„Die Verbände haben sich immer gewandelt und sind mit der Zeit gegangen. Sie befinden sich nicht in der Erosion, auch der Wandel der Mitgliedschaft und des Umfelds kann gestaltet werden. Verbände befinden sich stattdessen in einer ganz normalen Transformation.“ Das Eröffnungsstatement Prof. Ulrich von Alemanns könnte nicht nur Leitmotiv, sondern auch Fazit des 11. Deutschen Verbändekongresses am 7. und 8. April 2008 in Düsseldorf gewesen sein. Den kompletten Text seines bemerkenswerten Eröffnungsvortrages präsentieren wir nachfolgend in ungekürzter Fassung.
Wir leben in einer organisierten Gesellschaft. Wem sage ich das? Den Vertretern von Hunderten von Verbänden zur Eröffnung des 11. Deutschen Verbändekongresses. Ist das originell oder ist es ein Gemeinplatz, eine wohlfeile Floskel? Heißt es nicht „Eulen nach Athen tragen“, Ihnen, den Vertretern des Deutschen Verbändewesens, in Erinnerung zu rufen, dass wir in einer organisierten Gesellschaft leben?
Nein, es ist keine Floskel. Es ist ein Statement. Denn es gibt konkurrierende Bezeichnungen unserer Gesellschaft von heute: Risikogesellschaft, Mediengesellschaft, Wissensgesellschaft, Informationsgesellschaft. Und sicher gibt es noch ein Dutzend weiterer solcher Bezeichnungen. Ich meine mit organisierter Gesellschaft, dass wir in einer freien, freiwillig organisierten Gesellschaft leben. Dieses hohe Gut sollten wir uns ab und an in das Gedächtnis rufen und uns dessen versichern. Autoritäre Staaten fürchten und verfolgen freie Verbände, Vereine, Bürgerinitiativen, Selbsthilfegruppen, unabhängige Vereinigungen. Offene Gesellschaften sind freiwillig organisierte Gesellschaften, sind Zivilgesellschaften, sind Bürgergesellschaften, die das Grundrecht und das Bürgerrecht auf Vereinigungsfreiheit hochhalten. Denn es ist ein Kennzeichen freiheitlicher Demokratien, dass es freiwillige Organisationen gibt. Von den fast 200 unabhängigen Staaten der Welt ist dieses Freiheitsrecht ohne jede Einschränkung höchstens in drei Dutzend voll realisiert. Wir müssen nur morgens in die internationale Berichterstattung unserer Zeitung schauen, um zu sehen, wo überall in der Welt das Recht auf Selbstorganisation bedroht und verletzt wird.
Die Geschichte der Demokratie
Die Geschichte der Demokratie – und auch die Geschichte unserer Demokratie in Deutschland – ist deshalb eine Geschichte ihrer freiwilligen Assoziationen. Vor 160 Jahren 1848 in der Paulskirche in Frankfurt am Main blitzten dieses Recht und diese Praxis auf freiwillige Organisation zum ersten Mal in einem gesamtdeutschen Verfassungsentwurf auf und wurden schnell wieder niedergeschlagen. Die ersten freiwilligen Wirtschaftsverbände waren viel früher gegründet worden: 1819 der „Deutsche Handels- und Gewerbeverein“ und 1825 der älteste noch heute bestehende Verband, der „Börsenverein des Deutschen Buchhandels“. Indirekte Vorgänger der Verbände waren schon seit dem Mittelalter die Gilden und Zünfte: Aber das waren Zwangskorporationen mit strikten Regeln und rigiden Zutrittsbeschränkungen, die in den heutigen Kammern mit ihrer Zwangsmitgliedschaft noch späte Nachfahren erleben.
Das „lange“ 19. Jahrhundert, wie es die Historiker nennen, bis zum Ersten Weltkrieg erlebte einen Gründerboom der Verbände ohnegleichen, zu denen im letzten Drittel des Jahrhunderts auch die Gewerkschaften, die politischen Parteien und das ganze bürgerliche Vereinswesen stießen. Endlich konnte dann mit der Weimarer Republik für die Verbändelandschaft ein demokratisches Fundament begründet werden, das aber brüchig und labil blieb.
