Pressemitteilung | Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW)

Die Lage der Weltwirtschaft und der deutschen Wirtschaft im Herbst 2005

(Berlin) - Die Weltwirtschaft expandiert im Herbst 2005 trotz des Anstiegs der Ölpreise weiter kräftig. Den dämpfenden Effekten durch die höheren Preise für Rohöl und andere Rohstoffe standen Anregungen durch eine expansiv ausgerichtete Geldpolitik, niedrige Kapitalmarktzinsen, kräftig steigende Vermögenswerte und eine sehr günstige Ertragslage der Unternehmen gegenüber. So erhöhte sich das reale Bruttoinlandsprodukt in den Wachstumszentren USA und China im ersten Halbjahr unverändert rasch, und in Japan nahm es nach vorangegangener Stagnation deutlich zu. Dabei haben sich die weltwirtschaftlichen Ungleichgewichte erneut verstärkt. So ist das Leistungsbilanzdefizit in den USA auf reichlich 6 Prozent in Relation zum Bruttoinlandsprodukt gestiegen. Auf der anderen Seite hat der Überschuss in China erheblich zugenommen. Vor allem aber weiteten sich die Leistungsbilanzüberschüsse der Öl exportierenden Länder deutlich aus. Der Preisanstieg verstärkte sich im Verlauf des Jahres vor allem aufgrund gestiegener Energiepreise zumeist merklich. Zu spürbaren Zweitrundeneffekten kam es nicht, der Lohnanstieg beschleunigte sich allenfalls leicht. Im Prognosezeitraum dürfte sich die weltwirtschaftliche Expansion in etwas geringerem Tempo als in der ersten Hälfte dieses Jahres fortsetzen, die weltwirtschaftliche Dynamik bleibt aber trotz der deutlichen Verteuerung von Rohöl hoch.
Der Anstieg der Energiepreise hat die Konjunktur weltweit weniger stark belastet als dies noch vor einiger Zeit erwartet worden war. Hierfür sind mehrere Gründe ausschlaggebend: Zum einen wurde die Ölverteuerung diesmal nachfrageseitig ausgelöst und nicht durch eine Angebotsverknappung. Auch schien das Recycling der Ölgelder besser zu funktionieren. Zudem wurde die Weltkonjunktur durch niedrige Langfristzinsen und steigende Vermögenswerte gestützt. Wesentlich ist aber die diesmal von früher abweichende Reaktion der Lohn- und Geldpolitik: Es wurde keine Lohn-Preis-Spirale in Gang gesetzt und deshalb konnten die Notenbanken ihren expansiven Kurs beibehalten.

Im Euroraum ist die konjunkturelle Dynamik gleichwohl nach wie vor sehr gering und wird sich bis zum Ende dieses Jahres nur leicht verstärken. Der Ölpreisanstieg in den letzten Monaten wird die Nachfrage der privaten Haushalte noch einige Zeit dämpfen; entsprechend ist das Konsumentenvertrauen bislang gedrückt. Die Stimmung in der Industrie hat sich hingegen leicht gebessert, nicht zuletzt aufgrund zunehmender Auftragseingänge. Zudem wirken die Abwertung des Euro in diesem Jahr und die niedrigen langfristigen Zinsen stimulierend. Im kommenden Jahr werden die dämpfenden Effekte des Ölpreisanstiegs allmählich nachlassen. Dann wird der private Konsum bei weiter langsamem Beschäftigungsaufbau leicht anziehen. Der Außenhandel dürfte wieder einen positiven Wachstumsbeitrag liefern, auch weil sich die preisliche Wettbewerbsfähigkeit in der jüngsten Zeit verbessert hat. Davon wird auch die Investitionstätigkeit profitieren. Insgesamt dürfte das Bruttoinlandsprodukt im Euroraum in diesem Jahr um 1,3 Prozent und im nächsten Jahr um 1,8 Prozent steigen. Die Inflationsrate wird im Verlauf des kommenden Jahres bei einem konstanten Ölpreis leicht zurückgehen; im Jahresdurchschnitt wird sie bei 2,1 Prozent liegen, nach 2,2 Prozent in diesem Jahr.

