Verbändereport AUSGABE 7 / 2010

Kongresse verändern ihr Gesicht

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Seit Jahrzehnten gehört Michel Maugé (63) zu den herausragenden Experten der nationalen und internationalen Tagungsbranche. Als kritischer Beobachter und brillanter Analytiker setzt er seit Jahrzehnten wichtige Impulse. In seinem Gastbeitrag für den Verbändereport unterzieht er den aktuellen Entwicklungsstand der Kongresszentren und Kongresswirtschaft einer kritischen Analyse und gibt einen Ausblick auf die zukünftigen Anforderungen an zeitgemäße Kongresszentren. Michel Maugé ist seit 1989 Geschäftsführer der m:con mannheim:congress GmbH in Mannheim. Die m:con betreibt eines der umsatzstärksten Congress Center in Deutschland, den Rosengarten Mannheim, und ist ein auf wissenschaftliche Kongresse spezialisierter PCO. Die m:con verfügt über mehr als 100 Mitarbeiter und macht einen Jahresumsatz von mehr als 20 Millionen Euro. Als Dozent für Kongress- und Veranstaltungsmanagement lehrt er an der Fachhochschule Worms und ist Leiter der International Event und Congress Academy (IECA). Maugé engagiert sich in zahlreichen Fachorganisationen wie dem German Convention Bureau (GCB), dem AICP (Association Internationale des Palais), der ICCA (International Congress and Convention Association), der MPI (Meeting Professionals International) und war Vizepräsident der Historic Conference Center of Europe (HCCE). Michel Maugé bekleidet seit vier Jahren das Amt des Honorarkonsuls der Republik Frankreich in Mannheim.

Kongressveranstalter hatten noch nie einen anderen Anspruch als Wissensvermittlung. Die Branche der Kongresszentren und Kongresswirtschaft versteht aber unter einem Kongress Tourismus. Lieschen Müller sieht den Kongress immer noch tanzen und unsere Kommunalpolitiker sehen die Kongresswirtschaft als Bettenfüller. Diese verschiedenen Sichtweisen haben in der ganzen Welt im Vergleich zur Messebranche die Kongressbranche in eine Sackgasse geführt, aus der es heißt herauszukommen.

Kongresse, Tagungen und Meetings sind ein Teil der Bildungs- und Marketingwelt unserer Wissenschaft und Wirtschaft. Es gibt keinen Zweifel, dass die Bildung heute die oberste Priorität hat. Diese Bildung endet nicht mit dem Abitur oder Studium, diese Bildung setzt sich über unser gesamtes Leben fort.

Marketingziele haben sich verändert

Die Marketingziele unserer Unternehmen haben sich gerade in den letzten Jahren dramatisch verändert. Der Begriff Networking erhält oberste Priorität. Bei einer Übersättigung der Sinne und me­dialen Ansprachen werden die persönliche Empfehlung und die liebe alte „Mund-zu-Mund-Propaganda“ im Zusammenhang mit den Neuen Me­dien zum effizientesten Instrument. Bei Networking geht es um Erfahrungsaustausch, Produktempfehlung und Information. Das Gesicht der Kongresse und Tagungen hat sich und wird sich aber auch noch aus vielen anderen Gründen verändern. So zum Beispiel bei medizinisch-wissenschaftlichen Kongressen. Wo vor wenigen Jahren noch der Arzt eindeutige Zielgruppe jeder Phar­mafirma war und die Ausstellungsstände bei Kongressen, die Werbeaufwendungen, die persönlichen Einladungen u. v. m. nicht groß genug sein konnten, setzt der Gesetzgeber gerade hier durch Veränderung der Verschreibungs- und Entscheidungskriterien neue Einschränkungen. Verfolgt man die Diskussion und Gesetzeslage in USA, dann bedeutet dies ein vollkommenes Umdenken des Pharmamarketings, der Finanzierung eines Kongresses und der Zusammen­arbeit zwischen Forschung und Industrie. Es bedeutet aber auch für die Kongresszentren, dass die großen Ausstellungsflächen und Hallen zumindest bei dieser Art von Kongressen nicht mehr benötigt werden.

Die Neuen Medien wie Web 2.0 mit all ihren Neben­erscheinungen geben uns die notwendigen Hilfsmittel, um die o. a. Ziele zu erreichen. Sie zwingen aber auch die Face-to-Face-Kommunikation geradezu auf. Sich treffen, sich persönlich austauschen und gemeinsam erlernen sind die andere Seite der Medaille unserer Internetwelt.

