Offensiv um neue Mitglieder zu werben ist vor allem bei den Gewerkschaften angesagt, die seit Jahren einen Mitgliederschwund verzeichnen. Dass dabei auch im Beritt konkurrierender Organisationen gewildert wird, liegt auf der Hand. Kürzlich trugen zwei Polizeigewerkschaften ihren Streit um die Grenzen der zulässigen Mitgliederwerbung vor dem Bundesgerichtshof aus.
Die Parteien stritten im Kern darüber, ob eine Gewerkschaft mit einem mehr oder weniger symbolischen Mitgliedsbeitrag von einem Euro um neue Mitglieder werben darf. Klägerin war eine für den gesamten Bereich der Polizei zuständige DGB-Gewerkschaft, die eine dem Deutschen Beamtenbund angehörige Gewerkschaft der Bundespolizisten wegen unlauterer Werbung in Anspruch nahm.
Die beklagte Gewerkschaft warb mit einer zunächst befristeten Aktion im Internet sowie mit Aushängen und Flugschriften in den Dienststellen der Bundespolizeien um neue Mitglieder. Dabei bot sie für das erste Jahr der Mitgliedschaft einen monatlichen Mitgliedsbeitrag von einem Euro an. Danach sollten die für die Altmitglieder geltenden Mitgliedsbeiträge gelten. Die Werbeaktion war nicht satzungskonform beschlossen worden.
Mit ihrer Klage hat die Klägerin die Beklagte auf Unterlassung solcher Werbemaßnahmen in Anspruch genommen. Sie war der Meinung, dass die Beklagte mit den Werbeaktionen ihre Rechte aus Art. 9 Abs. 3 GG verletzt und gegen das UWG verstoßen habe. Im Übrigen verstoße das Ein-Euro-Angebot auch gegen die Satzung des Beklagten; es sei nicht von dessen Delegiertenversammlung beschlossen worden.
Die Entscheidung des Bundesgerichtshofes
Das Bundesarbeitsgericht hat mit Urteil vom 31. Mai 2005 (1 AZR 141/04) die Revision der klagenden Gewerkschaft zurückgewiesen und festgestellt, dass die gewerkschaftliche Mitgliederwerbung durch Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG geschützt ist. Die Grenzen zulässiger Werbung würden allerdings verletzt, wenn sie mit unlauteren Mitteln erfolgte oder auf die Existenzvernichtung einer konkurrierenden Gewerkschaft gerichtet sei. Dieser ‚Rubikon’ sei im vorliegenden Fall aber noch nicht überschritten worden.
Nach § 1 UWG alter Fassung könne derjenige, der im geschäftlichen Verkehr zu Zwecken des Wettbewerbs Handlungen vornimmt, die gegen die guten Sitten verstoßen, auf Unterlassung und Schadensersatz in Anspruch genommen werden. Nach allgemeiner Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum sei die bloße Mitgliederwerbung von Gewerkschaften kein „geschäftlicher Verkehr” im Sinne dieser Vorschrift. Diese Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und des Bundesgerichtshofs sei entgegen der Auffassung der Klägerin auch nicht überholt. Der Bundesgerichtshof habe in einer Entscheidung vom 20. Februar 1997 (I ZR 12/95 — NJW-RR 1997, 1401) erneut bestätigt, dass bei gemeinnützigen Einrichtungen die Werbung von Mitgliedern nicht im geschäftlichen Verkehr und zu Zwecken des Wettbewerbs erfolgt. Unerheblich ist, ob die Rechtsschutzgewährung, die eine Gewerkschaft ihren Mitgliedern über einen Vertrag mit einer Rechtsschutzversicherungs AG bietet, insoweit einen der Steuerpflicht unterliegenden wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb darstelle (vgl. dazu FG München 2. Juni 2000 — 7 K 4322/98 — EFG 2000, 1146). Selbst wenn dies steuerrechtlich der Fall wäre, sei die reine Mitgliederwerbung kein geschäftlicher Verkehr im Sinne von § 1 UWG. Sie sei nicht auf gewerbliche Konkurrenz angelegt, sondern diene der Verwirklichung der sozialen und gesellschaftlichen Aufgaben der Gewerkschaften. Hieran habe sich durch die Neufassung des UWG nichts geändert.
