Verbändereport AUSGABE 4 / 2001

Organisierte Interessen der USA im Wandel

Entwicklungslinien des amerikanischen Verbändesystems seit Mitte des 20. Jahrhunderts

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Die Vereinigten Staaten von Amerika gelten als klassisches Vorbild pluralistischer Interessenvertretung und freier verbandlicher Konkurrenz. Im Laufe der über zweihundertjährigen Geschichte hat sich dort eine sehr komplexe und auch unübersichtliche verbandliche Szenerie entwickelt, welche bis heute nur unzureichend erschlossen ist. Auf der Basis von Daten eines größeren Forschungsprojektes soll im vorliegenden Beitrag eine erste präzisere diachrone Vermessung des Spektrums organisierter Interessen der USA für den Zeitraum nach 1955 vorgenommen werden. Er versteht sich als Pilotstudie, welche im deutschsprachigen Raum forscherisches Neuland betritt, in dieser Form aber auch in der amerikanischen Literatur ohne Pendant ist.

Folgende Leitfragen liegen zugrunde: 1. Welche quantitative Entwicklung hat das Spektrum organisierter Interessen in den USA seit 1955 erfahren und welche politikfeldspezifischen Unterschiede sind dabei auf dem Hintergrund gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse zu verbuchen? 2. Wie ist die Topographie dieser Verbandslandschaft beschaffen, d.h. welche regionalen Organisationsschwerpunkte sind im Wege der Quantifizierung auszumachen, und wie sind diese zu erklären?

Diese Vermessung der amerikanischen Verbändelandschaft wird vorliegend in eine Beschreibung der vom präsidentiellen Regierungssystem gesetzten strukturellen Rahmenbedingungen für die organisierten Interessenvertretungen eingebettet.

Pluralismus als Prinzip: Grundmuster des amerikanischen Verbändesystems

Das amerikanische Verbändesystem besitzt eine pluralistische Grundstruktur. Es ist durchweg gekennzeichnet von ausgeprägter Konkurrenz zwischen verschiedenen Organisationen, die sich um dieselbe Klientel bemühen. Spitzenverbandliche Strukturen nach dem Muster deutscher Wirtschaftsverbände, in welchen eine dominierende Dachorganisation repräsentative Fach- und Fachspitzenverbände zu einem einheitlichen Gefüge vereint, sind dort die große Ausnahme. Zwar existieren auch in den USA große nationale Wirtschaftsverbände mit umfassendem Interessenvertretungsanspruch, wie die "National Association of Manufacturers" (NAM) oder die "Chamber of Commerce of the United States"; diese sind aber mit deutschen Spitzenorganisationen, wie dem BDI oder der BdA, schwer zu vergleichen, weil sie durch Direktmitgliedschaft einzelner Personen beziehungsweise Unternehmen getragen sind und nicht beziehungsweise nur partiell durch Mitgliedsverbände der Einzelbranchen. So etwa finden sich in der NAM derzeit rund 14.000 Firmen des produzierenden Gewerbes der unterschiedlichsten Bereiche, meist von kleinerer bis mittlerer Größe. Die "Chamber of Commerce" ist demgegenüber noch wesentlich heterogener, weil sie neben den knapp 3.000 lokalen, regionalen und einzelstaatlichen Kammern auch noch mehrere Tausend "Trade Associations" zu ihren Mitgliedern zählt und insgesamt derzeit so knapp 220.000 Unternehmen repräsentiert.

Die Größe und Heterogenität solcher Spitzenorganisationen begrenzt zwangsläufig ihre Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten, da sich die innerverbandliche Willensbildung und die Suche nach einem interessenmäßigen kleinsten gemeinsamen Nenner regelmäßig sehr schwierig gestalten. Gleiches gilt sinngemäß auch für den sehr fragmentierten Bereich amerikanischer Gewerkschaften, welche es ohnehin nur partiell geschafft haben, sich in einem Dachverband, der AFL-CIO, zusammenzufinden, welcher aber bestenfalls als lose Verbundorganisation mit Koordinationscharakter einzustufen ist.

Zu dieser pluralistischen Fragmentierung trägt noch bei, dass die Regional- und Lokalorganisationen der entsprechenden Bundesverbände weitgehend autonom agieren und de facto häufig als völlig eigenständige Gruppierungen auftreten, welche im Zweifelsfall auch auf Bundesebene in Konkurrenz zur "eigenen" Spitzenorganisation auftreten können, wenn nur dort ihren spezifischen regionalen Interessen zum Erfolg verholfen werden kann. Insoweit ähnelt die geographische Schichtung des amerikanischen Verbändewesens demjenigen der US-Parteien, die ähnlich anarchisch strukturiert sind und ebenfalls keine zentralisierte Organisation mit starker Bundeszentrale kennen. Die noch zu beschreibenden Muster politischer Willensbildung im präsidentiellen Regierungssystem der USA fördern diesen Sachverhalt beträchtlich.