In Deutschland verläuft die wirtschaftliche Erholung weiterhin sehr schleppend. Zwischen Mitte 2004 und Mitte 2005 nahm das reale Bruttoinlandsprodukt lediglich um 0,6 Prozent zu, und die Kapazitätsauslastung ist niedriger als vor einem Jahr. Zunächst hatte sich der Exportanstieg wegen der Aufwertung des Euro und der schwächeren Weltkonjunktur verlangsamt; danach dämpfte die spürbare Verteuerung von Energie. Nach wie vor lebt die deutsche Konjunktur von Impulsen aus dem Ausland. Diese sind bisher nur in begrenztem Umfang auf die Binnenwirtschaft übergesprungen, die seit einem Jahr mehr oder weniger stagniert. Schwach blieb insbesondere der private Konsum, auch weil der Energiepreisanstieg die Kaufkraft der privaten Haushalte schmälerte. Der Rückgang der Bauinvestitionen setzte sich fort. Ein Lichtblick sind die Ausrüstungsinvestitionen, die in der ersten Jahreshälfte 2005 aufwärtsgerichtet waren.

Die Lage auf dem Arbeitsmarkt blieb vor diesem Hintergrund schlecht. Zwar hat die Zahl der Erwerbstätigen seit dem Frühjahr wieder zugenommen; die Zunahme beruhte allerdings allein – wie schon im Jahr 2004 – auf dem Einsatz arbeitsmarktpolitischer Instrumente. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten blieb hingegen bis zuletzt deutlich rückläufig. Der kräftige Anstieg der Zahl der Arbeitlosen zu Jahresbeginn war zwar überwiegend Folge der Einbeziehung der erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger in die Arbeitslosenstatistik. Aber auch ohne diesen Effekt wäre die Arbeitslosigkeit 2005 weiter gestiegen.

Für den Prognosezeitraum erwarten die Institute eine etwas stärkere Erholung. Der Export dürfte weiterhin von einer kräftigen Weltkonjunktur profitieren, zumal deutsche Unternehmen aufgrund der Abwertung des Euro und ihrer deutlich verbesserten Kostensituation an preislicher Wettbewerbsfähigkeit gewonnen haben. Gestützt wird die Konjunktur weiterhin durch die Geldpolitik. Die Finanzpolitik bleibt demgegenüber bemüht, die Staatsfinanzen zu konsolidieren und das strukturelle Haushaltsdefizit – wenn auch nur wenig – zu verringern. Die Löhne dürften weiterhin nur moderat steigen und so die Position Deutschlands im internationalen Wettbewerb und die Beschäftigung tendenziell stärken. Die Verteuerung von Energie entzieht hingegen den Haushalten Kaufkraft, so dass die Perspektiven für die Realeinkommen und für die Binnennachfrage zunächst gedrückt bleiben. Allerdings gehen die Institute davon aus, dass sich Rohöl im Prognosezeitraum nicht weiter verteuert.

Eine hohe konjunkturelle Dynamik zeichnet sich weiterhin nicht ab. Im Jahresdurchschnitt 2005 dürfte das preisbereinigte Bruttoinlandsprodukt um 0,8 Prozent zunehmen. Im Laufe des kommenden Jahres dürfte die Ausfuhr wegen der ruhigeren Gangart der Weltkonjunktur etwas an Schwung verlieren, die Binnennachfrage jedoch leicht anziehen. Vor allem die Ausrüstungsinvestitionen dürften etwas rascher zunehmen, weil die Absatzerwartungen auf den Auslandsmärkten und die Finanzierungsbedingungen günstig bleiben. Da die Kapazitätsauslastung in den binnenwirtschaftlich orientierten Branchen aber niedrig bleibt, ist der Investitionsaufschwung nur moderat. Die privaten Konsumausgaben werden im Verlauf von 2006 wieder leicht zunehmen, wenn sich die Beschäftigungssituation etwas verbessert und die Wirkungen der Energieverteuerung nachlassen. Das reale Bruttoinlandsprodukt dürfte im Jahr 2006 um 1,2 Prozent steigen.

Für eine durchgreifende Wende am Arbeitsmarkt reicht dieses Expansionstempo nicht aus. Immerhin dürfte die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in der zweiten Hälfte kommenden Jahres erstmals seit Ende 2000 geringfügig zunehmen. Die Zahl der Arbeitslosen wird vor allem deshalb abnehmen, weil mehr „Ein-Euro-Jobs“ für Bezieher von Arbeitslosengeld II angeboten werden. Im Durchschnitt des Jahres 2006 werden 4,76 Mill. Personen als arbeitslos registriert sein, nach 4,88 Mill. in diesem Jahr. Der Preisauftrieb wird im Laufe des kommenden Jahres allmählich nachlassen. Im Jahresdurchschnitt werden die Verbraucherpreise aber mit einer Rate von 2,0 Prozent ähnlich stark steigen wie in diesem Jahr.

