Verbändereport AUSGABE 4 / 2006

„Ich will Praxis!“

Zum Sinn und Unsinn der Theorie in Rhetorikseminaren

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„Ich will nicht wissen, was eine Dreierkette ist, ich will wissen wie man Fußball spielt!“ – Einige Erkenntnisse verdeutlicht der Fußballplatz. So auch die Einsicht, dass es ganz ohne Theorie nicht geht, wenn man dem Niveau des Bolzplatzes entkommen möchte. Ein Profivertrag in der Fußballbundesliga ist zwar ohne Sportstudium zu haben. Keine Mannschaft aber darf ohne Trainer antreten, der Prüfungen in Regelkunde und Trainingsmethoden bestanden hat.

Wo also liegt die optimale Mischung aus Theorie und Praxis? Wie lässt sich erkennen, ob der Trainer versteht, wovon er spricht? Ein Plädoyer für mehr reflektierte als zitierte Theorie in zwei Ansatzpunkten.

Kommunikation ist allgegenwärtig — und in der Theorie um einiges abstrakter als Fußball. Über Kommunikation zu kommunizieren heißt, Theorie zu thematisieren. Demnach gehören Kommunikationsseminare eigentlich in die Universität. Das gilt auch für die schillernde Disziplin der Rhetorik, die als Wissenschaft so praxisrelevant ist, wie es Aristoteles eben sein kann.

Und dennoch: Kommunikationskom-petenz ist ein „Hard skill“ ohne dass man im Wettbewerb kaum bestehen kann — und Seminare können Fähigkeiten entscheidend verbessern helfen. Eine Bedingung für den Erfolg ist nicht unbedingt die Vermittlung von Theorie, sondern die Fundierung der praxisnahen Übungen auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft. Ohne diese Basis bleibt der Lehrinhalt Anekdotenwissen. Ohne diesen Rahmen kann ein Teilnehmer überraschende Erfolge verbuchen und das gegebene Fallbeispiel mit Bravour lösen — seinen Wissensgewinn aber nicht in anderen Situationen anpassen, keinen Transfer leisten. Er ist einem Klavierschüler vergleichbar, der ein bestimmtes Lied spielen, aber Noten nicht lesen kann und für jedes neue Stück den Lehrer benötigt. Eine gute Theorie ist äußerst praktisch.

Der richtige Trainer

Der Trainer ist also der erste Ansatzpunkt auf der Suche nach der richtigen Mischung aus Theorie und Praxis. Hier spricht der Trend gegen die Theorie. Die von Jürgen Habermas und Niklas Luhmann faszinierten Trainer, die ihre Teilnehmenden mit theoretischen Erörterungen herausfordern, sind äußerst selten. Im Gegenteil: So mancher Trainer hat nicht die Hälfte der Bücher auf seiner Literaturliste gelesen.

Ein, unter Anderem, in der Theorie versierter Trainer wird wissen, dass Versatzstücke umfangreicher Konzepte methodisch immer zu kurz kommen müssen. Gleichzeitig kennt er die Wirkung bestimmter Herangehensweisen, kann konkrete Erfahrungen verallgemeinern und abstrakte Ziele der Arbeit in Bezug auf die Kunden personalisieren. Er steht hinter dem Satz des Pioniers des Qualitätsmanagements William Edwards Deming: „Die Erfahrung lehrt nichts ohne die Theorie.“ Praxisferne der Seminarinhalte kann ein Zeichen sein für mangelnde Theoriekenntnis des Trainers. Insofern sollten Teilnehmende an einer Fortbildung vom Trainer einerseits unmittelbar anwendbares Wissen erwarten — andererseits, dass er die Theorie beherrscht.

Wie aber lässt sich feststellen, ob der Anbieter im Wechselspiel von Theorie und Praxis überzeugt? Der zweite Ansatzpunkt auf der Suche nach Sinn und Unsinn der Theorie sind Theorien und Theoretiker selbst. Wenige Schlagworte aus komplexen Arbeiten können beeindrucken und wenig verraten, wie auswendig gewusste Lebensdaten Georg Friedrich Händels faszinieren, aber an sich noch nichts über musische Qualitäten aussagen. In fast allen Seminarprogrammen und -unterlagen werden Autoren und Teile ihrer Theorien benannt. Sie sollen das Angebot aufwerten. Am meisten zitiert sind die folgenden drei:

  1. Paul Watzlawick kennt 33 Jahre nach dem Erscheinen seines Buches „Menschliche Kommunikation“ jeder Trainer, zumal er seine einst Standards setzende psychologische Arbeit bald in populärwissenschaftlichen Häppchen vermarktete.
  2. An diesem Punkt setzt Friedemann Schulz von Thun an und differenziert Watzlawicks Leitunterscheidung zu vier handhabbaren Dimensionen — und vertraut in der theoretischen Herleitung ganz auf vorliegende Arbeiten. Es war nie seine Intention, damit neue wissenschaftlich tiefgründige Theorie zu entwickeln und immer sein Ziel, auch akademischen Zaungästen „Werkzeuge zur Förderung von innerer und äußerer Klarheit“ in der Kommunikation zu vermitteln.
  3. Mit dem Versuch, Wissenschaft und Praxis in einem Ansatz zu vereinen, steht die Transaktionsanalyse seit ihrer Erfindung 1964 durch den Psychiater Eric Berne in hartem Wind. Wer ihr darin folgt, dass sich zwischenmenschliche Kommunikation mit drei bestimmten Kategorien abschließend begreifen lässt, mag sie entstauben.