Spezialisierte Berufs- und Fachverbände, welche sich parallel zu den Großorganisationen um die Mitgliedschaft derselben Klientel zu bemühen haben, arbeiten in der Praxis weitgehend autonom von diesen - und durchaus auch in Konkurrenz; institutionalisierte Abstimmungsprozeduren, wie sie in spitzenverbandlichen Gefügen deutscher Prägung üblich sind, können sich dort deshalb nicht entwickeln. Die im Spektrum der Wirtschaftsverbände wenigstens noch ansatzweise erkennbaren Strukturmuster fehlen bei der Vielzahl von Sozial- und Kulturverbänden, aber auch von "Public Interest Groups" ohnehin fast völlig; dort ist dem freien Wettbewerb ohne Einschränkung Tür und Tor geöffnet.

Rahmenbedingungen und Prägefaktoren des politischen Systems

Dieser ausgeprägte Pluralismus ist auch durch die Rahmenbedingungen des präsidentiellen Regierungssystems der USA entscheidend geprägt worden. Das von den amerikanischen Verfassungsvätern so gewollte System der "checks and balances" zwischen den politischen Gewalten hat in der Praxis zu einem faszinierenden Machtpoker zwischen dem Kongress und dem Präsidenten geführt: zwar existiert eine ausgeprägte institutionelle Gewaltentrennung zwischen dem direkt gewählten und damit vom parlamentarischen Vertrauen unabhängigen "chief executive" einerseits und dem Parlament andererseits, doch im politischen Alltag sind beide gerade im Bereich der Gesetzgebung durch ausgeprägte Mitgestaltungsbefugnisse zur permanenten Kooperation verurteilt: Besitzt der Kongress de iure das ausschließliche Gesetzesinitiativrecht, so stehen dem Präsidenten effektive Vetobefugnisse gegen legislative Beschlüsse des Kongresses zu Gebote.

De facto kommt, ähnlich wie in Deutschland, auch heute die Mehrzahl der Gesetzesinitiativen mit nationaler Reichweite vom Präsidenten und seiner mit der nötigen Fachexpertise ausgestatteten Ministerialbürokratie, welcher sie im Wege informellen Vorarbeitens von Kongressabgeordneten transportieren lassen muss; doch besteht der große Unterschied zu unserem politischen System darin, dass das Mitgestaltungs- und Veränderungspotential des Kongresses ungleich größer ist als dasjenige des deutschen Bundestages: Kann ein deutscher Regierungschef mit Hilfe seiner parlamentarischen Mehrheit eigene Vorlagen im Regelfall recht reibungslos durch den Bundestag schleusen, so hängt im amerikanischen Kongress alles an der Kooperationsbereitschaft der federführenden Ausschüsse beziehungsweise Unterausschüsse und insb. ihrer Vorsitzenden, welche allein durch ihre prozeduralen Befugnisse Vorlagen zum Scheitern bringen können.

Das Muster des amerikanischen Lobbyismus

Das Muster des amerikanischen Lobbyismus ist davon nachhaltig geprägt worden und besitzt im Vergleich zu den deutschen Verhältnissen ganz andere Charakteristika: der politischen Gestaltungsdominanz der Regierung und ihrer Ministerialverwaltung entsprechend konzentriert sich die politische Einflussnahme deutscher Interessenvertreter primär auf den exekutivischen Bereich und erst in zweiter Linie auf den parlamentarischen - und auch dort sind im Regelfall Abgeordnete der Regierungsmehrheit gefragter als solche der Opposition. In den USA gestaltet sich das Muster wesentlich ausgeglichener und damit auch komplexer: Sowohl im "Bereich des Präsidenten" wie auch im Kongress muss Lobbyarbeit mit gleicher Intensität erfolgen, wobei in der parlamentarischen Arena noch auf eine ausgewogene Bearbeitung von Repräsentantenhaus und Senat zu achten ist, welche im Gesetzgebungsprozess ja völlig gleichberechtigt sind.

Die Akzente der Einflussnahme sind dabei durchaus unterschiedlich: geht es im Bereich der Exekutive primär um den wirksamen "Verkauf" guter Ideen, welche sodann in konkrete Gesetzgebungsprojekte umgemünzt werden können, so kommt im Kongress auch noch der prozedurale Aspekt hinzu: einmal lancierte Initiativen müssen durch das beharrliche "Bohren dicker Bretter" über die verschiedenen parlamentarischen Entscheidungsstationen permanent betreut und befördert werden.

