Verbändereport AUSGABE 3 / 2002

Transformation der Verbändedemokratie

Die Modernisierung des Systems organisierter Interessen in den USA

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Blickt man auf die Entwicklung des US-amerikanischen Verbändesystems in den letzten vier Dekaden, dann lassen sich charakteristische Transformationsprozesse feststellen, die Gegenstand einer neuen Monografie des Passauer Politikwissenschaftlers und Verbändeforschers Dr. Martin Sebaldt sind. Das Werk Sebaldts, einem der Chef-Analytiker deutscher und internationaler Verbände, ist unter dem Titel „Transformation der Verbändedemokratie - Die Modernisierung des Systems der organisierten Interessenvertretung in den USA“ im Westdeutschen Verlag, Wiesbaden 2001, erschienen.

Die Untersuchung Sebaldts erstreckt sich auf die Transformationsprozesse im US-amerikanischen Verbändewesen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts; sie ist durch folgende Leitfragen charakterisiert:

  • Welchen quantitativen Umfang besitzt das amerikanische Verbändesystem?
  • Welche quantitativen Entwicklungslinien lassen sich verfolgen?
  • Welche qualitativen Transformationsprozesse sind zu beobachten?
  • Welchen Beitrag zu den gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen leisten Verbände?

USA: Wachstumsmarkt für Verbände

Die Analyse der auserordentlich umfangreichen empirischen Befunde belegt ein deutliches Wachstum des Verbändesystems in den USA seit dem Jahre 1955, dem Beginn des Untersuchungszeitraums. Zählt Sebaldt Mitte der 50er Jahre noch knapp 9.000 verbandliche Organisationen, so kommt er 40 Jahre später auf rund 24.000 Verbände.
Dabei wuchs die Vertretung von Non-Profit-Interessen stärker als das Verbändesegment, welches wirtschaftliche Interessen bündelt. Während sich die Zahl der Wirtschaftsverbände von 4.691 im Jahre 1955 auf 8.512 im Jahre 1995 erhöhte, sank gleichzeitig ihr Anteil an der Gesamtzahl der Verbände von 52,2 Prozent (1955) auf 42,9 Prozent im Jahre 1995.
Gewinner dieser Entwicklung waren Organisationen, die sich kulturellen, freizeitlichen, sozialen und politischen Aufgaben verschrieben haben. Ihr Anteil stieg von knapp 48 Prozent im Jahre 1955 auf etwa 58 Prozent im Jahre 1995. Hierbei handelt es sich nicht um ein schlichtes lineares Wachstum, sondern um ein per-Saldo-Wachstum, das sich aus dem Überschuss neu entstehender Verbände gegenüber denjenigen ergeben hat, die aus den verschiedensten Gründen ausgeschieden sind.


Dezentralisierung und „Distanz-Lobbying“ nimmt zu

Das quantitative Wachstum ist gleichzeitig durch eine regionale Dezentralisierung gekennzeichnet. Nach wie vor sind die meisten Verbände im bevölkerungsreichen Nordosten der USA angesiedelt, was nicht zuletzt auch auf die Sogwirkung der Bundeshauptstadt Washington zurück zu führen ist.


Unübersehbar ist aber die wachsende Bedeutung anderer Regionen der USA für die Ansiedlung von Verbänden. Darin spiegelt sich nach Sebaldt nicht nur die Möglichkeit eines „Distanz-Lobbyings“ wider, was nicht zuletzt auf die technischen Kommunikationsmittel der jüngsten Vergangenheit zurückzuführen ist, sondern auch auf die wachsende Entfaltung der von Verbänden vertretenen Interessen, die sich eben nicht mehr nur auf die klassischen Felder Politik, Wirtschaft und Soziales beschränken.


Pursuit of Happiness, Kulturation und Säkularisierung

Ausgehend von der theoretischen Überlegung, dass individuelle und soziale Modernisierungsprozesse Verbände hervorbringen müssten, die zur Befriedigung individueller Ansprüche und zur Lösung sozialer Risikolagen gegründet werden, stellt Sebaldt in seinen empirischen Befunden tatsächlich ein überproportionales Wachstum dieser Verbandssektoren fest.

Das folgende Schaubild veranschaulicht diese Entwicklung:

 

Verbände tragen aber auch zur kulturellen Modernisierung bei. Auch hier galt, die folgenden Thesen zu testen: die kommunikative Vernetzung der Gesellschaft und das exponentielle gewachsene Wissen müsste auch Verbände, die sich diesem Themenkreis verpflichtet wissen, entsprechend anwachsen lassen. Ferner müsste im Blick auf die gesellschaftliche Säkularisierung ein Stagnieren religiöser Gemeinschaften und ein komplementärer Boom moderner philanthropischer Vereinigungen feststellbar sein. Auch diese beiden Thesen ließen sich an Hand der empirischen Befunde Sebaldts bestätigen.