Es erscheine bereits fraglich, ob eine Gewerkschaft ein „Unternehmen” im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 1 UWG neuer Fassung sei. Der Begriff des Unternehmens setze eine auf Dauer angelegte, selbständige wirtschaftliche Betätigung voraus, die darauf gerichtet ist, Waren oder Dienstleistungen gegen Entgelt zu vertreiben. Dabei könne das Entgelt auch in der Zahlung von Mitgliedsbeiträgen bestehen. Daher könnten auch Idealvereine wettbewerbsrechtlich als Unternehmen anzusehen sein, soweit sie gegenüber ihren Mitgliedern ihrem Wesen nach entgeltliche, aber durch den Mitgliedsbeitrag gedeckte Leistungen erbrächten, die auch auf dem Markt gegen Entgelt angeboten werden. Dazu könnten auch Beratungsleistungen oder die Gewährung von Rechtsschutz gehören.
Die Unternehmenseigenschaft einer Gewerkschaft bedürfe vorliegend aber schon deshalb keiner Klärung, weil jedenfalls deren Mitgliederwerbung keine Wettbewerbshandlung sei. Sie bezwecke nicht den Absatz oder den Bezug von Waren oder Dienstleistungen. Der Umstand, dass eine Vereinsmitgliedschaft mit Ansprüchen auf bestimmte Leistungen des Vereins verbunden ist, habe allein noch nicht zur Folge, dass die Mitgliederwerbung eine auf den Absatz dieser Leistung gerichtete (Wettbewerbs-)Handlung darstelle. Dies gelte zumindest in den Fällen, in denen die Erbringung der Leistung nicht den Hauptzweck oder gar den alleinigen Zweck der Vereinstätigkeit darstelle. Auch komme es nicht darauf an, ob andere Vereine mit gleicher oder ähnlicher Zielsetzung vorhanden seien, die ebenfalls Mitgliederwerbung betrieben. Die Mitgliederwerbung einer Gewerkschaft ziele nicht in erster Linie oder ausschließlich auf den Absatz der Dienstleistung „Rechtsschutz”. Dessen Gewährung sei zwar regelmäßig vom Satzungszweck gedeckt. Er sei aber weder Haupt- noch gar alleiniger Zweck einer Gewerkschaft. Deren Hauptaufgabe sei es vielmehr, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ihrer Mitglieder zu wahren und zu fördern.
Der Anspruch der Klägerin folge auch nicht aus der entsprechenden Anwendung des § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB in Verbindung mit Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG. Allerdings könne sich eine Gewerkschaft mit Hilfe von Unterlassungsklagen gegen rechtswidrige Eingriffe in ihre durch Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG gewährleistete kollektive Koalitionsfreiheit entsprechend § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB wehren. Die Mitgliederwerbung einer konkurrierenden Gewerkschaft müsse sie aber hinnehmen, solange diese nicht mit unlauteren Mitteln erfolge oder auf die Existenzvernichtung der anderen Gewerkschaft gerichtet sei.
Geschützt werde durch Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG sowohl die Freiheit des Einzelnen, Koalitionen zu bilden, als auch der Bestand, die organisatorische Ausgestaltung und die spezifische Betätigung der Koalitionen. Der Schutz der Koalitionsfreiheit richte sich gemäß Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG auch gegen privatrechtliche Beschränkungen. Auf Grund dieser Vorschrift entfalte Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG unmittelbare Wirkung zwischen Privaten. Die Koalition, in deren Betätigungsfreiheit durch ein anderes Privatrechtssubjekt in unzulässiger Weise eingegriffen werde, könne daher die Unterlassung der Beeinträchtigung verlangen. Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG gelte auch im Verhältnis von rivalisierenden Gewerkschaften untereinander.
