Pressemitteilung | Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW)

Die Lage der Weltwirtschaft und der deutschen Wirtschaft im Herbst 2004

(Berlin) - In der Weltwirtschaft hält der kräftige Aufschwung an, er verliert allerdings seit dem Frühjahr 2004 etwas an Fahrt. Die Abschwächung erklärt sich zum Teil aus einer Straffung der bisher sehr expansiven Wirtschaftspolitik. Zwar blieben die monetären Rahmenbedingungen zumeist ausgesprochen günstig, aber in den USA liefen finanzpolitische Impulse aus, und in China, dem zweiten Kraftzentrum, wurden administrative Maßnahmen ergriffen, um die überschäumende Konjunktur zu zügeln. Zusätzlich gedämpft wurde die wirtschaftliche Aktivität von dem starken Anstieg der Rohölpreise. Sie erreichten bis in den Oktober immer neue Rekordhöhen. Der ölpreisbedingte Kaufkraftentzug bremste insbesondere den privaten Konsum. Die Unternehmensinvestitionen, die – unterstützt von der sehr expansiven Geldpolitik im vergangenen Jahr – mehr und mehr Dynamik entfaltet hatten, wurden hingegen weiter zügig ausgedehnt.

Für den Prognosezeitraum ist zu erwarten, dass die Geldpolitik weltweit angesichts der sich festigenden Konjunktur allmählich weiter gestrafft wird, um einer Verstärkung der Inflationserwartungen vorzubeugen. Zwar dürfte die Geldpolitik auch im Jahr 2005 noch nicht restriktiv wirken, doch werden die Anregungen für die Konjunktur von monetärer Seite nach und nach geringer. Hinzu kommt, dass die Finanzpolitik im kommenden Jahr auch in den USA nicht mehr expansiv ausgerichtet ist und dadurch die konjunkturelle Expansion etwas nachlässt. In Japan steht der verminderten Zunahme der Exporte eine Festigung der Binnenkonjunktur gegenüber. Im Euroraum steigt die Produktion in wenig verändertem Tempo. Insgesamt dürfte das reale Bruttoinlandsprodukt in der Welt im kommenden Jahr mit einer Rate von 3,2 Prozent zunehmen, nach einem sehr kräftigen Anstieg um 3,9 Prozent in diesem Jahr. Insgesamt scheinen die konjunkturellen Auftriebskräfte so gefestigt zu sein, dass trotz des Ölpreisanstiegs und der nachlassenden Impulse der Geld- und Finanzpolitik ein Abgleiten in einen Abschwung nicht zu erwarten ist. Gleichwohl bildet der Ölpreisanstieg ein besonderes Risiko.

In der deutschen Wirtschaft hat sich die Erholung in der ersten Hälfte dieses Jahres spürbar gefestigt. Die konjunkturelle Dynamik ist im Vergleich zu früheren Aufschwüngen aber gering. Impulse kamen bisher ausschließlich vom Ausland. Sie haben noch nicht auf die Nachfrage im Inland übergegriffen, und die binnenwirtschaftliche Schwäche hält nunmehr ungewöhnlich lange an. Für den Prognosezeitraum erwarten die Institute, dass die außenwirtschaftlichen Impulse schwächer werden, da der globale Aufschwung insbesondere in seinen Kraftzentren USA und China an Tempo verliert. Vor diesem Hintergrund werden die Exportzuwächse in der Tendenz sinken, gleichzeitig expandiert die Inlandsnachfrage nicht stark genug, um dies auszugleichen. Maßgeblich für die Verlangsamung ist die geringe Zunahme des privaten Konsums. Zwar wird er sich zu Jahresbeginn im Gefolge der nächsten Stufe der Steuerreform und der Aufhellung der Arbeitsmarktperspektiven beleben. Im weiteren Jahresverlauf dürfte die Zunahme aber vergleichsweise gedämpft bleiben, denn die Einkommenserwartungen der privaten Haushalte sind insbesondere wegen geringer mittelfristiger Wachstumsaussichten gedrückt; bremsend wirken zudem die weiterhin hohen Energiepreise. Merklich rascher dürften die Ausrüstungsinvestitionen ausgeweitet werden. Neben anhaltend günstigen Absatzperspektiven im Ausland spielt hierfür die bessere Ertragssituation infolge der niedrigen Zinsen, der wenig steigenden Löhne sowie der Konsolidierungserfolge in den Unternehmen eine Rolle. Ein Ende der Talfahrt bei den Bauinvestitionen ist dagegen im Prognosezeitraum nicht abzusehen. Alles in allem wird das reale Bruttoinlandsprodukt gemäß Prognose von fünf Instituten um 1,5 Prozent zunehmen, nach 1,8 Prozent im Jahr 2004. Das DIW Berlin prognostiziert dagegen für das kommende Jahr einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um 2,0 Prozent. Es teilt die Auffassung der Mehrheit der Institute nicht, dass sich die Konjunktur im Jahr 2005 wieder abflacht, sondern geht von einer leichten Beschleunigung im Verlauf aus.