So hatten die Nationalsozialisten ein leichtes Spiel, den ganzen „Wildwuchs“ freier Verbände hinwegzufegen, gleichzuschalten und einzelne Widerstände gewaltsam auszuschalten. Zwangskorporationen nach dem Führerprinzip traten an deren Stelle. Das totalitäre Führerprinzip verhinderte auch den Ausbau eines „korporativen Staates“, den einzelne Nazi-Ideologen gefordert hatten und dem Mussolini mit dem „stato corporativo“ anhing – jedenfalls auf dem Papier. Dann hätten statt des Parlamentes berufsständische Vertretungen – Korporationen – das Sagen gehabt, eine Idee, die in den 20er-Jahren von rechts bis links in vielen Hirnen herumspukte. Das alles kollabierte 1945, wenn man auch nicht vergessen sollte, dass sich diese Ideen im Portugal Salazars und im Spanien Francos bis in die 70er-Jahre an der Macht hielten.
„Die freie soziale Gruppenbildung“
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland von 1949 garantiert ein freies Verbandswesen, wenn es in Art. 9 bestimmt: „Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden.“ Ein Fundament der Demokratie des Grundgesetzes ist damit „die freie soziale Gruppenbildung“ (wie es der große Verfassungsrechtler Konrad Hesse formuliert hat). Dies stehe kaum hinter anderen fundamentalen Grundrechten, wie der Meinungsfreiheit, zurück. Gewährleistet werden die freie Bildung von Vereinigungen, deren Bestand und Tätigkeit und der freie Beitritt (das heißt die positive Vereinigungsfreiheit). Aber genauso garantiert wird auch die Kehrseite davon, die Freiheit, einer Vereinigung fernzubleiben (das heißt die negative Vereinigungsfreiheit). Öffentlich-rechtliche Zwangsvereinigungen, wie Körperschaften des öffentlichen Rechts, können nur auf gesetzlicher Basis von der Freiwilligkeit ausgenommen werden.
Einen Spezialfall der allgemeinen Vereinigungsfreiheit bestimmt der Absatz 3 des Art 9 GG, der „für jedermann“ (nicht nur für Deutsche, wie der erste Absatz) und alle Berufe das Recht gewährleistet, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden. Das bedeutet das Koalitionsrecht für Gewerkschaften und Arbeitgeber und garantiert damit auch die Tarifautonomie. Die Verbände erhalten hiermit einen großen Freiheitsraum verbrieft, die Regeln des Arbeitslebens selbst zu bestimmen. Viele Versuche, dies einzugrenzen, sind gescheitert, zum Beispiel durch ein Verbändegesetz Ende der Siebzigerjahre.
Die Autonomie der Verbände
Die Autonomie der Verbände ist erfreulich. Das Grundgesetz ist aber bei den Parteien im Artikel 21 noch ein ganzes Stück weiter gegangen. Denn ihnen wird positiv und explizit bescheinigt, dass sie an der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken. Die Verbände können sich nur damit trösten, dass sie wohl auch implizit mitgemeint sind, ohne dass sie explizit angesprochen sind. Denn es ist ja nur von „Mitwirkung“ der Parteien die Rede. Also wirken die Verbände auch – irgendwie – an der politischen Willensbildung des Volkes mit, wie beispielsweise auch die Medien. Und es gibt noch ein weiteres „Parteienprivileg“, wie es die Verfassungsrechtler nennen. Nur die Parteien dürfen allein vom Bundesverfassungsgericht bei Verfassungsfeindlichkeit verboten werden. Vereinigungen, die gegen die verfassungsmäßige Ordnung sind, so bestimmt es Art. 9 GG, Abs. 2, „sind verboten“, ganz schlicht und ergreifend. Das Verbot wird von den zuständigen Behörden, zum Beispiel dem Innenminister, ausgesprochen. Natürlich steht den Verbänden auch keine staatliche Teilfinanzierung, wie den Parteien, zu. Aber Zuschüsse, Steuerabzugsfähigkeit oder Aufträge an Verbände sind natürlich nicht verboten.
Zwischenfazit: Die Verbände haben in Deutschland einen geschützten Grundrechts-Status erreicht, werden als demokratische Grundsubstanz anerkannt, aber sind längst nicht so privilegiert wie die politischen Parteien.
