Der folgende Beitrag stellt Auszüge aus einer Veröffentlichung von Michael Nollert in der „Zeitschrift für Politik“ (Jahrgang 44, S. 648 ff.) dar. Er befasst sich mit einer Untersuchung zu den Einflusschancen und Einflussmechanismen der Verbände bei den europäischen Institutionen. Dabei geht der Verfasser von der Beobachtung aus, dass sich aufgrund der gewachsenen Kompetenzen der Europäischen Union die verbandliche Interessenvertretung deutlich von der nationalen zur europäischen Ebene verlagert hat.
Informationsressourcen als Einflussbasis
Im Unterschied zu seinen Mitgliedstaaten stellt das politische System der Europäischen Union den Interessengruppen nur wenig Einflussinstrumente zur Verfügung. Das Lobbying im Europäischen Parlament hat zwar durch das Mitentscheidungsverfahren an Attraktivität gewonnen. Mangels eines Initiativrechts des Parlaments bieten die Kontakte zu seinen Mitgliedern den Verbänden aber lediglich eine Chance, regulative Vorschläge der Kommission zu verhindern.
Medien für EU-Kampagnen fehlen
Wenig Aussicht verspricht auch die Inszenierung von Ereignissen mit hohem Nachrichtenwert, fehlt doch bislang ein Massenmedium, das sich für eine europaweite Thematisierung verbandsspezifischer Angelegenheiten eignen würde. Schließlich sind in der EU auch keine plebiszitären Mitwirkungsmöglichkeiten vorgesehen.
Kommission nach wie vor entscheidend
Im Unterschied zu den nationalen Interessengruppen, die sich nach wie vor vornehmlich an den Ausschuss der Ständigen Vertreter (COREPER) des Ministerrats und den Wirtschafts- und Sozialausschuss (WSA) wenden, konzentriert sich das Lobbying der Euro-Verbände daher noch immer auf die Kommission, welche über Initiativ‑, Exekutiv- und Kontrollrechte zugleich verfügt. Nur wenigen Euro-Verbänden gelingt es jedoch, ihre Anliegen im Rahmen von Gesprächen mit Kommissionsmitgliedern zu äußern (High Level Lobbying). Die Mehrheit muss sich damit begnügen, sich von Kommissionsbeamten Informationen über geplante Richtlinien und Verordnungen und den Zutritt zu den mehr als 1.000 begleitenden beratenden Ausschüssen zu beschaffen. Verbandsvertreter sind daher gezwungen, ein gutes, wenn nicht gar freundschaftliches Verhältnis zu jenen Beamten zu pflegen, die sich mit ihren Anliegen befassen. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass die nationalen Verbände auch bereit sind, ein angemessenes Generalsekretariat zu finanzieren.
Sprachloser Mittelstand
In der Tat blieben die vergleichsweise organisationsfähigen Interessen von Kleinunternehmen auf europäischer Ebene so lange wirkungslos, als die nationalen Verbände nicht bereit waren, ihren Dachverbänden in Brüssel Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Umgekehrt betreiben einzelne transnationale Unternehmen ihr Lobbying in eigener Regie oder im Rahmen exklusiver Verbindungen (Round Tables) und behindern damit eine effektive Verbandspolitik. Dass nicht nur die Organisationsfähigkeit, sondern auch die Ressourcen und ihre Verteilung politischen Einfluss bestimmen, zeigt sich letztlich auch darin, dass etwa Greenpeace kraft seines effizienten Einsatzes seiner Ressourcen an sich schwer organisierbare Interessen vergleichsweise erfolgreich vertritt.
Die Verfügbarkeit von sozialen und ökonomischen Ressourcen als Basis für den Zugang zu Informationen über geplante Vorhaben und zu den beratenden Ausschüssen ist zwar eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung für eine erfolgreiche Einflussnahme auf die Politikformulierung.
Verbandsvertreter müssen zusätzlich über informationelle Kompetenz verfügen, die sich in Überzeugungsmacht (persuasion) umwandeln lässt. Mit anderen Worten: Lobbyisten sollten nicht nur soziale Kompetenz, sondern auch fachliche und argumentative Fähigkeiten aufweisen.
Expertenwissen öffnet Türen
Über Expertenwissen und damit Einflussressourcen verfügen nicht nur Beamte, sondern auch Interessenorganisationen. Euro-Verbände können sich zudem Dienstwissen aneignen, indem sie ehemalige Kaderleute der Kommission rekrutieren. Jedenfalls ist anzunehmen, dass die einflussreicheren Euro-Verbände in ihren Tätigkeitsbereichen jeweils über mehr politikfeldspezifisches Wissen als die Kommissionsbeamten verfügen. Dafür spricht, dass die EU-Bürokratie zwar eine hohe Regulationskompetenz aufweist, zugleich aber nur geringe administrative Mittel besitzt. In der Tat ist der Verwaltungsapparat der Kommission gemessen an den fast 380 Millionen Einwohnern aller Mitgliedstaaten bescheiden.
Während die Beamten in den Mitgliedstaaten dank ihres Wissensvorsprungs faktisch einflussreicher als die Bürger und Parlamentarier sind, ist das politische System der EU durch eine Informationsasymmetrie zugunsten der Verbände und Unternehmen geprägt. Dieses Übergewicht begründet ein hohes Einflusspotenzial von Interessengruppen, zumal auch das Spektrum an parlamentarischen und plebiszitären Mitwirkungsrechten eingeschränkt ist.
Informationelle Ressourcen dienen allerdings nicht allein dem Aufbau von Überzeugungsmacht. Mit Informationen „beschenkte“ Entscheidungsträger sind auch eher bereit, im Sinne des do-ut-des-Prinzips ihre Gönner im Gegenzug mit Dienstwissen oder gar Mitwirkungsmöglichkeiten zu belohnen. Zum Klienten der EU-Bürokratie avanciert der Interessenvertreter schließlich, wenn der Empfänger von seinen Informationsleistungen abhängig wird. Der hohe Wissensbedarf der Kommission räumt also den Euro-Verbänden eine gute Chance zum Aufbau eines klientelistischen Netzwerkes ein. Nutzen lässt sich diese Chance allerdings nur von jenen Verbänden, die über ausreichend Informationsressourcen verfügen.
Hoher Brüsseler Informationsbedarf bietet Chancen
Der hohe Informationsbedarf der Kommission der EU bietet Interessengruppen, die den Politikformulierungsprozess mitgestalten wollen, ein vergleichsweise hohes Einflusspotenzial. Verbänden, Unternehmen und Unternehmensverbindungen, die Überzeugungsarbeit leisten und Beamte mit sektor- und branchenspezifischen Informationen versorgen, wird eher Gehör geschenkt als Verbänden, die lediglich mit Meinungsäußerungen aufwarten.