Die konjunkturelle Erholung hat bisher nicht zu einer Besserung der Lage am Arbeitsmarkt geführt. Zwar nimmt die Zahl der Beschäftigten seit Jahresbeginn langsam zu. Dies ist aber vor allem eine Folge neuer Instrumente der Arbeitsmarktpolitik wie Minijobs und Ich-AGs. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist hingegen weiter gesunken, und die Arbeitslosigkeit ist spürbar gestiegen. Mit fortschreitender Belebung der Konjunktur werden sich allmählich die Beschäftigungsperspektiven aufhellen. Angesichts des von der Mehrheit der Institute erwarteten nur moderaten Wachstumstempos ist eine rasche und durchgreifende Besserung der Lage am Arbeitsmarkt im Prognosezeitraum allerdings wenig wahrscheinlich. Der Rückgang der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung dürfte erst im späteren Verlauf des Jahres 2005 zum Stillstand kommen. Alles in allem dürfte die Zahl der Erwerbstätigen im Prognosezeitraum weiter steigen, insbesondere im Niedriglohn- und Teilzeitbereich. Die Zahl der Arbeitslosen wird etwas abnehmen.

Das Jahr 2005 wird laut Prognose der Institute konjunkturell kein schlechtes Jahr. Die Wachstumsschwäche der deutschen Wirtschaft wird jedoch nicht überwunden. Die Wirtschaftspolitik muss alles daran setzen, die Wachstumskräfte zu stärken. Mit der Agenda 2010, insbesondere mit den inzwischen beschlossenen Reformen auf dem Arbeitsmarkt und im Bereich der sozialen Sicherung, hat die Bundesregierung Weichen in die richtige Richtung gestellt. Rasche Erfolge sind davon allerdings nicht zu erwarten, da solche Reformen erst nach und nach ihre volle Wirkung entfalten.

Die Neuausrichtung der Arbeitsmarktpolitik hat zu einer überraschend starken Inanspruchnahme eines Teils der neu eingeführten Instrumente geführt. Dies allein ist aber noch kein Gradmesser für den Erfolg. So fand der hohe Zuspruch keinen großen Niederschlag im Arbeitsvolumen. Dessen rückläufiger Trend wird durch die bisherigen Reformmaßnahmen allenfalls etwas gebremst. Vor allem trägt die Arbeitsmarktpolitik wenig dazu bei, die Erosion der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung zu stoppen. Der erste Arbeitsmarkt muss wieder stärker in den Mittelpunkt der Wirtschaftspolitik rücken. Geschieht dies nicht, ist die Gefahr groß, dass der Staat in wachsenden Segmenten des Arbeitsmarktes Arbeitsplätze auf Dauer subventioniert. Dies ist ordnungspolitisch bedenklich und trägt nicht dazu bei, mehr Wachstum und Beschäftigung zu schaffen.

Ein Kernproblem am ersten Arbeitsmarkt bleibt nach Auffassung von fünf Instituten die Lohnentwicklung. Um die Erwartungen der Unternehmen zu stabilisieren, sollten die Gewerkschaften eine glaubwürdige Lohnpolitik mit mittelfristig relativ niedrigen Lohnforderungen ankündigen und darauf verzichten, bei einem eventuellen Aufschwung schnell wieder vermeintliche Verteilungsverluste ausgleichen zu wollen. Als Leitregel für künftige Lohnverhandlungen könnte dienen, von der Trendwachstumsrate der Arbeitsproduktivität einen Abschlag vorzunehmen und nur die erwartete Inflationsrate zu berücksichtigen, die nicht auf der Anhebung administrierter Preise oder auf eine Verschlechterung der Terms of Trade zurückgeht. Eine solche Lohnpolitik gibt den Marktkräften wieder mehr Spielraum, die Lohnstruktur kann sich flexibler neuen Marktkonstellationen anpassen und die seit einiger Zeit negative Lohndrift dürfte sich verkleinern oder sogar wieder positiv werden.