Ein Gemeinwohl gibt es unzweifelhaft …
Die Wissenschaft hat sich zwar schon früh des entstehenden Verbändewesens im 19. Jahrhundert angenommen, aber eher durch Außenseiter. So wie Otto von Gierke, der 1868 ein „Deutsches Genossenschaftsrecht“ publizierte. Seine Idee, Staat und Gesellschaft seien ein „System mannigfach sich überkreuzender Verbände“, war eine ungemein moderne. Aber sie stand im Konflikt mit der herrschenden Lehre des 19. und weit ins 20. Jahrhundert hinein. Der Staatsmonismus dominierte, also die Vorstellung eines allmächtigen und sorgenden Vater Staates, wie Heinrich von Treitschke es auf den Punkt brachte: „Ein Gemeinwohl gibt es unzweifelhaft, weil es einen Staat gibt.“
Die Theorie des Pluralismus, die besagt, dass es keinen Monismus, sondern eine Vielzahl von Kräften, eben auch von Verbänden gibt, die an der Staatswillensbildung teilhaben, hat es kaum vermocht, sich in der Weimarer Republik durchzusetzen. Zu jener Zeit kamen auch radikale Pluralismus-Theorien auf. Sie postulierten, dass alle Organisationen gleich seien, auch die des Staates. Es gäbe keine Hierarchie. So der britische Sozialist Harold Laski.
Nach dem II. Weltkrieg erkannte insbesondere Ernst Fraenkel die Gefährlichkeit eines solchen anarchistischen Modells, das auch ein radikales Marktmodell sein kann. Denn es müsse eine Kraft geben, die die Spielregeln des pluralistischen Marktes reguliert. Fraenkel ist dafür in den Siebzigerjahren viel gescholten worden. Aber er hat recht behalten. Neopluralismus, wie er es nannte, bedarf eines „Kartellamtes“ zur Gewährleistung demokratischen Wettbewerbs. Schlüsselbegriff ist die Aussage: kein Grundrecht, also auch keine Vereinigungsfreiheit, für die Feinde der Grundrechte.
Die Pluralismustheorie
Die Pluralismustheorie der Einbindung der Verbände wurde in den Nach-68-Zeiten viel gescholten, weil sie blind sei für die Asymmetrien zwischen mächtigen Verbänden des Kapitals einerseits und weitgehend ohnmächtigen der Arbeit, später der Umwelt und der Bürger andererseits. Stattdessen hat man in den 80er-Jahren Theorien des Korporatismus diskutiert. Sie postulieren, dass Staat sowie Verbände von Kapital und Arbeit kooperieren und sich koordinieren, zum Beispiel in der konzertierten Aktion der ersten Großen Koalition oder im Bündnis für Arbeit unter Schröder, um bindende Vereinbarungen zu schließen. Auch darüber ist es still geworden.
Heute ist nicht mehr die Zeit der Großtheorien und Ideologien. Für die Verbände ist eine kritische Pluralismustheorie, die nicht postuliert, dass automatisch alles zum Besten steht, wenn nur Vereinigungsfreiheit herrscht, ein unhinterfragter Standard geworden. Man beschäftigt sich mehr mit den eigentlich spannenden Detailfragen. Dritter Sektor, Zivilgesellschaft, Bürgergesellschaft, NGOs, NPOs oder assoziative Demokratie im Zeichen von Gouvernance: Dies sind die Schlagworte, die in der Wissenschaft derzeit diskutiert werden. Aber das ist alles nicht ganz neu und eher Themenkonjunkturen geschuldet.
Ordnungskriterien für Verbände
Zurück von der Theorie zur Empirie der Verbände. Wie sieht die Realität, die Wirklichkeit der deutschen Verbände aus? Darauf kann man nur antworten: kompliziert oder noch besser, komplex. Es gibt kleine und große Verbände. Das ist nicht trivial, sondern epochal. Denn die Grundregel der economy of scale – die Größe macht’s, sie bringt Mitgliedsbeiträge oder politisches Drohpotenzial vor Wahlen – gilt bei Verbänden keineswegs generell. Es gibt Dachverbände mit hohem Einfluss, die weniger als ein Dutzend Mitglieder haben, nämlich Einzelverbände.
Selbst bei den Gewerkschaften, die sich weitgehend aus kleinen Mitgliedsbeiträgen finanzieren und bei Arbeitskämpfen eine breite Anhängerschaft in den Streik führen müssen, machen in der letzten Zeit die kleinen Kampftruppen Furore: Cockpit der Piloten, Marburger Bund der Ärzte oder GDL der Lokomotivführer demonstrieren ihre Stärke. Es kommt deshalb nicht auf die Größe, sondern auf den Organisationsgrad und die Schlüsselposition an, die einen Verband stark machen. Der Soziologe Claus Offe hat schon in den 70er-Jahren die beiden Kriterien Organisations- und Konfliktfähigkeit als die entscheidenden Parameter für Verbandsmacht benannt.