Legt man den US-Verbänden für das Jahr 1955 den Indexwert 100 zu Grunde, so erreichten alle US-Verbände im Jahre 1995 einen Indexwert von 220,7. Überproportional dagegen das Wachstum der kulturell orientierten Verbände:

 


Aufgrund dieser empirischen Befunde kommt Sebaldt zu folgenden theoretischen Schlussfolgerungen:


- Zwei Hauptgründe für die wachsende Zahl der Verbände
Die Expansion der Verbände ist nur zum Teil auf neu entstehende Interessensfelder zurückzuführen, die naturgemäß in der Vergangenheit noch keine Rolle spielen konnten. Beispiele hierfür sind der Kommunikations- und Informationssektor. Teilweise beruht die Zunahme der Zahl der Verbände aber auch auf einer gewachsenen Konkurrenz innerhalb der einzelnen Interessenspektren, die zur Abspaltungen und Neugründungen führen. Denn Verbände können umso besser agieren, je homogener und stromlinienförmiger die Interessen sind, die sich unter ihren Fahnen sammeln. Trotz der weit verbreiteten entgegenstehenden Annahme, dass die Zahl der Verbände durch Fusionsprozesse letztlich schrumpfe, belegt Sebaldt eindrücklich den Irrtum dieser Annahme: Per Saldo entstehen bedeutend mehr Verbände, als ihre Zahl durch Liquidation oder Fusionen abnimmt.


- Wachsendes gesellschaftliches Organisationspotential
Sebaldt schließt daraus, dass das Organisationspotential von Interessen im Zuge der vielfältigen Modernisierungsprozesse kontinuierlich gewachsen ist. Dies führe zu einer zunehmenden sozialen Selbststeuerung wesentlicher Teile der Gesellschaft im Rahmen einer Zivilgesellschaft. Dies zeuge von einem gewachsenen Selbstbewusstsein bisher „schweigender, leidender“ Klientelen, die mittlerweile den Sprung zur schlagkräftigen Formierung geschafft hätten. Patientenorganisationen, Vereinigungen für Behindertenselbsthilfe sowie Verbraucher- und Umweltschutzorganisationen oder Interessenvertretungen ethnischer Minderheiten würden dies belegen.


- Projektorientierte Verbandsloyalitäten
Dabei sei einerseits zu beobachten, dass klassische Verbandsorganisationen unter der schwindenden Loyalität ihrer ehrenamtlichen Funktionsträger zu leiden hätten, die immer öfter ihre Mitarbeit nach einer Kosten-Nutzen-Kalkulation bewerten würden. Doch sei dies nur die eine Hälfte der Medaille. Denn gleichzeitig würden Verbandsmitgliedschaften zweck- und projektorientiert gesucht, um bestimmte Ziele durchzusetzen. Dies bewirke einerseits eine hohe Mitgliederfluktuation, da es sich um eine ausgesprochen „volatile Klientel“ handele, die bisweilen sogar formelle Mitgliedschaften ablehnen würde und lediglich durch Spenden oder Solidaritätsbekundungen den Vereins- und Verbandszweck fördern würden.


- Erhöhter Lerndruck für das politische System
Die Ausweitung der Zivilgesellschaft erhöhe zugleich den Lerndruck auf das politische System. Bei Sebaldt heißt es hierzu: „Weniger denn je dürften klassische neokorporatistische Arrangements (Tripartismus in den Arbeitsbeziehungen, monopolartige Spitzenverbände, konzertierte Aktionen) für die Interessenvermittlung zwischen Staat und organisierten Interessen taugen, da sie auf Grund der immer weiter anwachsenden Heterogenität der Verbandslandschaft immer weniger dazu in der Lage sind, diese komplexe Gemengelage adäquat abzubilden: Die Gremien solcher Arrangements sind mehr denn je dazu verurteilt, eine verkürzende und verzerrte Auswahl von Interessenvertretern zu beinhalten, wie etwa die reichlich willkürliche Zusammensetzung der konzertierten Aktion im Deutschen Gesundheitswesen zeigt. Nicht zuletzt deshalb ist ihr Wirkungsgrad sehr gering und ihre Akzeptanz beklagenswert. Eine pluralistische Auflockerung der Entscheidungsnetzwerke zwischen Staat und Gesellschaft ist daher unumgänglich, um Heterogenität, Pluralisierung und Volatilität moderner Verbandslandschaften gerecht zu werden, ein Maximum an Inputs abschöpfen zu können und nicht in die Gefahr zu kommen, pathologisch zu lernen.“


- Wachsende Entscheidungskosten
Damit wachsen auch die Entscheidungskosten des politischen Systems an. Denn der Vorzug neokorporatistischer Arrangements bestand ja gerade darin, den Staat durch hierarchische, spitzenverbandliche Strukturen von der Aufgabe des Interessensausgleichs zu entlasten. Sebaldt: „Die verbandlichen Verhandlungspartner der öffentlichen Hand präsentierten gleichsam auf dem Silbertablett den zuvor mit den eigenen Mitgliedsorganisationen ausgehandelten Kompromiss und ersparten es damit dem Staat, selbst nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner der konfligierenden Interessen zu suchen.“


- Issue Networks lösen Hierarchien ab
Die steigende Komplexität der netzwerkartig verknüpften Interessensvertretungen führt zu einem Anstieg der Autonomie von Teilnetzen, die eben nicht mehr allein hierarchisch ausgerichtet sind. Die Koordination zwischen der wachsenden Zahl dieser Teilnetzwerke werde damit immer schwieriger und die „issue networks“ in den USA, in denen Parlamentarier, Ministerialbeamte und Lobbyisten systematisch zusammengeführt würden, gewönnen eine erhebliche Gestaltungautonomie. „Die koordinierende, alles überwölbende invisible hand“ ist dabei umso weniger vorhanden, als ein systematischer, programmatischer „Masterplan“ von dort auf Grund der strukturellen Schwächen der Parteien gar nicht existieren kann.“ Sebaldts Fazit: „In Europa ist dieses Problem noch nicht so ausgeprägt, doch auch hier wird die wachsende Pluralisierung der Interessenlandschaft eine Amerikanisierung der politischen Entscheidungsstrukturen befördern.“

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