Der Bundesinnungsverband der Maler und Lackierer in Deutschland hat in Eigenregie einen DELPHI umgesetzt und mit über 500 Handwerksbetrieben über das „Malerhandwerk2040“ diskutiert. Mit verblüffenden Ergebnissen, aber auch Grenzen auslotend.

Ab und zu geben Verbände Zukunftsstudien in Auftrag. Visuell stark aufbereitet, stärken sie das Außenbild als moderne Organisation. Nach innen wirken sie selten, die Verbandsstrukturen bleiben unverändert. Woran liegt das? Verbände leiten ihre Legitimität aus Strukturen, Verfahren und Traditionen ab. Handwerksverbände sind oft über 100 Jahre alt. Ihre Stabilität liegt in ihren Gremien, Ausschüssen und Arbeitskreisen. Die Gespräche dort sind exklusiv, man muss sich für die Teilnahme qualifizieren. Das hat in der Vergangenheit ein hohes Maß an Stabilität bewirkt.
Die aktuellen Herausforderungen allerdings – Digitalisierung, KI, Demografie, Bürokratisierung, Wertewandel usw. – lassen sich nicht mehr in Gremien „kleinarbeiten“. Ihre Merkmale sind Komplexität und Wechselwirkung. So wirkt sich die Digitalisierung auch auf die Kompetenzprofile und Ausbildungsordnungen aus. Soziale Medien werden zur Konkurrenz der Handwerksinnungen und ihrer Stammtische. Ein „Clusterfuck“, wie ein Buch von Holm Friebe und Detlev Gürtler (2018) betitelt ist – ein perfekter Sturm.
In den Verbänden wächst das ungute Gefühl, mit den alten Methoden nicht weiterzukommen. Noch mehr Broschüren halten den Mitgliederschwund nicht auf. Noch breiter aufgestellte Dienstleistungen haben kaum noch einen Effekt. Auch Mitgliederbefragungen bringen keinen Aufbruch. Sie beziehen sich auf vergangene oder allenfalls gegenwärtige Erfahrungen. Aber die Menschen haben keine Angst vor der Vergangenheit, sondern vor der Zukunft.
Neue Generationen von HandwerkerInnen sind für die Organisationsgrundsätze von Langfristigkeit, Wahlamt, Repräsentation und Fachlichkeit nicht mehr zu haben. Sie wollen keine Mitgliedschaft, sondern Gemeinschaft. Ihrem Vernetzungsverhalten entsprechend wollen sie nichts über die Zukunft lesen, sondern sich über sie austauschen und gemeinsam lernen.
Zukunftsforschung gegen Angststarre
Hier kommt die Zukunftsforschung ins Spiel. Sie erhöht das Verständnis für Komplexität, ohne Angststarre zu erzeugen. Ihre Zukunftsbilder signalisieren Gestaltbarkeit, erzeugen Lösungsfantasie. Das war die Idee, die 2021 den Bundesverband Farbe Gestaltung Bautenschutz, Bundesinnungsverband der Maler und Lackierer, auf den Trichter mit dem Delphi „Malerhandwerk 2040“ brachte.
Ziel war es, Szenarien und Perspektiven zu entwickeln, wie das Malerhandwerk in der Zukunft arbeitet und welche Chancen und Herausforderungen sich daraus für die rund 40.000 Maler- und Lackiererbetriebe und die Verbandsorganisation ergeben. Der Verband suchte nach einem Weg, mit jungen, digitalaffinen Betrieben ins Gespräch zu kommen, die für die klassische Gremienarbeit nicht zu gewinnen sind. Das funktioniert am besten über Zukunftsthemen, die neugierig machen, Perspektiven für die eigene betriebliche Strategie bieten und den Blick über den Tellerrand erlauben.
Selber machen statt beauftragen
Ein Delphi ist eine Methode der Zukunftsforschung, die dafür perfekt geeignet ist: eine Mischung aus Befragungen, Feedback, Live-Begegnungen und strukturierten Diskussionen. Die Methode wurde in den 50er-Jahren von der RAND Corp. in den USA entwickelt.
Ein Delphi ist methodisch anspruchsvoll. Dennoch beauftragte der Verband kein Forschungsinstitut mit der Durchführung, sondern machte zusammen mit drei Marktpartnern praktisch alles selbst. Experteninterviews wurden vom Führungspersonal des Verbands und seiner Partner selbst geführt, Szenarien in Workshops entwickelt. Das FORSA-Institut unterstützte lediglich technisch bei den Online-Befragungen.
Der Vorteil: Die Organisation lernte in jeder Stufe dazu. Zwischenergebnisse, Details und Methodenkenntnisse, die sonst beim Forschungsinstitut verbleiben, diffundierten in den Verband.
Im ersten Schritt wurden 40 leitfadengestützte Interviews mit Experten geführt, die eben gerade nicht aus dem Malerhandwerk kommen, sondern aus Industrie, Forschung, Digitalwirtschaft und Medien – um die Perspektive von vornherein breit zu öffnen. Die Themen umfassten Technik, Kunden, Märkte sowie die Zukunft der Arbeit. Ergebnis waren 45 Thesen, kurze Zukunftsbilder über das Wirtschaften und Arbeiten im Jahr 2024.
Für eine erste Befragungswelle schrieb der Bundesverband 1.000 Betriebe an, 505 beteiligten sich. Ein unerwartet gutes Ergebnis, das den großen Bedarf zeigte. Die Teilnehmer überprüften die Thesen auf Eintrittswahrscheinlichkeit und Zeitperspektive. Es folgte eine zweite Befragungswelle, in der die Teilnehmer über die Ergebnisse informiert und gebeten wurden, sie zu kommentieren. Zugleich konnten sie schriftliche Begründungen abgeben – eine Quelle für die späteren Szenarien.