Neben der Größe kann man die Vielfalt der Verbände noch nach weiteren Kriterien unterscheiden und ordnen: Rechtsstatus: eingetragene Vereine nach dem Vereinsrecht des BGB und nichteingetragene Vereine (wie zum Beispiel die meisten Gewerkschaften oder viele Bürgerinitiativen). Organisationsmodus: Mitgliedervereine oder Dachverbände (Verbände von Verbänden). Interessentypus: Verbände für wirtschaftliche Interessen oder für ideelle und gemeinnützige Interessen (in den USA private interest und public interest organizations). Strukturtypus: traditionelle Vereine/Verbände und unkonventionelle Vereine/Verbände (zum Beispiel alte Naturschutzbünde vs. junge Umweltinitiativen und neue soziale Bewegungen oder traditionelle Frauenverbände – Bund katholischer Unternehmerinnen – vs. neue feministische Gruppen). Aktionstypus: serviceorientiert nach innen gerichtet oder einflussorientiert, nach außen gerichtet (von G. Lehmbruch Mitgliedschaftslogik und Einflusslogik genannt; in der Regel gibt es Mischformen wie beim ADAC, vorrangig serviceorientiert, aber auch auf Einfluss bedacht).
Auf diesem Verbändetag dominieren sicher die traditionellen Verbände für wirtschaftliche Interessen, die sowohl service- als auch einflussorientiert sind. Aber ich bin sicher, dass ich hier keine homogene Versammlung vor mir habe, sondern dass auch dieser Saal die ganze Fülle und Vielfalt der zerklüfteten Verbändelandschaft widerspiegelt. Jeder und jede von Ihnen, die Sie aus diesen ganz unterschiedlichen Verbänden hierher gekommen sind, weiß, wie schwierig es ist, die ebenfalls höchst divergierenden Mitgliederinteressen auch nur eines Verbandes unter einen Hut zu bringen. Ich ziehe meinen Hut aus Respekt vor den Veranstaltern, denen es gelungen ist, die noch weit unterschiedlicheren Interessen des gesamten Verbändespektrums hier in einen Saal zu bringen.
Von der Wandelhalle bis zur pressure group
So vielfältig und vielgestaltig die Verbände auch sind, so haben sie doch viele Gemeinsamkeiten in ihren Handlungsformen und ihren Aktionsfeldern. Der erste und ursprüngliche Adressat für die Beeinflussung durch Interessenverbände war das Parlament. Dessen Wandelhalle, die Lobby, lieh auch der politischen Einflussnahme ihren Namen. Auch heute bleiben die Abgeordneten wichtige Ansprechpartner für Verbände jeglicher Couleur, denn das Parlament bleibt der Gesetzgeber. Die „Lobbyliste“ beim Deutschen Bundestag macht transparent, welche Verbände auf den parlamentarischen Entscheidungsprozess Einfluss nehmen wollen. Natürlich gibt es auch Einfluss, der nicht von der Lobbyliste erfasst wird.
Das Ziel erster Wahl für Interessenverbände sind aber nicht die Parlamente oder die Parteien, sondern die Regierungen. Da die Gesetzesvorbereitung von der Legislative in die Exekutive gewandert ist, ist der große Apparat der Ministerialbürokratie der Ort, an dem die entscheidenden Vorentscheidungen gefällt werden. Kluge Interessenvertreter werden nicht nur den Kaminabend im Kanzleramt, sondern die kontinuierliche Kommunikation zur mittleren Entscheidungs- und zur Arbeitsebene in den Referaten der Ministerien oder natürlich auch zu den Generaldirektorien der Brüsseler Kommission suchen. Interessenverbände erfahren so oft früher als das Parlament selbst von Gesetzesplänen im Referentenstadium. Experten der Interessengruppen sind vielfältig in die Arbeitsweise der Ministerialbürokratie verwoben, wie wir seit Neustem auch aus einem Monitum des Bundesrechnungshofes wissen, der rügt, dass Firmen und Verbände sogar Personal an die Ministerien ausgeliehen haben. In den Ressorts gab es allerdings immer schon Netzwerke, in denen Exekutive und Interessengruppen, teilweise mit Parlamentsausschüssen, eng zusammenarbeiten („Grüne Front“, „Fachbruderschaften“). Netzwerkanalyse ist deshalb auch ein neues methodisches Stichwort für die Wissenschaft.