Durch die Mitgliederwerbung von Gewerkschaften sei das kollektive Daseinsw und Betätigungsrecht konkurrierender Gewerkschaften betroffen. Sie ziele regelmäßig auch darauf, die bereits in einer anderen Gewerkschaft befindlichen Arbeitnehmer für die eigene Koalition zu gewinnen. Damit gefährde sie zwar den Mitgliederbestand der anderen Organisation. Allein daraus folge jedoch nicht die Unzulässigkeit jeglicher (Ab-)Werbung. Die gewerkschaftliche Mitgliederwerbung sei vielmehr ebenfalls durch die in Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG gewährleistete Betätigungsfreiheit geschützt. Zu dieser gehöre gerade auch das Recht einer Koalition, ihre Schlagkraft durch Maßnahmen mit dem Ziel der Mitgliedererhaltung und der Mitgliederwerbung zu stärken. Damit führe die Mitgliederwerbung zu einer Kollision der Grundrechte der bei der Mitglieder-werbung und Mitgliedererhaltung konkurrierenden Koalitionen. Dem Abwehrrecht der einen Koalition aus Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG stehe das Betätigungsrecht der anderen aus Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG gegenüber.
Bei einer solchen Kollision gehe das Abwehrrecht dem Betätigungsrecht nicht zwingend vor. Vielmehr muss im Wege der Abwägung praktische Konkordanz zwischen den kollidierenden Grundrechtspositionen hergestellt werden. Dabei sei der durch Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG gewährleistete Koalitionspluralismus von Bedeutung. Zu ihm gehöre, dass die Gewerkschaften in Konkurrenz treten und wechselseitig um Mitglieder werben könnten. Daher habe eine Gewerkschaft grundsätzlich die mit der Mitgliederwerbung einer konkurrierenden Gewerkschaft verbundene Gefährdung ihres Mitgliederbestands hinzunehmen. Andernfalls würde ein einmal erreichter Status quo als unveränderlich zementiert und die durch Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG gewährleistete Freiheit der Bildung auch neuer Koalitionen gravierend erschwert.
Die Freiheit der Mitgliederwerbung sei allerdings nicht schrankenlos. Ihre Grenzen lägen dort, wo sie mit unlauteren Mitteln erfolgten oder auf die Existenzvernichtung der konkurrierenden Koalition gerichtet ist. Unlauter seien insbesondere Werbemaßnahmen, die auf Unwahrheiten beruhten, beleidigend oder hetzerisch seien oder unsachliche, in keinerlei Zusammenhang mit der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen stehende Angriffe gegenüber Konkurrenzorganisationen zum Inhalt hätten. Dementsprechend habe der Senat bereits früher eine wahrheitswidrige und täuschende Werbemaßnahme einer Gewerkschaft für unzulässig und der Bundesgerichtshof einer Gewerkschaft eine „unfaire Werbung” untersagt, durch die bei den umworbenen Arbeitnehmern falsche Vorstellungen über die sozialpolitischen Leistungen der konkurrierenden Gewerkschaften erweckt wurden. Auch dürfe es eine Gewerkschaft bei der Mitgliederwerbung nicht auf die Vernichtung einer anderen Koalition anlegen. Bedenklich wäre es daher, wenn eine Gewerkschaft ihre Werbemaßnahmen auf die (Ab-)Werbung der Mitglieder einer konkurrierenden Gewerkschaft beschränken und nur diesen, nicht dagegen den bislang unorganisierten Neumitgliedern Sonderkonditionen einräumen würde. Dann läge die Annahme nahe, Ziel der Aktion sei weniger die Stärkung der eigenen als vielmehr die bloße Schwächung der konkurrierenden Organisation.
Hiernach handele es sich bei der „Ein-Euro-Werbeaktion” des Beklagten um keine unzulässige Beeinträchtigung der Koalitionsfreiheit der Klägerin. Vielmehr ist eine derartige Werbemaßnahme des Beklagten durch dessen Betätigungsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG gedeckt. Die Grenzen zulässiger Mitgliederwerbung sind nicht überschritten. Das Angebot von Sonderkonditionen von einem Euro pro Monat für das erste Jahr der Mitgliedschaft ist keine unlautere Werbemaßnahme. Die umworbenen Arbeitnehmer würden durch ein solches Angebot nicht über Leistungen des Beklagten oder sonstige wesentliche Umstände getäuscht.
