Was die Interessenvertretung industrieller Großunternehmen in der Hauptstadt betrifft, so verliert der klassische Lobbyismus Bonner Prägung zunehmend an Bedeutung. Dies sind die wesentlichen Ergebnisse einer Umfrage der Public-Affairs-Beratung PLATO Kommunikation, an der sich 88 der angeschriebenen 150 umsatzstärksten Unternehmen Deutschlands beteiligt haben.
Diese Unternehmen pflegen mehr direkte Politikkontakte und wenden sich verstärkt direkt an die Medien. Statt sich auf ihre Verbände zu verlassen, gründen sie temporäre Unternehmensallianzen und projektbezogene Netzwerke. Dabei sind gesellschaftliche Gruppen wichtige Adressaten der Public-Affairs-Manager geworden. Als politische Entscheidungszentren haben Berlin und Brüssel für die Unternehmen einen ähnlich hohen Stellenwert. In Berlin sind die Aufgaben der Unternehmensrepräsentanten deutlich vielschichtiger geworden. Für 76 Prozent der Unternehmen gestaltet sich der Dialog mit der Politik „offener, projektbezogener, aber auch komplexer“.
Mehr direkte Kontakte
Es werden zunehmend direkte Kontakte zu Parlament und Ministerien geknüpft: Für 78 Prozent der Unternehmen hat die Bedeutung dieser Kontakte ohne Einschaltung der Verbände zugenommen. 64 Prozent geben an, die Dialogangebote der Politik an die Wirtschaft hätten seit Regierungswechsel und Umzug zugenommen. (Frage 2b und 2f)
Medien im Fokus
Die Presse ist für die politische Arbeit der Unternehmen noch wichtiger geworden. Diese Aussage hat in der Umfrage die größte Zustimmung erhalten. Für 20 Prozent der Befragten trifft dies „voll zu“.
Insgesamt bestätigen 74 Prozent diese Entwicklung. Im neuen Hauptstadtgefüge ist es entscheidend, mediale Präsenz zu zeigen. Deshalb haben 20 Prozent der Unternehmen eine medienorientierte Themenplatzierung („issue management“) eingeführt.
Neue Veranstaltungsformate
Die Unternehmen gehen neue Wege, um ihre Interessen zu artikulieren: 45 Prozent engagieren sich in Berlin stärker in Netzwerken. 29 Prozent setzen neben dem herkömmlichen Parlamentarischen Abend auf neue, eher kleinformatige Veranstaltungsformen. Zugleich werden die Zielgruppen breiter definiert: 71 Prozent der befragten Unternehmen geben an, neben Abgeordneten und Ministerien auch gesellschaftliche Interessengruppen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) stärker einzubeziehen. (Frage 2c und 3)
Brüssel und Berlin von ähnlicher Bedeutung
Gefragt, ob Berlin oder Brüssel für die Unternehmen von größerem Stellenwert sei, erhalten beide Entscheidungszentren eine annähernd gleiche Stimmenzahl. Auch innerhalb der Branchen herrschen unterschiedliche Überzeugungen vor. Allein die Chemische Industrie spricht sich nahezu ausnahmslos für Brüssel aus, Energieversorger tendieren zu Berlin. 17 Prozent der Befragten haben seit dem Umzug von Regierung und Parlament nach Berlin erstmals eine Hauptstadtrepräsentanz eröffnet.
Bildungspolitik hoch auf der Agenda
In den Augen der Unternehmen nimmt das Thema Bildungspolitik – nach den „harten“ Themen Wirtschafts-, Steuer- und Arbeitsmarktpolitik – Platz vier in der Liste der wichtigsten Politikfelder ein. Verkehr und Umwelt folgen auf den Plätzen fünf und sechs von insgesamt 14 Themen.
Ende des Korporatismus?
Mit dem PLATO-Survey wird die häufig vertretene These von einer „neuen Public Affairs-Kultur in Deutschland“ nach Auffassung der Autoren erstmals umfassend belegt. Für Dr. Hans Bellstedt, Geschäftsführender Gesellschafter von PLATO Kommunikation, steht fest: „Der klassische Lobbyismus Bonner Prägung hat ausgedient. An seine Stelle treten innovative Formen der politischen Kommunikation, die projektorientiert, medienbezogen und netzwerkartig funktionieren.
In Berlin zeigt sich eine neue Generation von Unternehmensvertretern, die modernes, effizientes Interessenmanagement betreiben. Erfolgsfaktoren sind eine klare Themenstrategie, eine professionelle Bedienung der Medien und ein ausgeprägtes Gespür für die Erwartungen und Befindlichkeiten der Öffentlichkeit.“
Treiber der neuen Public-Affairs-Kultur – so ein weiteres Ergebnis des PLATO-Survey – sind vor allem die großen Konzerne und stark technologieabhängigen Firmen. Insgesamt sind 78 Prozent der Unternehmen der Auffassung, dass politische Rahmenbedingungen für die strategischen Entscheidungen des Unternehmens von hoher (59%) bzw. sehr hoher (19%) Bedeutung sind.