Schließlich sind die Öffentlichkeit und die Medien als wichtige Adressaten von Verbänden zu nennen, je nachdem, ob direkte oder indirekte Einflussstrategien bevorzugt gewählt werden. Dies geschieht einerseits durch Eigenpublikationen (ADAC-Motorwelt, Apotheken-Rundschau), andererseits durch indirekte Public-Relations-Aktivitäten oder Sponsoring. Free media (eine Meldung in den Nachrichten) ist nicht nur billiger, sondern meist auch wirksamer, weil glaubwürdiger als paid media (das heißt eine bezahlte Anzeige).
Das gesamte Spektrum der Aktionsformen von Interessenverbänden ist nahezu unerschöpflich. Es reicht vom Anruf bei einem Abgeordneten, von Pressekonferenzen oder Großdemonstrationen und Streik bis zur wissenschaftlichen Expertise oder auch in den grauen Bereich der Schattenpolitik, zu Ämterpatronage, Druckausübung (pressure, deshalb auch der Ausdruck pressure group), Nötigung, Erpressung und Korruption. Ich muss das hier nicht vertiefen, man kann es jeden Tag in den Medien nachlesen. Aber man muss sich damit auseinandersetzen. Denn die schwarzen Schafe belasten die ganze Zunft. Lobbyismus ist völlig legitim, aber er muss glaubwürdig und korrekt sein, um dem früheren Stereotyp der Manipulation in Hinterzimmern zu entfliehen. Deshalb sind auch Regulierungen und Selbstverpflichtungen durch Ethik-Codices unvermeidlich, wie jetzt wieder auf der europäischen Ebene diskutiert wird.
Wandel im Verbändewesen von Innen …
Der Wandel des Verbändewesens in den letzten beiden Jahrzehnten seit etwa der deutschen Einigung ist ein innerer und ein äußerer. Zunächst zum inneren Organisationswandel. „Der Organisationsgrad sinkt. Beiträge brechen weg.“ Dieses Zitat sagte nicht ein Gewerkschaftsvorsitzender, der die drastisch schrumpfenden Mitgliederzahlen der DGB-Gewerkschaften beklagt. Es stammt auch nicht von einem Parteivorsitzenden der Volksparteien, denen die Mitglieder weglaufen, oder aus den Kirchen, die sich um immer weniger Seelen sorgen müssen. Das Zitat – „der Organisationsgrad sinkt. Beiträge brechen weg“ – stammt vom Präsidenten des Deutschen Handwerks, Otto Kenzler, aus seiner Rede in der Handwerkskammer Regensburg vom 17.8.2005.
Zum Schrumpfen des Organisationsgrades kommt noch ein deutlicher Wandel der inneren Mitgliederstruktur von Verbänden. Denn häufig verlieren sie gerade die jungen Mitglieder oder können sie nicht werben. Auch in wirtschaftlichen Schlüsselbereichen, wie der IT-Branche, ist Mitgliedschaft sowohl in Gewerkschaften als auch in Wirtschaftsverbänden schwer zu realisieren. Der demografische Wandel mit Schrumpfung der jungen Alterskohorten bewirkt ein Übriges. Vergreisen die Verbände? Schauen Sie sich einmal um im Saal. Trifft das auf diesen Verbändekongress zu?
Ursachen und Folgen der Organisationsmüdigkeit sind vielfältig. Sicher gibt es einen Wertewandel weg von traditionellen kollektiven Bindungen hin zu mehr Individualität und Eigenverantwortung. So wie die Stammwähler schwinden, die wie Papa und Opa die gleiche Partei wählen, so schrumpfen Mitglieder, die sich nur aus Tradition binden. Mitglieder kalkulieren heute genauer Kosten und Nutzen ihres Beitrages. Das ist keine Krise, das ist höchst vernünftig. Es gibt aber noch eine Reihe von anderen Gründen als der etwas vage Wertewandel von kollektiven zu individuellen Normen. Information und Kommunikation, die früher eine Mitgliedschaft erforderte, um Insiderkenntnisse zu erlangen, sind heute durch Medien und Internet oft kostengünstiger zu haben. Auch das Zeitbudget spielt eine Rolle. Aktive Mitgliedschaft ist aufwendig und konkurriert heute mit viel mehr Angeboten als vor einigen Jahrzehnten.