Gerade im Kongress kommen dabei den Interessenvertretern die Eigentümlichkeiten des amerikanischen Wahlsystems zupass: US-Parlamentarier besitzen durch das relative Mehrheitswahlrecht in Einerwahlkreisen und durch die gleichzeitige Schwäche der amerikanischen Parteiorganisationen eine ausgesprochen starke Wahlkreisbindung und -orientierung, da ihre Nominierung und Wahl vor allen Dingen von der Bevölkerung der eigenen "constituency" abhängt. Recht häufig verlegen sich also auch bundespolitisch orientierte Lobbyisten auf das "grassroot lobbying" im Wahlkreis der jeweils im Kongress für ein Projekt federführenden Abgeordneten, um im Wege der Beeinflussung der lokalen Wählermeinung Einfluss auf den Parlamentarier auszuüben. Dies gelingt im allgemeinen aber nur dann, wenn ein Projekt auch von lokalem Interesse ist; agrarpolitische Vorlagen etwa erzielen eine solche Wirkung im landwirtschaftlich geprägten amerikanischen Mittelwesten regelmäßig. Die Tatsache, dass namentliche Abstimmungen im Kongress ("roll call votes") recht häufig sind - ein weiterer Unterschied zu Deutschland - und damit das konkrete Votum des einzelnen Abgeordneten leicht ermittelt werden kann, erleichtert diesen Versuch, da dieser "personal record" im Wahlkreis jederzeit eine gute Angriffsfläche für politische Kritik birgt.

Die Vermessung der amerikanischen Verbandslandschaft: Methodische und inhaltliche Vorbemerkungen

Auf der Basis von Daten eines größeren Forschungsprojektes des Verfassers zur Entwicklung des Verbändesystems der USA seit den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts soll nun für den deutschsprachigen Raum zum erstem Mal eine umfassende diachrone Quantifizierung und Vermessung des Spektrums organisierter Interessen der größten westlichen Demokratie vorgenommen werden.

Theoretisch wie empirisch ist ein solches Unterfangen von großer Dringlichkeit, da sich zum einen an der Modernisierungsfähigkeit des Verbändesystems die politische Lernfähigkeit der größten westlichen Demokratie und damit ihrer "performance" generell ermessen lässt, was allgemeine Rückschlüsse auf die Leistungsfähigkeit moderner Demokratien ermöglicht. Zum anderen existiert bis heute keine Studie, welche eine umfassende Beantwortung dieser Fragestellung versucht hat, was wohl mit der Größe des Untersuchungsgegenstandes zusammenhängt, der sich mit ca. 27.000 Organisationen als eine wissenschaftliche Herausforderung ersten Grades erweist.

Zu diesem Zwecke wurden die seit 1956 in regelmäßigen Abständen erscheinenden Ausgaben der "Encyclopedia of Associations" ausgewertet und mit eigenen Recherchen komplettiert. So entstand eine Datenbank mit rund 140.000 Einzeldatensätzen, welche die Entwicklung des US-Verbändesytems diachron seit 1955 erschließt und dabei insb. auch die über 7.000 Verbände dokumentiert, welche im Untersuchungszeitraum wieder von der Bühne verschwunden sind. Denn nur unter Einschluss dieses Verbändespektrums lässt sich die Fragestellung der Studie wirklich valide beantworten.

Erfasst wurden dabei Nonprofit-Organisationen mit bundesweitem Wirkungsanspruch ohne Ansehen ihrer Rechtsform. Operative Stiftungen mit Verbandscharakter gehören also ebenso dazu wie die klassischen Verbände im engeren Sinne. Die solchermaßen erfassten Organisationen wurden nach 17 Politikfeldern und 100 Politiksektoren gruppiert, um die Veränderungen der sozialen Basis organisierter Interessen in den USA systematisch erschließen zu können. Die Klassifikation basiert auf derjenigen meiner deutschen Verbändestudie (Organisierter Pluralismus, Opladen, 1997), um in späteren Analyseschritten die deutsche und die amerikanische Interessengruppenszenerie systematisch miteinander vergleichen zu können. Zudem wurden die Mitgliederstärken der Organisationen sowie die territoriale Verortung ihrer Hauptquartiere erfasst. Dass im Rahmen dieser Abhandlung also nur erste Ergebnisse im Überblick präsentiert werden können, liegt aufgrund der zugrunde liegenden Datenmasse auf der Hand.

Expansion und Fluktuation: ein erster Überblick

Ein erster quantifizierender Überblick (Tabelle 1) zeigt, dass das Verbändesystem seit 1955 deutlich an Umfang zugenommen hat. Bis 1995 sind die Gesamtzahlen von knapp 9.000 auf hochgerechnet etwa 22.500 Organisationen angewachsen, also auf das Zweieinhalbfache, was sich für das Jahr 1995 auch mit den Angaben des "Statistical Abstract of the United States" deckt. Forschungsmethodisch ist generell aber als Problem in Rechnung zu stellen, dass verbandliche Neugründungen immer erst nach einigen Jahren relativ vollständig dokumentiert werden können.

