bis in die Neuzeit hinein war die individuelle Macht und auch die Macht von Gruppen auf Zeit verliehen und sehr spät vererbbar, insbesondere dort, wo politische Macht an Grundeigentum oder finanziellen Reichtum gebunden war. Erst mit dem Rückzug der Aristokratie aus den Städten des Mittelalters gruppierten sich neue Machtpotenziale auserhalb der tradierten, aristokratischen Herrschaft. Die Ordnungen der Stände und Zünfte, der Gilden und Stämme waren existenzielle Organisationen der Selbstverteidigung und Rückversicherung gegen den Totalitätsanspruch politischer Herrschaft. Erst mit der französischen Revolution geriet diese hier nur kurz umrissene Ordnung politischer Herrschaft ins Wanken. Erst stürzten die Königshäuser ein und dann auch die Stände, Zünfte und Gilden, weil ihnen der Gegenpol ihrer existenziellen Grundlage und ihrer Begründung verloren ging.

Das Individuum auf der einen Seite, die Nation auf der anderen Seite, das waren die beiden Pole des individualistischen Gesellschaftsmodells der französischen Revolution. Die Idee des sich-selbst-bestimmenden, selbstverantwortlichen Bürgers, das Prinzip der Gleichheit aller vor dem Recht verlangten nach der Schaffung eines Freiraumes, nach der Zerstörung der alten politischen Ordnung und der alten wirtschaftlichen Zwänge und Einrichtungen. Freier Wettbewerb war die Parole einer Weltvorstellung, die von dem Wechselbad von Aktion und Reaktion gekennzeichnet war.

Eine liberale Wirtschaftsgesellschaft entsteht, orientiert am Konkurrenz- und Marktprinzip. Der frische Wind der neugewonnenen Freiheit schlägt dem „zunftlosen Gesellen“ ins Gesicht; der plötzlich selbstständige Geselle und Bürger findet sich der Konkurrenz und dem Wettbewerb ausgesetzt; der von der ständischen Herrschafts- und Sozialordnung befreite Bauer muss das graue Kleid des Proletariers anziehen; der „befreite Bürger“, der „Citoyen“ verliert die Sicherheit der feudalen Ordnung.

Dem wirtschaftlichen Liberalismus, der wettbewerblichen Wirklichkeit, entspricht eine Neuordnung des Staates, die seinerseits der rechtlichen und dann verfassungsmäßigen Regulierung unterworfen wird. Mit der modernen Verfassungsgebung erobert der Bürger das Mandat zur Legitimation von Herrschaft. Nunmehr stehen sich Bürger und Staat gegenüber. Staatliche Macht verliert zunehmend ihre metaphysische Legitimationsgrundlage. Politische Herrschaft provoziert den Zusammenschluss der Bürger gegen die Übermacht des Staates. Es ist die Geburtsstunde der Interessenvereinigungen und -verbände unserer modernen Wirklichkeit.

Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts bilden sich die Grundlagen für ein bipolares Herrschaftsmodell. Herrschaft der Demokratie und Herrschaft der Verbände sorgen für eine neue Zuordnung des Individuums in ihrer jeweiligen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Existenz und Rolle. In der modernen Verfassungsgeschichte kommt es dann zu einer Abgrenzung von politischer Macht und gesellschaftlicher Macht. Mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland wird den Koalitionen und Verbänden eine eigenständige Freiheitsgarantie, ein positives wie negatives Koalitionsrecht verliehen.

Hiermit wird zugleich deutlich, dass wir von nationaler Geschichte sprechen und keineswegs von einer weltweit sich gleichermaßen vollziehenden Entwicklung, so dass die These erlaubt ist: Wo keine Demokratie herrscht gibt es auch keine freie Bildung der Koalitionen und Verbände. Dies heißt zugleich, dass der globalen Betrachtung des Verbändewesens deutliche Grenzen gesetzt sind.

Wenn es auch die Globalisierung der weltwirtschaftlichen Beziehungen schon seit der modernen industriellen Entwicklung gibt, gibt es sie keineswegs in der Angleichung der verfassungsmäßigen Ordnungen. Nach wie vor stehen Demokratien und Marktwirtschaften autokratischen, diktatorischen Regimen gegenüber, die der grenzübergreifenden, freiheitlichen Kooperation der gesellschaftlichen Organisationen und Verbände deutliche Grenzen setzen.

Parteienherrschaft und Verbändeherrschaft
Mit der Industrialisierung wurde der ständischen Gesellschaft der Todesstoß versetzt. Der liberale Staat und die liberale Wirtschaftsordnung setzten neue, ungeahnte Energien frei. Politische Macht auf der einen Seite und neue wirtschaftliche Macht auf der anderen Seite formierten ihre Bataillone. Die politische Allmacht des allesbeherrschenden Staates wurde zum Rückzug gezwungen. Die politischen Parteien traten auf den Plan und drangen Schritt für Schritt in den Kernbereich politischer Herrschaft vor. Der Staat auf der einen Seite und die Gesellschaft auf der anderen Seite rufen beiderseits nach einer Neuordnung der Institutionen.

Parteienherrschaft und Verbändeherrschaft sind die Signaturen eines
Machtverteilungsmodells, das den Staat auf seine Ordnungsfunktion beschränkt
und dem pluralistischen Korporatismus eine neue Entfaltungsmöglichkeit
eröffnet

Die politischen Eliten und ihre Organisationen stehen plötzlich einer Wirtschaftsgesellschaft gegenüber, die ihrerseits von den Faktoren Kapital und Arbeit bestimmt wird. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts spaltet sich die Wirtschaftsgesellschaft in wirtschaftliche Macht auf der einen Seite und soziale Macht auf der anderen Seite auf. An die Stelle der Zünfte und Gilden treten auf der einen Seite die sozialen Verbände und Gewerkschaften und auf der anderen Seite die Verbände der Großindustrie, der mittelständischen und handwerklichen Organisationen. In dem gleichen Maße, in dem der Staat seinen Allmachtsanspruch aufgeben muss, drängen die wirtschaftlichen und sozialen Verbände in die entstehenden Machtvakuen ein. Staat, Wirtschaft und Gesellschaft stehen sich entweder als Konkurrenten oder als Vertragspartner gegenüber.

Parteienherrschaft und Verbändeherrschaft sind die Signaturen eines Machtverteilungsmodells, das den Staat auf seine Ordnungsfunktion beschränkt und dem pluralistischen Korporatismus eine neue Entfaltungsmöglichkeit eröffnet. Die „Konzertierte Aktion“ und das „Bündnis für Arbeit“ sind Ausdruck eines politischen Modells, das den Staat zum Vertragspartner gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und sozialer Organisationen machen soll. Ob dieses politische Modell zukunftsfähig ist, ist unter heutigen Gegebenheiten mehr als offen. Sollte sich erweisen, dass der Staat vor den großen Reformen versagt, wird dieses Regelungsmodell keine weitere Zukunft haben. Sollte der Einzelne von dem Staatsversagen in seiner unmittelbaren Existenz bedroht werden, wird er nach einem neuen politischen Modell der Herrschaft rufen und sich aus existenziellem Interesse aus der sozialen Zuordnung befreien, von der hier die Rede ist. Von „Verbandsflucht“ ist hier die Rede. Die Flucht aus den Parteien ist bereits im Gang.

 

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