So vielfältig die Ursachen, so zahlreich die Reformvorschläge. Mehr Information, mehr Identifikation, mehr Service, mehr Transparenz, mehr Kompetenz, mehr Partizipation, mehr Professionalität – Sie alle werden selbst und im Detail auf diesem Verbändekongress Handlungsperspektiven und -alternativen diskutieren. Jedenfalls gilt der alte Satz: Ein Mitglied zu halten ist billiger, als eines zu werben. Die Motivation zur Mitgliedschaft in freiwilligen Organisationen ist ein kostbares und zerbrechliches Gut, ist ein Kristall, das es zu behüten gilt. Der Responsivität der Organisation für die Bedürfnisse der Mitgliedschaft muss deshalb die ganze Aufmerksamkeit der Verbandsführung gelten.
… und von Außen her
Schließlich wandelt sich die Verbändelandschaft aber nicht nur von innen her. Wobei natürlich auch hier die Gründe oft aus dem äußeren Umfeld resultieren. Sondern sie wandelt sich auch in ihren Außenbeziehungen. Interessenverbände und Lobbyismus galten früher fast als Synonym. Nicht zuletzt deshalb heißt die Lobbyliste beim Bundestag, die eine Verbändeliste ist, so.
Natürlich hatten die Interessenverbände nie ein totales Monopol für politischen Einfluss. Ein Abs oder ein Pferdmenges brauchten keine Verbände, um das Ohr des Bundeskanzlers zu erreichen. Dennoch bildeten Interessenverbände einen der wichtigsten Einflusskanäle in die politische Willensbildung. Das hat sich geändert. Von drei Seiten droht den Verbänden Konkurrenz in der Interessenvermittlung: von Unternehmen, Agenturen und Medien.
Unternehmen, die sich das nach ihrer Größe leisten konnten, haben zwar immer schon eigene Repräsentanzen am Sitz der Regierung unterhalten, aber dies hat eher zugenommen, insbesondere auch in Brüssel. Mehrere Repräsentanzen zu unterhalten, können sich nur wenige Konzerne leisten, sodass die Schere zwischen dem Einfluss großer Unternehmen und KMUs weiter auseinandergeht.
Agenturen, die neben PR- oder Wirtschaftsberatung auch Politikberatung betrieben, sind auch nicht ganz neu. Aber sie sind heute von einer Randerscheinung zu einer ernsten Konkurrenz für die klassischen Interessenverbände geworden. Public-Affairs-Unternehmen schießen wie Pilze aus dem Boden. Internationale Großkanzleien übernehmen Full Service für ihre Mandanten, dazu kann auch legislative und regulative Beratung gehören.
Medien sind die Herrscher der öffentlichen Agenda. Sie sind die Gatekeeper für Agenda Setting und Agenda Cutting. Medien verstehen sich nicht mehr als Sprachrohr der Öffentlichkeit, die einfach das drucken, was interessiert. So wirbt noch täglich die renommierteste Zeitung der Welt, die New York Times, auf ihrem Titelblatt: „All the news that’s fit to print“. Das ist altes Denken. Aktiver Kampagnen-Journalismus bestimmt heute die Medienwirklichkeit. Und das interveniert mit den Interessen von Verbänden beispielsweise im Umweltbereich. Hier kollidieren oder koalieren mit den Medien die Verbände von Greenpeace, der Wirtschaft, Agrarinteressen oder Parteien und Regierungen.
Panta Rhei
Ich komme zum Schluss. Alles fließt, sagte schon der griechische Philosoph Heraklit. Das gilt auch für das Verbändewesen. Und dabei habe ich viele weitere Megatrends noch gar nicht abgehandelt, beispielsweise die Europäisierung und die Globalisierung der Verbände. Dies würde den Rahmen dieser Einführung sprengen. Das wäre ein Thema für sich.
Mein Fazit lautet, dass die Verbände vor großen Herausforderungen stehen. Ich habe einige davon benannt. Mein Rat lautet: Lassen Sie sich dadurch nicht beirren. Es ist nicht die erste der Herausforderungen. Die Verbände haben sich immer gewandelt und sind mit der Zeit gegangen, ob im Kaiserreich, in Weimar, in der Nachkriegszeit oder seit der deutschen Einigung. Die Verbände befinden sich nicht in der Erosion, auch der Wandel der Mitgliedschaft kann gestaltet werden. Die Verbände befinden sich stattdessen in einer ganz normalen Transformation. Wohin dieser Wandel geht, das liegt auch in Ihrer Hand.