Keiner dieser drei Wissenschaftler hat seine die wichtigen Veröffentlichungen zum Thema im Stile eines Ratgebers aus dem Bahnhofskiosk verfasst — auch wenn Adaptionen im Taschenbuchformat mittlerweile für rund zehn Euro zu erwerben sind. Umso mehr spricht ein plumper Hinweis auf bekannte Namen eher gegen Sachkenntnis.

Ein differenzierter Umgang mit Watzlawick, Schulz von Thun, Berne, mit Habermas, Luhmann und anderen hingegen ist notwendige Voraussetzung für ein lehrreiches, praxisorientiertes Seminar. Viele Trainer haben auf Basis theoretischer Kenntnisse ihre Seminare entworfen und in der Praxis immer wieder adaptiert. Rein aus der Erfahrung in bestimmten Bereichen entstandene Seminare sind inhaltlich nur konkurrenzfähig, wenn sie mit theoretischem Wissen substanziell überarbeitet sind.

Der gekonnte Umgang mit der Theorie

Bei der Auftragsvergabe ist nur schwierig zu erkennen, wie firm der Anbieter im Umgang mit der Theorie ist — zumal der Schwerpunkt unzweifelhaft auf der Praxis liegt. Mit aller Vorsicht lassen sich drei Merkmale benennen, an denen man den gekonnten Umgang mit Theorie erkennen kann, geordnet vom Abstrakten zum Konkreten:

1. Ein Seminar sollte einem Curriculum folgen, einem an Lehrzielen orientierten Ablauf des Lehr- bzw. Lernprozesses. Lehrziele beschreiben, was die Teilnehmenden am Ende einer Unterrichtseinheit können. Der Ablaufplan benennt die Lehrinhalte, skizziert also den Weg zu diesen Zielen. Entscheidend sind im Vorfeld eines Seminars die zu behandelnden Themen, nicht die konkreten Übungen, die im Idealfall den Anforderungen der Teilnehmenden unmittelbar angepasst werden. Ein gutes Curriculum umfasst überdies eine Erfolgskontrolle. Ein überzeugendes Curriculum ist ohne theoretisches Wissen nicht zu erstellen — auch wenn es nach Außen unerwähnt bleibt.

2. Ein ausführliches Seminarprogramm gibt schon im Vorfeld Informationen preis, die Lehrinhalte werden in einem Skript zusammengefasst, eine Literaturliste gibt weitere Hinweise: Wann immer Theorien benannt werden, sollte der Zusammenhang sorgfältig gelesen werden. Bleiben Zusammenhänge undeutlich, empfiehlt sich das Nachhaken: Worauf beruht diese Aussage? Welchen Mehrwert verspricht diese Theorie? Und für den Fall, dass es keinen Hinweis auf Theorien gibt, ist auch das eine Nachfrage wert.

3. Drei Ziffern stehen für den häufigsten, verfälschend vereinfachenden Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen: 7, 38, 55.

Teile der Kommunikationstheorie verfechten die These, dass Kommunikation Realität erst schaffe. Oberflächliche Beschäftigung mit dem Konstruktivismus mag dazu verleiten, oft Gehörtes in Seminarform als Wahrheit zu verkaufen. Wer etwa digitale von analoger Kommunikation unterscheidet, muss Watzlawick genau gelesen haben, um Ingenieuren in diesem Zusammenhang die Zielgenauigkeit des Gegensatzes plausibel zu machen. Und wer ohne große Einschränkungen behauptet, ein Empfänger nehme von einer Botschaft nur zu 7 Prozent den Inhalt, zu 38 Prozent aber den durch Sprache und Sprechen, und zu überwältigenden 55 Prozent den durch die Körpersprache vermittelten Anteil war, kennt mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht die dem zugrunde liegende Untersuchung, die der Psychologe Albert Mehrabian im September 1968 (!) in der Zeitschrift „Psychology Today“ veröffentlicht hat.

Wann immer auf zentralen Unterscheidungen, aus Untersuchungen hervorgegangenen Zahlen oder sonstigen wissenschaftlichen Erkenntnissen aufgebaut wird, ist, insbesondere im Vorfeld eines Seminars, Nachfragen gestattet — nicht um eine theoretische Diskussion zu führen oder Bücher vorgelegt zu bekommen, sondern um zu erfahren, was auf der präsentierten Grundlage aufgebaut werden kann.

Fazit

Nach Goethe eigentlich grau, schillert die Theorie durch die Seminarangebote zur Kommunikation. Auf der Suche nach wirkungsvollen Seminaren verrät das Aufleuchten von Theorien und Theoretikern viel über die Qualität und Nachhaltigkeit des Angebots. Denn ausschließlich ein auf Theorie gegründetes Seminar garantiert nachhaltigen Erfolg. Und ein aufmerksamer Blick lässt sich nicht so schnell blenden von Namen, Fremdworten und Abkürzungen. Auch ohne wissenschaftliche Kenntnisse in diesem Gebiet fällt die Auswahl des Anbieters plötzlich leichter. Belohnt wird die Sorgfalt mit der Erkenntnis, dass bei einem guten Trainer der Unterschied von Theorie und Praxis in der Praxis viel kleiner ist, als in der Theorie.

Ein guter Fußballspieler kennt die taktischen Möglichkeiten z. B. in der Verteidigung — und ein guter Redner Techniken der Argumentation. Die richtige Mischung gewinnt die Fußballweltmeisterschaft — und im Alltag die Unterstützung der Zuhörer.

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