Die Zielgruppen in der Kongress- und Tagungsbranche verändern sich. 70 Prozent aller derzeitigen Medizinstudenten sind weiblich. Ähnliche Zahlen kennen wir aus anderen Branchen und Fachgebieten. Der demografische Wandel ist heute schon sichtbar. Die Zielgruppen werden größer, breiter, weiblicher und älter. Fort- und Ausbildung wird in allen Bereichen der Wirtschaft und Wissenschaft erheblich zunehmen. Der Anspruch an immer höher qualifiziertes Personal, die rapiden Veränderungsprozesse in unserer Wissensgesellschaft sind eine Bestandsgarantie für die Kongress- und Tagungsbranche ohnegleichen.

Nimmt man diese Veränderungen wahr, dann bedeutet das, dass die Kongresszentren, die Tagungshotels und Veranstalter ihr heutiges und das sich seit Jahrzehnten nicht verändernde Erscheinungsbild beziehungsweise die inhaltlichen Konzepte verändern müssen. Und das in zweierlei Hinsicht, in Soft- und Hardware.

Zeit, Inhalt und Networking beeinflussen den Entscheidungsprozess

Drei Faktoren beeinflussen zukünftig immer stärker den Entscheidungsprozess für die Teilnahme an einem Kongress:

  • Zeitökonomie
  • Fachliche Inhalte
  • Networking

Der Faktor Zeit bestimmt in einem immer größeren ­Maße unsere Arbeitswelt. Die Belastung der täglichen Arbeit stellt immer kleinere Zeitfenster für die Aus- und Weiter­bildung zur Verfügung. Das heißt, dass in kürzester Zeit das größt- und bestmögliche Ergebnis erzielt werden muss. Neben kurzer Anreise, schnellen Verkehrsmitteln wird die Vor- und Nachbereitung einer Tagung, und zwar zu Hause, ein wichtiges Element. Hier stellen uns die elektronischen Medien in der Zwischenzeit hervorragende Instrumente zur Verfügung. Wir müssen nur darauf achten, dass sie in der Überfrachtung der Informationen nicht untergehen. Das heißt konzentrierte, kurze und prägnante Informationen. Der Trend der Verkürzung von Kongressen und Tagungen wird sich fortsetzen, wir geben uns höchstens noch zwei Tage inklusive An- und Abreise. Wenn es aber stimmt, dass die Ausbildung des Einzelnen zum entscheidenden Erfolgsfaktor unserer Arbeitswelt wird, dann ist absehbar, dass das bisherige Freizeitverhalten des freien Wochenendes und das für jeden Veranstalter einzuhaltende ­Tabu über kurz oder lang der Vergangenheit angehören werden.

Die fachlichen Inhalte einer Tagung sind ein weiterer Prüf- und Entscheidungs­faktor für einen Teilnehmer. Aktualität der Themen, die Didaktik des Vortrags, die Kompetenz und Glaubwürdigkeit der Themen und Referenten stehen auf dem Prüfstand.

Die elektronischen Medien lassen es zu, sich im Vorfeld über die Referenten und deren Qualität zu informieren, und im Gegenzug kann in der Bewerbung der Tagung durch Podcasts und andere Präsentationsformen in vielfältiger Weise das Interesse geweckt werden. Der Wechsel zwischen Frontalvortrag, Arbeitsgruppen, Workshops, Frage- und Antwortspielen, Roundtable und vielem anderen muss aus der Tagung mehr machen. Die aktive Einbindung des Teilnehmers führt zu höherer Zufriedenheit.

Das starke Konkurrenzangebot unter den Anbietern zwingt nicht nur dazu die Wahl der Didaktikinstrumente zu verbessern, sondern auch die Qualität der Referenten. Man gibt sich nicht mehr mit zweit- und drittklassigen Referenten zufrieden. Wie sagt man so schön: „Dafür ist die Zeit zu schade.“ Dieser schon erwähnte zeit­ökonomische Faktor lässt jeden Tagungspreis vergessen. Viele Verbände machen hier den über vierzig Jahre eingebrannten Fehler und sind der Meinung, dass niedrige Preise sozial und damit richtig sind. Das Gegenteil ist der Fall. Die Qualität des Angebotenen ist das Entscheidungskriterium.