Die Konjunktur in Deutschland hängt immer noch überwiegend von außenwirtschaftlichen Einflüssen ab. Deshalb können schon kleine Störungen von außen die deutsche Wirtschaft in die Nähe der Stagnation zurückwerfen. So würde ein weiteres kräftiges Anziehen der Energiepreise die Konjunktur in Deutschland erheblich belasten, zumal dies auch die Gefahr wachsen lässt, dass die Weltwirtschaft ins Straucheln gerät. Eine Unsicherheit für die Prognose ergibt sich auch daraus, dass der wirtschaftspolitische Kurs der neuen Bundesregierung noch schwer abzuschätzen ist. Die vorliegende Prognose geht vom wirtschaftspolitischen Status quo aus. Werden durchgreifende Reformen beschlossen und zügig umgesetzt, verbessern sich die Aussichten für die mittlere Frist, und dies kann bereits auf 2006 ausstrahlen.

Die Ausgangslage für die Wirtschaftspolitik der neuen Bundesregierung ist denkbar schwierig. Zwar wurden in den vergangenen Jahren einige Reformen auf den Weg gebracht. Ein Durchbruch bei der Lösung der dringendsten Probleme Deutschlands – des geringen Wachstums und der hohen Arbeitslosigkeit – wurde jedoch nicht erreicht. Dieser kann nur gelingen, wenn die neue Regierung ein in sich schlüssiges Konzept formuliert und Reformen mutig anpackt. Zu einem solchen Konzept gehört, dass der Staat die Eigenverantwortung der Wirtschaftssubjekte stärkt und sich auf seine eigentlichen Aufgaben konzentriert. Dem muss eine umfassende Aufgabenkritik vorausgehen, bei der alle Staatsausgaben auf dem Prüfstand stehen. Dies wäre auch eine wichtige Voraussetzung für eine Konsolidierung der öffentlichen Finanzen, die über die Ausgabenseite erfolgen sollte, denn die Abgabenlast von Haushalten und Unternehmen muss mittelfristig zurückgeführt werden. Zur Stärkung des Wachstums ist aber auch erforderlich, dass die Arbeitsanreize gestärkt werden, ebenso wie die Anreize, im privaten Sektor profitable Arbeitsplätze zu schaffen. Allerdings müssen auch die anderen Akteure – insbesondere auch die Tarifpartner – ihrer gesamtwirtschaftlichen Verantwortung gerecht werden.

Die Finanzpolitik sollte die Ausgaben des Staates spürbar zurückführen, damit die Haushaltsfehlbeträge und die Abgabebelastung gesenkt werden können. Dabei müssen das Wachstum stärkende investive Ausgaben gesteigert und die Subventionen und Vermögensübertragungen gekürzt werden. Hierfür liegt mit der Einsparliste von Koch und Steinbrück ein konkreter Ansatzpunkt vor. Auf der Einnahmenseite sollte eine umfassende Reform des Steuersystems in Angriff genommen werden, die auf ein einfaches und weitgehend neutrales Steuerrecht zielt sowie die Bemessungsgrundlagen verbreitert und die Abgabensätze reduziert. Unter den verschiedenen derzeit diskutierten Vorschlägen besitzt das Konzept der Dualen Einkommensteuer den Vorzug, dass so die steuerliche Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen gesteigert und gleichzeitig die Steuerausfälle begrenzt werden können. Bei alledem muss das Defizit rasch und spürbar zurückgeführt werden.

Die Lohnentwicklung ist seit Anfang des vergangenen Jahres sehr moderat. Dieser Kurs sollte auch dann fortgesetzt werden, wenn sich die Konjunkturlage bessert. Grundsätzlich sollte die Lohn- und Arbeitsmarktpolitik weniger die Sicherung bestehender als die Schaffung neuer Arbeitsplätze zum Ziel haben. Die Geldpolitik sollte überprüfen, ob das gegenwärtig niedrige Zinsniveau im Euroraum noch gerechtfertigt ist. Denn die Unsicherheiten an den Finanzmärkten, die zu dem niedrigen Zins führten, haben sich verringert und die Liquiditätsversorgung ist spürbar gestiegen. Um zu verhindern, dass sich Inflationserwartungen bilden, sollte die EZB den Expansionsgrad ihrer Politik im kommenden Jahr etwas zurücknehmen.

Quelle und Kontaktadresse:
Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Pressestelle Königin-Luise-Str. 5, 14195 Berlin Telefon: (030) 89789-0, Telefax: (030) 89789-200

(tr)

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