Das lässt sich deutlich an den erfassten Gründungsfrequenzen ablesen, die seit Beginn der fünfziger Jahre bis 1985 auf über 3.300 je Jahrfünft anwachsen, um danach rapide abzufallen. Mit anderen Worten: derzeit sind für die Jahre 1986-90 und 1991-95 jeweils nur 1.812 beziehungsweise 700 Neugründungen erfasst - sicherlich nur ein Teil aller in dieser Zeit entstandenen Organisationen. So erschien es für diese letzte Dekade am sinnvollsten, auf der Basis einer hochgerechneten Gründungsfrequenz von 3.300, die sich an den Frequenzen der vorausgehenden Jahrfünfte orientierte, eine geschätzte Gesamtquantifizierung vorzunehmen.

Tabelle 1: Gesamtspektrum und Entwicklung des US-Verbändesystems seit 1955


Gerade für das Jahr 1995 ergibt sich dadurch ein erheblicher Unterschied zwischen knapp 20.000 faktisch erfassten und 22.500 insgesamt zu veranschlagenden Organisationen. Die bei den Gesamtzahlen zunächst überraschende Abnahme von 1990 auf 1995 um knapp 1.000 Organisationen muss dabei ebenfalls Erläuterung finden, verbergen sich doch dahinter auch hier erhebungstechnische Gründe: Denn ausgehend von der aktuellen Verbändeliste wurden frühere Ausgaben der "Encyclopedia of Associations" systematisch nach inzwischen verschwundenen Organisationen durchforstet, welche die Gesamtzahlen der Jahre 1955-90 natürlich erhöhen. Für 1990 etwa sind allein 1.703 Organisationen dokumentiert, welche fünf Jahre später nicht mehr nachweisbar sind. Für den Gesamtzeitraum 1955-90 summiert sich diese Zahl auf 7.155, von denen 3.664 nachweislich erloschen und 822 in anderen Verbänden aufgegangen sind. Für den Rest fehlen genaue Informationen.

Eine vergleichbare "Aufstockung" der Daten für 1995 fehlt mangels präziser Informationen also noch - und die Tabelle für das aktuelle Jahr 2000 gleichermaßen fortschreiben zu wollen, wäre derzeit methodisch ohnehin unredlich. Immerhin können die Gesamtdaten durch die Hochrechungsmethode bis 1995 auf eine verlässliche Grundlage gestellt werden, und sie deuten insgesamt nach einer Phase deutlichen Wachstumsbooms der Verbändelandschaft bis in die späten achtziger Jahre auf eine quantitative Konsolidierung im letzten Jahrzehnt auf hohem Niveau hin. Derzeit ist - eine weitere moderate Zunahme seit 1995 voraussetzend - von etwa 23.500 Organisationen mit bundesweitem Wirkungsanspruch auszugehen.

Politikfeldorientierungen im Wandel

Hinter diesem Anwachsen der Gesamtzahlen verbergen sich allerdings erhebliche Umschichtungen innerhalb des Verbändesystems, welche durch eine Differenzierung der erfassten Organisationen nach Politikfeldern deutlich werden, die Tabelle 2 zu entnehmen sind. Generell dokumentiert sie das überproportionale Anwachsen der Verbände der Non-Profit-Interessen gegenüber den ökonomisch orientierten. So machten etwa die Organisationen des Politikfeldes "Wirtschaft" 1955 noch gut 22% der gesamten Verbandslandschaft aus, während sie vierzig Jahre später nur mehr 14,5% verbuchen. Allerdings - und dies gilt für alle Politikfelder - verbuchen auch sie einen Absolutzuwachs um knapp 900 Organisationen. Ähnliches gilt für die Wirtschaftsorganisationen des Politikfeldes "Ernährung, Landwirtschaft, Forsten". Demgegenüber boomen "junge" Politikfelder, in welchen auch Verbände ganz anderen Zuschnitts dominieren. So etwa versechsfacht sich die Zahl der Umweltorganisationen im Untersuchungsraum von einer sehr geringen Anfangszahl von 94 knapp, und auch ihr prozentualer Anteil wächst rund auf das Dreifache. Eine vergleichbare Entwicklung ist in den Bereichen "Familie, Frauen, Senioren" und "Gesundheit zu verbuchen.