Networking wird als dritter Faktor in den kommenden Jahren der USP-Faktor eines Kongresses. Wo in der Vergangenheit Festabende, große Partys und andere gesellschaftliche Treffen diese Funk­tion wahrgenommen haben, müssen wir auch hier infolge des zeitökonomischen Faktors während des Kongresses Möglichkeiten einplanen, um den Wissens- und Erfahrungsaustausch unter den Teilnehmern zu ermöglichen. Es müssen Räume und Flächen geschaffen werden, die junge Generation sagt dazu Chill-out-Room, die vornehmere Gesellschaft spricht von Loun­ges, mancher braucht nur eine ­ruhige Ecke oder eine Bar, um ein Gespräch zu führen. Elektronische Teilnehmerlis­ten, Datingprogramme, SMS-Systeme, Kennenlerninstrumente wie beispielsweise Spotme unterstützen diese Aufgabe.

Diese drei Faktoren werden die Angebotsseite, die Kongresszentren, die Hotelanbieter, aber auch die Kongressveranstalter zwingen, ihre Konzepte zu verändern. Kongresszentren hängen zukünftig von ihrer Verkehrsinfrastruktur ab. Touristische Angebote werden, auch wenn mancher Verband immer noch seine Destinationsentscheidung nach touristischen Imagefaktoren fällt, bedeutungslos sein. Hier wird vergessen, dass der Teilnehmer vom Bahnhof zum Messegelände außerhalb der Stadt nochmals 30 bis 40 Minuten verliert, und das Hin und Zurück, was im Worstcase zwei Stunden bedeutet. Zwei Stunden verlorene Zeit.

Komplexität erfordert Flexi­bilität

Die didaktischen Bedingungen eines Kongresses und einer Tagung verlangen mehr Flexibilität im Raumangebot, eine größere Anzahl von Räumen und eine erstklassige und immer auf den neuesten Stand gebrachte Medientechnik. Die Nutzung von Datenleitung, WLAN, Bluetooth und vielem anderen was uns in der Zukunft noch bevorsteht, muss kostenlos zur Verfügung stehen. Der Oberkellner oder der Hausmeister sind bei diesen komplexen Techniken nicht mehr die richtigen Ansprechpartner. Die Räume müssen von der Dimension, Klimatisierung, Belichtung anderen Ansprüchen entsprechen, wie Konzert- oder Bankettsäle. Die Veranstalter müssen lernen, genau diese Faktoren bei der Entscheidung für ein bestimmtes Haus zu checken. Leider kommt es immer noch zu oft vor, dass blind gebucht wird.

Die Networking-Funktion setzt spe­zielle Flächen voraus. Flächen sind in diesem Zusammenhang nicht Flächen, die man einfach umdekorieren kann und mit dem Einsetzen von einigen Sitzmöbeln — seien sie noch so gestylt — glaubt funktionsgerecht machen zu können. Auch hier spielen Tageslicht, Aussicht, ­Deckenhöhen, Architektur eine große Rolle. Es müssen Orte sein, die einem das Gefühl der Intimität, der Entspannung und des Wohlfühlens geben. Sie müssen sich in unmittelbarer Nähe des Tagungsgeschehens befinden. Eine solche Forderung ist angesichts großer Teilnehmerzahlen bei einem Kongress eine ganz besondere Herausforderung an die Architekten.

Eingangs werden der demografische Wandel und die Zunahme der Zahl weiblicher Teilnehmer angesprochen. Auch hier sind bauliche Veränderungen notwendig, Kinderkrippe und Kindergarten vor allem für Kleinkinder und eine absolute Barrierefreiheit sind unabdingbar.

Teilnehmer entscheiden über Erfolg und Misserfolg einer Tagung

Zum Schluss aber genauso wichtig wird der Faktor Service. Nicht nur die baulichen Gegebenheiten müssen sich verändern, unsere Servicementalität bedarf einer noch viel größeren Veränderung und eines Umdenkungsprozesses. Es ist der Teilnehmer, der über Erfolg und Misserfolg einer Tagung entscheidet. Die drei oben genannten Faktoren dienen in der Hauptsache dem Entscheidungs­prozess, an einem Kongress teilzunehmen. Setzt man voraus, dass die inhaltlichen Angebote und die Art der Vermittlung den Vorstellungen des Teilnehmers entsprechen, bedarf es zusätzlich seiner Rundumbetreuung. Der Wohlfühlfaktor, das Gefühl, wichtigster Gast zu sein und in allen seinen Anliegen und Fragen ernst genommen zu werden, ist ein genauso wichtiger Teil für den notwendigen Erfolg. Gerade hier können die Kommunen, die Kongresszentren und die Hotellerie entscheidend mitwirken und richtige Gastgeber sein.

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