Entgegen der Auffassung der Klägerin sei die Werbemaßnahme auch nicht deshalb unzulässig, weil möglicherweise der für das erste Jahr angebotene Mitgliedsbeitrag nicht kostendeckend ist. Die Festlegung der Höhe der Mitgliedsbeiträge liege in der freien Eigenverantwortung einer Gewerkschaft. Dieser stehe es grundsätzlich frei, zu Zwecken der Werbung neu eintretenden Mitgliedern vorübergehend Sonderkonditionen anzubieten, die unter den auf das einzelne Mitglied entfallenden „Selbstkosten” der Gewerkschaft lägen. Im Übrigen sei das unter dem „Einstandspreis” liegende Angebot von einem vernünftigen Interesse der Beklagten getragen gewesen. Diese habe sich durch die zeitlich auf ein Jahr begrenzten Sonderkonditionen den Eintritt von Mitgliedern versprochen, die später die regulären Mitgliedsbeiträge zahlen würden.
Die Werbemaßnahme sei auch nicht auf die Existenzvernichtung der Klägerin angelegt gewesen. Für die Annahme, es sei dem Beklagten „ohne Rücksicht auf (eigene) Verluste” weniger um die eigene koalitionsmäßige Betätigung, als um die Vernichtung der Klägerin gegangen, gäbe es keine Anhaltspunkte. Ebenso wenig sei ersichtlich, dass dadurch die Existenz der Klägerin objektiv gefährdet sei.
Ohne Erfolg habe sich die Klägerin auch darauf berufen, dass die Werbemaßnahme von der Beklagten nicht satzungsgemäß beschlossen worden sei. Das mache die Maßnahme ihr gegenüber nicht rechtswidrig. Dafür komme es allein auf deren Außenwirkung an. Die Satzungsbestimmung des Beklagten, nach der die Mitgliedsbeiträge von der Delegiertenversammlung festzulegen seien, diene nicht dem Schutz einer konkurrierenden Gewerkschaft. Durch einen Verstoß gegen diese Satzungsbestimmung würden allenfalls Rechte der Altmitglieder des Beklagten, nicht dagegen Rechte der Klägerin tangiert.
Bedeutung über den Fall hinaus
Das Bundesarbeitsgericht hat in dieser Entscheidung in Überstimmung mit der Judikatur des Bundesgerichtshofes einige für alle Verbände wichtige Feststellungen getroffen:
- Soweit Verbände und andere Idealvereine auf dem Gebiete der Mitgliederwerbung tätig sind, handelt es sich nicht um Maßnahmen zu Zwecken des Wettbewerbs nach UWG alter und neuer Fassung. Diese Vorschriften sind also auch dann nicht anwendbar, wenn die Organisation auf anderen Feldern ihrer Tätigkeit wirtschaftliche Geschäftsbetriebe betreibt. Merkmal der wirtschaftlichen Geschäftsbetriebe ist es, dass insoweit Leistungen erbracht werden, die auf dem Markt gegen Entgelt erhältlich sind. Deshalb können auch Beratungsleistungen unter diesen Begriff fallen.
- Die Werbung neuer Mitglieder und die Abwerbung von Mitgliedern anderer Organisationen sind wegen der grundgesetzlich geschützten Vereinigungsfreiheit grundsätzlich erlaubt, so lange die hierfür eingesetzten Mittel selbst nicht unlauter oder irreführend sind.
- Unlautere oder irreführende Werbemaßnahmen können in entsprechender Anwendung von § 1004 BGB und Art. 9 Grundgesetz, dem insofern auch zwischen Verbänden eine unmittelbare Wirkung zukommt, von konkurrierenden Vereinigungen durch Unterlassungsklagen unterbunden werden und Schäden über das Zivilrecht geltend gemacht werden.
- „Schnupper-Tarife“ für Neumitglieder können von konkurrierenden Organisationen selbst dann nicht angegriffen werden, wenn sie vorübergehend nicht kostendeckend sind. (Sie können jedoch — vorbehaltlich anderweitiger Bestimmungen in der Satzung — eine Verletzung des innerverbandlichen Gleichbehandlungsgebots darstellen. Dies kann aber nur von Mitgliedern gerügt werden.)
- Wenn solche Vorzugstarife unter Verletzung innerverbandlichen Rechts zustande kommen, entfaltet dieser Verstoß keine Außenwirkung (Rügemöglichkeit also nur durch Mitglieder).