Im Rahmen der vorliegenden Abhandlung kann natürlich keine detaillierte Analyse der einzelnen Politikfelder vorgenommen werden. Generell aber ist zu konstatieren, dass sich hinter diesen quantitativen Umschichtungen auch ein Boom neuer verbandlicher Organisationsformen verbirgt: Zum einen entsteht eine Vielzahl von Selbsthilfegruppen, bürgerinitiativartigen Gruppierungen und "Public Interest Groups", welche Interessen organisierbar werden lassen, welchen man diese Fähigkeit früher noch absprach. Gerade etwa für Patienten- und Behindertenvereinigungen gilt dies in besonderem Maße. Zum anderen geben sich solche Gruppen auch häufig neuartige Organisationsformen, um die Klientel organisierbar zu machen: So kennt etwa "Greenpeace" gar keine formale Mitgliedschaft, sondern nur eine per regelmäßiger Spendenzahlungen zurechenbare Unterstützerschar, geführt von einer kleinen Stabsorganisation unternehmerischen Zuschnitts. Allerdings sind gerade solche Organisationen von konjunkturellen Interessenschwankungen - beziehungsweise der Zahlungsmoral der Spender - besonders betroffen.


Tabelle 2: Repräsentierte Politikfelder im US-Verbändesystem seit 1955 / Alte und neue Verbandssektoren: Politikfelder im Vergleich

Dieser generelle Befund wird noch deutlicher, wenn man die Mediane* (s. Anhang) der Gründungsjahre der einzelnen Politikfelder miteinander vergleicht, was in Tabelle 3 erfolgt. Sie erfassen das durchschnittliche Alter der einzelnen Politikfelder und verweisen auf die unterschiedlich großen Traditionsbestände organisierter Interessen.


Tabelle 3: Das Alter der Politikfelder und Politiksektoren im Vergleich

Auch hier stehen am oberen Ende der ältesten Felder die Wirtschaftsorganisationen, allerdings auch der Bereich philanthropischer Gruppierungen (nichtreligiöse Bruderschaften, Religionsgemeinschaften), welche im Schnitt bis in die fünfziger Jahre zurückreichen, im Einzelfall aber noch viel älter sind. Demgegenüber werden Umwelt-, Familien- und Gesundheitsverbände, aber auch solche aus den Bereichen Inneres, Justiz und Freizeit erst zwei Jahrzehnte später gehäuft gegründet.

Freilich greift es auch hier immer noch zu kurz, lediglich die Unterschiede zwischen den ganzen Politikfeldern aufzuweisen, welche ja in sich noch recht heterogen sind. Infolgedessen wurde eine weitere Segmentierung der Verbandslandschaft in insgesamt 100 Politiksektoren vorgenommen, welche die einzelnen Politikfelder untergliedern. Die vollständige Systematik findet sich im Anhang. In Tabelle 3 sind deshalb, jeweils nach Medianen der Gründungsjahre geordnet, die neun ältesten beziehungsweise jüngsten Politiksektoren aufgelistet. Bei ersteren dominieren erwartungsgemäß die Verbände der auf eine lange Tradition zurückblickenden Wirtschaftssektoren, wie der Schwerindustrie, der Textilindustrie und der Versicherungswirtschaft. So traditionsreiche Organisationen, wie die 1896 gegründete "Association of Bridge, Structural and Ornamental Iron Workers" mit 145.000 Mitgliedern, die "Clothing Manufacturers Association of the U.S.A." von 1933 mit 200 Unternehmen oder die "Independent Insurance Agents of America", die sich ebenfalls schon 1896 konstituierten, sind hier zu finden. Aber auch der Interessensektor "Eisenbahn" mit frühzeitig ausgeprägter gewerkschaftlicher Organisationsvielfalt gehört dazu.

Hinzu tritt noch das recht betagte Spektrum an nichtreligiösen, oft freimaurerischen Bruderschaften und der genossenschaftlich organisierten "fraternal insurance societies", welche hier unter der Rubrik "Sozialversicherung" verbucht sind. Dahinter verbergen sich so klingende Namen, wie der philanthropisch ausgerichtete, 1843 gegründete und "social and charitable purposes" dienende "Grand United Order of Odd Fellows" mit 108.000 Mitgliedern oder der auf das Jahr 1868 zurückgehende "Benevolent and Protective Order of Elks" mit nicht weniger als 1.500.000 Angehörigen und vergleichbarer allgemeiner philanthropischer Orientierung. Im Bereich "Sozialversicherung finden sich so traditionsreiche Verbände, wie der 1836 entstandene "Ancient Order of Hibernians in America" (191.000 Mitglieder) für katholische Amerikaner irischer Abstammung oder der "Independent Order of Forresters" von 1874 (1.400.000) als genossenschaftliche Lebensversicherungsgesellschaft der Waldarbeiter.

