Funktionsträger in deutschen Verbänden sehen sich heute vielfältigen Problemfeldern gegenüber. Sinkende Mitgliederzahlen, Schieflage in den Altersstrukturen, schwindende Attraktivität, abnehmende Akzeptanz der Ausübung ehrenamtlicher Tätigkeiten, unflexibles Organisationsgefüge, rückständiges Image, ... Ein Blick auf die einschlägigen Internetseiten und Fachzeitschriften genügt: die Liste ist lang. Doch wo setzen die Verbände an? Welche Themen den deutschen Verbänden auf den Nägeln brennen, untersuchte eine Studie der forum! GmbH marketing + communications.
Das Fazit: Mitgliederbeziehungs-Management und Kommunikationspolitik sind die aktuellen Herausforderungen aus Sicht der Verbände. Dass sich diese Sichtweise nicht automatisch mit der der Mitglieder deckt, zeigt ein Vergleich der Themen mit den Ergebnissen des 1. Mitgliederfocus Deutschland 2001. Er stellt die Funktionsträger vor die Aufgabe, den unterschiedlichen Prioritäten auf den Grund zu gehen.
Die Studie gab Entscheidern bedeutender deutscher Verbände im ersten Quartal 2002 Gelegenheit, ihre aktuellen Themen und Fragestellungen zu formulieren. An der telefonischen Befragung nahmen 100 Funktionsträger namhafter Großverbände (mind. 3000 Mitglieder oder mind. 10 Mio. DM Jahresetat) teil. Auskunft gaben ausschließlich die Personen, die auf der ersten Führungsebene über die verbandsintern anstehenden Top-Themen entscheiden, und zwar (Haupt-) Geschäftsführer, Vorstandsvorsitzende bzw. Präsidenten sowie Vorstands- bzw. Präsidiumsmitglieder.
Wo drückt der Schuh?
In welchen Bereichen der größte Informations-, Beratungs- und Handlungsbedarf besteht, wurde zweifach, ungestützt und gestützt aufgenommen. Zum einen über die Frage, welche Themenfelder gegenwärtig ganz besonders interessieren (vgl. Abbildung 1): Am brisantesten ist demnach das Thema Mitgliederbeziehungs-Management. An diesem äußern die Befragten am häufigsten, nämlich fast ein Drittel, spontan Interesse - vor dem Hintergrund des Mitgliederschwunds in vielen Verbänden kein überraschender Befund. Neben verbandsspezifischen Themen, die die individuellen Arbeitsschwerpunkte einzelner Verbände betreffen, erweisen sich die Kommunikationspolitik und die Organisationsentwicklung als weitere Bereiche mit hohem akutem Interesse. Mitgliederbeziehungs-Management, Kommunikationspolitik und Organisationsberatung sind damit die zentralen verbandsübergreifenden Top-Themen.
Gesonderte Erwähnung verdient außerdem der Umstand, dass der Interessenvertretung - dem originären Aufgabenschwerpunkt der Verbände - momentan vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit gewidmet wird. Von 11Prozent der Befragten angesprochen, wird es erst als fünfthäufigstes Thema genannt. (Die Prozentangaben in Abb. 1 addieren sich auf über 100 Prozent, da bei dieser offenen Frage bis zu drei Antworten gegeben werden konnten.)
Die aktuelle Wichtigkeit wurde zusätzlich zur offenen Frage durch Rangreihen gemessen (siehe Abbildung 2). Die Verbände sollten vorgegebene Themenbereiche von dem für sie wichtigsten bis zu dem für sie unwichtigsten sortieren. Dabei zeichnet sich ein ähnliches Bild ab. Auch bei dieser Frageform stehen Mitgliederbeziehungs-Management (bei 37 Prozent auf dem ersten von sechs Rängen) und Kommunikationspolitik (bei 16 Prozent auf dem ersten von sechs Rängen) im Vordergrund. Strategische Ausrichtung/Positionierung und Organisationsentwicklung folgen den beiden wichtigsten Themen relativ nah auf.
Prioritäten im Einzelnen
Legt man das Augenmerk auf mögliche Einzelthemen, ermöglicht dies eine weitere Spezifizierung der Interessensschwerpunkte: Die Verbände wurden daher gebeten, ihr Interesse an elf ausgewählten Themen auf einer Skala von 1 = „sehr interessant“ bis 5 = „überhaupt nicht interessant“ einzustufen.
Die Antworten lassen sich in drei Blöcke zusammenfassen (vgl. Abbildung 3):
- Themen, die mit hoher Aktualität und Dringlichkeit belegt sind
- Themen, denen gegenwärtig nur eine mittlere Aktualität und Dringlichkeit zugesprochen wird
- Themen von aktuell vergleichsweise geringer Aktualität und Dringlichkeit
Als Themen von hoher Dringlichkeit mit Mittelwerten zwischen 1 und 2 erweisen sich Öffentlichkeits- und Pressearbeit, Mitgliedergewinnung und -bindung, Image/ Profilierung, Zukunftspotenziale/ Strategie und Kommunikation gegenüber Mitarbeitern bzw. Mitgliedern. Mit der Ausnahme des Themas Zukunftspotenziale/ Strategie sind das alles Aspekte von Mitgliederbeziehungs-Management und Kommunikationspolitik.
Andere Themen, vor allem Themen aus der Organisation, erfahren derzeit weniger Aufmerksamkeit. Dazu gehören Fundraising bzw. Sponsoring, Prozessoptimierung, Datenbank-Management und Reorganisation, die Mittelwerte zwischen 2,6 und von 2,9 erzielen. Sie lassen sich als der zweite Block mittlerer Aktualität charakterisieren. In den dritten Block können Balanced Scorecard und Kunden Center/ Call Center zusammengefasst werden, die momentan Interessenswerte von nur 3,5 bzw. 3,7 erreichen.