Die Finanzpolitik in Deutschland hat erneut wichtige Ziele verfehlt. Zwar hat sie in jüngster Zeit einige Maßnahmen getroffen, die Wachstum und Beschäftigung tendenziell begünstigen. Ein schlüssiges Konzept für eine wachstumsfördernde Politik ist von der Bundesregierung bislang aber nicht vorgelegt worden. Vielmehr bleibt der Eindruck, es handelt sich überwiegend um Einzelmaßnahmen, die darüber hinaus zum Teil nur deshalb ergriffen wurden, weil sich die Haushaltslage immer weiter zugespitzt hat.

Das staatliche Defizit beträgt in diesem Jahr voraussichtlich knapp 83 Mrd. Euro (3,8 Prozent in Relation zum Bruttoinlandsprodukt). Zwar ist für das kommende Jahr mit einer Abnahme auf 78 Mrd. Euro (Defizitquote 3,5 Prozent) zu rechnen. Jedoch wird damit die im Stabilitäts- und Wachstumspakt genannte Obergrenze im vierten Jahr in Folge überschritten, wenn nicht mehr gespart wird. Die Institute stimmen darin überein, dass ein erheblicher Konsolidierungsbedarf besteht, dass im Stabilitätsprogramm 2004 ein verbindlicher Konsolidierungsplan verabschiedet und dass hierbei auf der Ausgabenseite angesetzt werden sollte. Unterschiede gibt es hinsichtlich der Orientierung an Budgetsalden oder Ausgabenpfaden und hinsichtlich der zeitlichen Perspektive. Dies betrifft einerseits die Handhabung des Paktes, andererseits auch die Politik für das Jahr 2005. Die Mehrheit der Institute (RWI Essen, HWWA Hamburg, IfW Kiel und ifo München) plädiert dafür, die Konsolidierung im kommenden Jahr zu verstärken, ein Sparprogramm aufzulegen und auf jeden Fall das Defizit auf 3 Prozent in Relation zum Bruttoinlandsprodukt zu begrenzen. Eine Reform des Paktes halten diese Institute nicht für notwendig. Anders als die Mehrheit der Institute sind das DIW Berlin und das IWH der Meinung, dass eine Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes nicht zwangsläufig mit einer Lockerung des Konsolidierungskurses oder gar einer Abkehr hiervon gleichzusetzen ist. Wie in früheren Gemeinschaftsgutachten bereits mehrfach beschrieben, halten die beiden Institute daran fest, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt grundlegend reformiert und auf Ausgabenziele umgestellt werden muss.

Die Geldpolitik wirkt nach wie vor anregend auf die Konjunktur im Euroraum und in Deutschland. An diesem Kurs sollte die EZB nach Einschätzung der Institute ungeachtet des durch den Ölpreis bedingten Anziehens der Inflationsraten im Grundsatz festhalten, solange es keine Anzeichen dafür gibt, dass die höheren Energiepreise Zweitrundeneffekte bei den signalisieren; es ist angemessen, dass sie ihren Leitzins im kommenden Jahr um ¼-Prozentpunkt heraufsetzt, denn die Risiken, die zu dem außerordentlich niedrigen Zins geführt haben, bestehen zum großen Teil nicht mehr. Der hier vorgelegten Prognose zufolge wird der Preisniveauanstieg im Euroraum im Frühjahr kommenden Jahres wieder unter die 2-Prozent-Marke sinken.

Das DIW Berlin vertritt eine von den anderen Instituten abweichende Meinung zur Wirtschaftspolitik. Es sieht die entscheidenden Ursachen für das schwache Wachstum und die hohe Arbeitslosigkeit in einem Nachfragemangel, auf den seit Jahren wirtschaftspolitisch nicht angemessen reagiert wurde und der sich deshalb verschärfte.

Quelle und Kontaktadresse:
Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Königin-Luise-Str. 5, 14195 Berlin Telefon: 030/89789-0, Telefax: 030/89789-200

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