Der Schwenk auf die jüngsten Politiksektoren versetzt den wissenschaftlichen Betrachter gleichsam in eine andere verbandliche Welt: Dort finden sich zum einen die schon angesprochenen Bereiche "Patienten" und "Umweltschutz", welche das deutlich angewachsene gesellschaftliche Bewusstsein sowohl bezüglich sozialer wie umweltlicher Probleme manifestieren. Darunter fallen so junge Organisationen, wie die erst 1991 gegründete Vereinigung "Choice in Dying - The National Council for the Right to Die" mit bereits 160.000 Mitgliedern oder "Kids for a Clean Environment" von 1989 mit einer ebenfalls beträchtlichen Klientel von 40.000. Hinzu treten die Bereiche "Friedenssicherung" mit einer Vielzahl besonders in den achtziger Jahren aktiven Friedensinitiativen, aber auch der Sektor "Sexualität", wo sich zum einen viele Selbsthilfeorganisationen von Vergewaltigungsopfern etablieren, andererseits aber auch Vertretungen homosexueller Klientel und sexueller Abweichler. Namen, wie "People Against Rape" (gegründet 1976), "Sexaholics Anonymous" (1979), "National Gay Alliance for Young Adults" (1985) und "I Seek a Transsexual Female and Intros" (1994) sprechen hier für sich und machen deutlich, dass sich auch derlei Randgruppen heute offen organisieren - ein deutlicher Unterschied zu früheren Perioden der Prüderie.

Aber auch der Bereich der Wirtschaft hat Anteil an diesen neuen Sektoren. Zum einen ist hier der boomende Sektor von Verbraucherschutzorganisationen zu verzeichnen, zum anderen aber auch der dem Umweltschutz verpflichtete Bereich der Entsorgungswirtschaft, welcher durch eine Reihe von verbandlich organisierten Recyclingunternehmen unterschiedlichster Provenienz (Altöl, Altmetall, Müll) die Modernisierungsfähigkeit im Bereich "Wirtschaft" dokumentiert. Im letztgenannten Sektor finden sich etwa das 1987 gegründete "Institute of Scrap Recycling Industries" mit 1.600 Mitgliedern oder die "International Cartridge Recycling Association" von 1991 mit 450 Angehörigen. Gerade an diesen Beispielen zeigt sich anschaulich, dass jedes Politikfeld in sich sehr heterogen ist und sowohl alte wie neue Politiksektoren birgt. Im Anhang findet sich eine Komplettübersicht aller Politikfelder und -sektoren mit den zugehörigen Gründungsmedianen, um einer verbandlichen Landkarte gleich alle Spektren organisierter Interessen und ihr Alter synoptisch zu erfassen.

Topographie des amerikanischen Lobbyismus

Die Vielzahl dieser verbandlichen Organisationen ist dabei keineswegs gleichmäßig über das Territorium der USA verteilt, sondern aus bevölkerungsgeographischen und politischen Gründen auf bestimmte Schwerpunktregionen konzentriert, was Tabelle 4 zu entnehmen ist.


Tabelle 4: Verortung der Hauptquartiere der US-Verbände 1995

Nimmt man die Verortung der verbandlichen Hauptquartiere einmal als Messlatte, sind allein 44,8% der Gruppierungen in den bevölkerungsreichen Staaten des Nordostens beheimatet, wozu noch die 12,5% Verbände hinzuzurechnen sind, welche in der exterritorialen Hauptstadt Washington D.C. selbst residieren. Auffallend ist hierbei, dass allein der bevölkerungsreiche Bundesstaat New York mit der gleichnamigen weltstädtischen Metropole schon mehr Organisationen beheimatet als die Bundeshauptstadt selbst, was nicht zuletzt New Yorks Rolle als Finanzzentrum des Landes, Hochburg ethnischer und insb. jüdischer Organisationen sowie der Präsenz der Vereinten Nationen zuzuschreiben ist. Dabei ist aber auch in Rechnung zu stellen, dass viele der im unmittelbar südlich angrenzenden Virginia residierenden Gruppen de facto auch der Washingtoner Szenerie zuzurechnen sind, da sie gleichsam nur den grenzbildenden Potomac zu überschreiten haben, um sich im District of Columbia zu befinden. Ähnliches gilt für die knapp 800 Organisationen Marylands, das sich im Norden an die Bundeshauptstadt anschließt.

Die Gesamtzahl aller allein in Washington tätigen Lobbyisten kann mangels präziser Daten ohnehin nur grob geschätzt werden. Zahlen zwischen 20.000 und 40.000 werden gehandelt. Allein beim Kongress sind offiziell weit über 7.000 Lobbyisten registriert, aber sie bilden nur die Spitze des Eisbergs organisierter Interessenvertretung, denn die Vielzahl nicht "akkreditierter" Verbandsfunktionäre sowie von Lobbybüros einzelner Firmen und den noch näher zu beschreibenden "Public-Affairs"-Agenturen ist noch hinzuzurechnen.