Alle Einschätzungen wurden gesammelt, in einem Zukunftstag live diskutiert und zu zwei Szenarien verdichtet: dem „Rückenwind-Szenario“, in dem das Malerhandwerk von den Megatrends eher profitiert, und dem „Gegenwind-Szenario“, das seine Strukturen akut gefährdet. Welches Szenario Realität wird – das hängt von den Weichenstellungen ab, die Verband und Betriebe in den nächsten Jahren vornehmen. Das kann eine neue Ausbildungsordnung sein oder/und Innovationen in der Verbandsorganisation.
Mit einem Delphi kommt man auch „Schwarzen Schwänen“ auf die Spur: extrem unwahrscheinlichen Entwicklungen und Ereignissen mit erheblichen Auswirkungen. Wenn man Zukunftsforschung selber macht, erzeugt das aber keine Angst vor der Zukunft, im Gegenteil: Jeden Gedanken vorurteilsfrei diskutieren zu dürfen, zu erleben, dass andere sich mit denselben Themen beschäftigen und dieselben Unsicherheiten teilen, bringt Sicherheit. Das Unterschwellige und Unausgesprochene ist es, was verunsichert.
Jeder Verband kann das. Es sind keine großen Budgets vonnöten. Alle methodischen Schritte werden zu Beginn in einem Redaktionsplan in kleine Einheiten unterteilt und an die Partner vergeben. Die Abarbeitung kann ein bis drei Jahre dauern, je nach Fragestellung. Doch das ist kein Nachteil: Ein Delphi ist Netzwerkarbeit, er führt die Beteiligten immer stärker zusammen.
Lösungsfantasie erzeugen
Ein Delphi bezieht von Anfang an die Perspektive externer Player ein. In den Maler-Delphi hielt so die These Einzug, dass in den nächsten zwei Jahrzehnten handwerksfremde Finanzinvestoren in großem Stil Betriebe aufkaufen und bündeln werden. Jeder Zweite hielt das im Delphi für gut möglich. Nur fünf Jahre später ist das Realität – die niedrigen Zinsen machen Handwerkskonzerne als krisenfestes Investment börsenfähig.
Lösungsfantasie erzeugte das Thema Ausbildung. Fast die Hälfte der Betriebe rechnet damit, dass im Jahr 2040 aufgrund zunehmender Digitalisierung, Fertigungsautomatisierung und Sensorik ein neuer Beruf entstehe, der „Malertroniker“. Eine Idee, die jetzt in die anstehende Neuordnung der Berufsausbildung einfließt. Die Mehrheit der Betriebe hält es auch für realistisch, dass sich die Grenzen zwischen den Handwerksberufen immer weiter auflösen werden – was handwerkspolitisch spannende Fragen aufwirft.
Effekte auf die Organisation
Solche inhaltlichen Erkenntnisse sind der eine Effekt. Ein weiterer ist, dass der Verband in der Zukunftsforschung als kreativer Akteur erlebt wird, der die Ambitionen seiner Mitglieder – sich weiterzuentwickeln, neue Lösungen zu finden, kreativ zu sein – teilt und befördert. Klassische Mitgliederbefragungen sind dagegen emotional „arm“. Die Abfrage von Dienstleistungsbedarfen macht Mitglieder nicht zu Fans.
Die Bewertung der Zukunftsszenarien zeigte, dass sich die „Basis“ der Organisation aktiv und mit Weitblick auf die Zukunft einstellt und für Innovationen offen ist. Das stellte die Gewohnheit des klassischen Ehrenamtes infrage, die Betriebe mit Samthandschuhen anzufassen und ihnen generell nicht viel Veränderungsbereitschaft zuzutrauen. Das Gegenteil erwies sich als richtig: Die Tür zu Reformen der Verbandsarbeit steht mitgliederseitig weit offen.
Im Delphi-Prozess wurden neue Netzwerke aufgebaut, die von den Teilnehmern als sinnstiftend erlebt werden. Das wirft die Frage der Integration in die klassischen Verbandsstrukturen auf. Bei den Teilnehmern werden Potenziale und Engagement freigesetzt, denen man dann auch Raum geben muss. Mit einer Veröffentlichung der Ergebnisse ist es nicht getan. Müssen Parallelstrukturen aufgebaut werden, oder kann man die neuen Arbeitsweisen integrieren? Der wachsende Druck auf die Verbandsführung, Lösungen anzubieten, kann zu Ablehnung und einem Abwürgen des Prozesses führen. Das ist der Wendepunkt, vor dem gerade auch der Malerverband steht.
Ein Delphi ist in diesem Sinne auch als Strategieprozess zu verstehen. Organisatorische Implikationen müssen von Anfang an mitgedacht und mitdiskutiert werden. Ausschüsse tun sich heute schwer damit, neue ehrenamtliche Mitglieder zu rekrutieren. Eine Neustrukturierung in Form von zeitlich befristeten und thematisch fokussierten Projektgruppen ist also ohnehin sinnvoll. Solche Innovationen in der Verbandsarbeit wirken dann auch anziehend auf die eingangs erwähnte, neue Generation von digitalaffinen und netzwerkorientierten Unternehmerinnen und Unternehmern.
Der Bundesverband Farbe Gestaltung Bautenschutz umfasst 300 regionale Innungen und 17 Landesinnungsverbände. Er vertritt 39.610 Maler- und Lackiererbetriebe, davon ca. 3.500 Fahrzeuglackierbetriebe, mit 17,6 Milliarden Euro Gesamtumsatz.