Während also Kommunikationspolitik in allen Bereichen - gegenüber Öffentlichkeit, Presse, Mitgliedern und Mitarbeitern - Beachtung geschenkt wird, zentriert sich das Interesse an Mitgliederbeziehungs-Management auf Mitgliedergewinnung und -bindung, Profilierung/ Image und Kommunikation gegenüber den Mitgliedern. Andere Einzelaspekte wie Datenbank-Management und Kunden Center/ Call Center zählen nicht zu den aktuellen Themenfeldern, obwohl sie als wesentliche Bestandteile eines funktionierenden Mitgliederbeziehungs-Managements anzusehen sind.
TOP-Themen als Common Sense zwischen Verbandsfunktionären und Mitgliedern?
In namhaften deutschen Großverbänden werden also gegenwärtig klare Prioritäten gesetzt. Mitgliederbeziehungs-Management und daneben Kommunikationspolitik sind für die meisten Verantwortlichen der Verbände aktuell die wichtigsten Themen.
Doch welche Themen sind aus Sicht der Mitglieder entscheidend? Deckt sich ihre Wahrnehmung mit der Einschätzung der Verbandsfunktionäre? Oder zielt die Prioritätenliste der Verantwortlichen in den Verbänden an der eigentlichen Interessenlage der Mitglieder vorbei? Die Befunde dazu sind nicht eindeutig:
Auf der einen Seite liegt auch aus der Perspektive der Mitglieder der größte Handlungsbedarf in der Mitgliederorientierung. Dies zeigte der Mitgliederfocus Deutschland 2001 (vgl. Verbändereport 04/2002), die erste vergleichende Messung zur Mitgliederzufriedenheit in Verbänden. Denn Mitgliederorientierung beeinflusst als zentraler Imagefaktor am stärksten die Zufriedenheit der Mitglieder und wird gleichzeitig - verglichen mit anderen Imageaspekten - unterdurchschnittlich bewertet. Das bedeutet: Schätzen die Mitglieder ihren Verband hinsichtlich der Mitgliederorientierung gering ein, schlägt sich das auch in einer relativ niedrigen Zufriedenheit nieder. Ganz ähnlich verhält es sich mit der Individualität der Mitgliederbetreuung. Jene wird bei einem verhältnismäßig starken Einfluss auf die Mitgliederzufriedenheit vergleichsweise negativ beurteilt. Zukunftsorientierung, fachliche Kompetenz und Zuverlässigkeit erweisen sich im Gegensatz dazu als „Sonnenseiten“ der Verbände, die bei positiver Bewertung einen vergleichsweise starken Einfluss auf die Mitgliederzufriedenheit ausüben. Die Funktionsträger greifen diese Differenzierung auf und zeigen an denjenigen Themenstellungen das größte Interesse, die auch die Mitglieder betonen.
Auf der anderen Seite stellt der 1. Mitgliederfocus Deutschland 2001 heraus, dass für die Mitglieder die Interessenvertretung eine überragende Bedeutung einnimmt. Sie ist unter den Leistungen, die Verbände für die Mitglieder erbringen, diejenige, die am stärksten die Zufriedenheit der Mitglieder beeinflusst und gleichzeitig die stärkste Unzufriedenheit hervorruft. Die Funktionsträger griffen diesen Trend 2002 nicht auf. Sie sehen hier einen vergleichsweise geringen Handlungs- und Informationsbedarf.
Unterschiedliche Perspektiven als Chance für die Identifikation der Herausforderungen
Ein Common Sense existiert somit zum Teil: In der Auseinandersetzung mit Inhalten und Ansätzen des Mitgliederbeziehungs-Managements besteht somit sowohl aus Sicht der Funktionsträger als auch aus der der Mitglieder eine große Herausforderung. Unterschiedliche Schwerpunkte werden dagegen gegenwärtig bei der Interessenvertretung gesetzt. Was für die Funktionsträger in den Verbänden von höchstem Interesse ist, muss also nicht das sein, was aus Perspektive der Mitglieder die größte Priorität besitzt. Mitglieder und Entscheider in Verbänden beschäftigen nicht automatisch die gleichen Fragestellungen.
Doch benötigen die Funktionsträger das Wissen um die Sichtweisen der Mitglieder. Das folgende Zitat zeigt die Konsequenz aus dieser Diskrepanz für die Verbände auf:
„Ein Hauptproblem der Verbandsführung ist die Erfolgsmessung. Wann ist ein Verband erfolgreich? ... An welchen Kriterien kann man den Erfolg messen? ... Das am häufigsten genannte Kriterium ist die Zufriedenheit der Mitglieder. Um den Erfolg daran zu messen, müsste man die Zufriedenheit genau kennen. Wie man das, vor allem in größeren Organisationen ohne Umfragen bewerkstelligen will, bleibt schleierhaft!“
(Quelle: Prof. Witt, Dieter u. a.: Stand des Managements in Verbänden, Kurzergebnisse der Verbändeerhebung 1996/97. S. 19)
Die Identifikation jener Brennpunkte, die überdacht und angegangen werden müssen, setzt eine Auseinandersetzung mit den Inhalten voraus, welche für die Mitglieder selbst von größter Wichtigkeit sind. Funktionsträger können nur dann erfolgreich agieren, wenn sie die aktuellen Themen auch aus Perspektive der Mitglieder kennen. Die Herausforderung der nächsten Jahre für die Funktionsträger liegt also nicht allein in den Feldern Mitgliederbeziehungs-Management und Kommunikationspolitik, sondern auch darin, die Prioritäten der Mitglieder selbst zu analysieren und einzubeziehen.