Demgegenüber ist die verbandliche Dichte im bevölkerungsarmen Nordwesten vergleichsweise bescheiden; lediglich knapp fünf Prozent der erfassten Organisationen haben hier ihr Hauptquartier. Aber auch der gesamte Bereich des amerikanischen Südens ist mit diesen wesentlich dünner besiedelt, wobei hier der bevölkerungsreiche und wirtschaftlich boomende Südweststaat Kalifornien sowie das schon angesprochene Virginia deutlich herausstechen.

Politikfeldspezifische Unterschiede: Teiltopographien im Vergleich

Kurzum: eine deutliche Schwerpunktbildung im Nordosten ist zu erkennen, wobei allerdings wiederum deutliche politikfeldspezifische Unterschiede auszumachen sind, welche dieses einheitliche Muster deutlich modifizieren. Dies ist Tabelle 5 zu entnehmen. So zeigt sich zum einen, dass die verbandliche Repräsentanz in der Bundeshauptstadt selbst ganz erheblich variiert. So sind etwa philanthropische und Freizeitorganisationen mit 5,7% beziehungsweise 1,0% hier deutlich unterrepräsentiert, aber auch die des Feldes "Ernährung, Landwirtschaft, Forsten", welche hier lediglich auf 7,4% kommen. Dem stehen die Bereiche Inneres, Auswärtiges und Justiz, aber auch Verkehr, Raumordnung und Finanzen gegenüber, welche die Nähe der Bundeshauptstadt überproportional häufig suchen.

Dabei kann die unterschiedliche Provenienz und zum Teil auch Politisierung eines Interesses als Erklärung dienen: Während landwirtschaftliche Interessen traditionell in der Fläche verankert sind und Freizeitinteressen nur punktuell politische Interessenvertretung beinhalten, gilt für die übrigen genannten Politikfelder das genaue Gegenteil: außen- und allgemein innenpolitische Interessenvertretung erfolgt traditionell unmittelbar am Sitz der Bundesregierung wie auch solche finanzpolitischer Natur. So ist es also kein Wunder, dass sich am meisten Freizeitorganisationen im sonnigen Kalifornien angesiedelt haben und etwa die landwirtschaftlichen Organisationen im agrarisch geprägten Nordwesten mit 10,5% doppelt so stark vertreten sind wie die gesamte Verbändelandschaft im Durchschnitt.


Tabelle 5: Verteilung der Hauptquartiere, differenziert nach Politikfeldern

Allerdings wäre es methodisch fragwürdig, von diesen Verteilungsunterschieden auch auf entsprechend unterschiedliche Einflusspotentiale zu schließen. Denn zum einen ist grundsätzlich in Rechnung zu stellen, dass viele nicht in der Bundeshauptstadt zentral beheimateten Organisationen dort häufig eine kleine Dependance besitzen oder sich zumindest von einer Public-Affairs-Agentur vertreten lassen (s.u.).

Zum anderen eröffnen die zu Anfang beschriebenen Charakteristika des amerikanischen Regierungssystems gerade den in den Wahlkreisen wichtiger Kongressabgeordneter verankerten Organisationen im Wege des "Grass Root Lobbying" indirekt wirksame bundespolitische Einflussnahme: viele Landwirtschaftsverbände wirken am besten in der Fläche, wenn sie die Farmer der "kriegsentscheidenden" Wahlkreise mobilisieren, denn traditionell finden sich deren Abgeordnete auch schwerpunktmäßig in den mächtigen Landwirtschaftsausschüssen von Senat und Repräsentantenhaus wieder.

Alter und neuer Lobbyismus: Verbandsarbeit und Public-Affairs-Lobbying zwischen Konkurrenz und Kooperation
Sowohl aufgrund der großen räumlichen Distanzen wie auch aus finanziellen Gründen hat sich dabei im den letzten zwanzig Jahren ein zunehmendes Neben- beziehungsweise Miteinander traditioneller verbandlicher Interessenvertreter und auf kommerzieller Basis arbeitender Consultants und spezialisierter Rechtsanwaltskanzleien - sog. Public-Affairs-Agenturen - gebildet, welches die klassische lobbyistische Szenerie nachhaltig verändert hat:

Gerade in der Fläche beheimatete Kleinorganisationen beziehungsweise Unternehmen halten sich für die Vertretung ihrer Interessen in zunehmendem Maße an solche "hired guns" - so die saloppe amerikanische Bezeichnung -, welche Lobbyarbeit nach Auftrag ihrer Klienten erledigen und dies per saldo oft kostengünstiger als Verbände. Denn zum einen erspart es die Einrichtung einer eigenen teuren Repräsentanz am Sitz der Regierung, zum anderen ist es für das Gros der Organisationen gar nicht nötig, permanent lobbyistisch tätig zu sein, weil nur punktuell für sie relevante Bundesgesetzgebung erfolgt. Public-Affairs-Agenturen sind daher primär auch mit sog. Monitoring-Aufgaben beschäftigt, welche eine seismographische und eher passive Beobachtung der politischen Szenerie beinhalten und als vornehmlich dokumentierende Tätigkeit auch vergleichsweise kostengünstig sind. Nur punktuell werden diese passiven Beobachter auch zu aktiven Lobbyisten - und dies erst nach Rücksprache mit der beauftragenden Klientel. Eine Quantifizierung dieser Auftrags-Lobbyisten ist naturgemäß sehr schwierig, da ein Großteil der in Rede stehenden Agenturen - Rechtsanwaltskanzleien zumal - diese Interessenvertretung nicht ausschließlich betreiben, sondern neben klassischen juristischen Tätigkeiten. Bekannt ist aber, dass allein über 300 ehemalige Kongressmitglieder in diesem Metier arbeiten.

Unbestreitbar hat diese Spielform des Lobbyismus also erhebliche Vorteile für Kleinorganisationen ohne eigene Interessenrepräsentanz am Regierungssitz. Dem steht allerdings das strukturelle Defizit nur unzureichender Verankerung des "Public Affairs-Lobbyisten" in der vertretenen Klientel gegenüber: zwar sind auch Verbandsfunktionäre sehr häufig nicht mit diesem "Stallgeruch" versehen, weil sie als wissenschaftlich ausgebildete Hochschulabsolventen von den Organisationen angestellt werden und nicht aus ihnen erwachsen, aber sie beseitigen dieses Defizit durch die im Schnitt recht lange "Stehzeit" im Verband. Insoweit besitzen beide Lobbyismus-Typen sowohl Vorzüge und Nachteile.

Entwicklungsmuster des US-Verbändesystems: Resümee

Unbestreitbar kann der amerikanischen Verbändelandschaft attestiert werden, die gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozesse abzubilden und insoweit politische Interessenvertretung vielfältig und den sozialen Gegebenheiten angemessen zu gestalten. Ungleichgewichte im Einflusspotential unter der Vielzahl von Gruppierungen soll dabei keineswegs in Abrede gestellt werden; insoweit ist das bekannte pluralismuskritische Diktum E. Schattschneiders aus dem Jahre 1960 "The flaw in the pluralist heaven is that the heavenly chorus sings with a strong upper class accent" sicherlich bis heute nicht ohne Realitätsbezug; generell aber zeigt sich eine Entwicklung, welche doch auf eine deutlich Abmilderung dieses "upper class"- und im übrigen auch "WASP (White Anglo Saxon Protestant) accent" hindeuten, insoweit gerade im Rahmen der beschriebenen "neuen" Politikfelder und -sektoren sich gehäuft Organisationen von Benachteiligten und Minderheiten beziehungsweise Randgruppen unterschiedlichster Couleur finden, welche kaum in den Verdacht einer elitenmäßigen Verzerrung geraten können. Mit anderen Worten: das per saldo gestiegene Selbstbewusstsein der nicht der "upper class" zurechenbaren Klientelen hat auch deren verbandliches Organisationspotential erheblich gesteigert. Von einem (niemals erreichbaren) Szenario absoluter pluralistischer Ausgewogenheit im Spektrum organisierter Interessen ist man auch damit noch deutlich entfernt, doch gegenüber Schattschneiders Zeiten hat sich die Distanz um einiges verringert.

Anhang:


Politikfelder und Politiksektoren: Klassifikationssystematik (Mediane der Gründungsjahre in Klammern)

Der Median ist ein Wert zur Messung der zentralen Tendenz in Datenverteilungen ähnlich dem Mittelwert. Im Unterschied zu diesem besteht er aber aus demjenigen konkreten Wert, der alle ihrer Größe nach aufgereihten Einzelwerte in zwei Hälften teilt (Bespiel: Einzelwerte 100, 200, 300, 700, 900, 1100, 5000; Median: 700); er besitzt gegenüber dem traditionellen Mittelwert den Vorzug, durch extreme Datenausreißer kaum verzerrt zu werden (Mittelwert beim vorliegenden Beispiel durch den Extremwert 5000 auf 1185 verzerrt) und damit die zentrale Tendenz (hier: Massierung der Werte im Bereich unter 1000) von Verteilungen besser wiederzugeben. Gerade im vorliegenden Falle ist dies unabdingbar, um das tatsächliche "durchschnittliche" Alter von Verbandssektoren präzise bestimmen zu können.

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