Familienverbände ziehen vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)
(Berlin/Straßburg) - Der Deutsche Familienverband (DFV) und der Familienbund der Katholiken (FDK) unterstützen gemeinsam die Beschwerde eines sozialversicherten Elternpaars mit vier minderjährigen Kindern vor dem EGMR gegen die Nichtberücksichtigung ihrer Kindererziehung bei der Beitragserhebung zur Renten- und Krankenversicherung.
„Die umlagefinanzierten Systeme der Renten-, Kranken-, und Pflegeversicherung beruhen auf zwei Leistungen, um dauerhaft bestehen zu können: auf den Geldleistungen der Beitragszahler und auf der Erziehung von Kindern. Bisher wird die Bedeutung der Kindererziehung nur völlig unzureichend berücksichtigt“, äußert Matthias Dantlgraber, Bundesgeschäftsführer des Familienbundes.
„Als Ausgleich für diese Schieflage braucht es in der Sozialversicherung einen Kinderfreibetrag, der sicherstellt, dass auf das Existenzminimum von Kindern keine Sozialabgaben erhoben werden. Im Steuerrecht ist das eine Selbstverständlichkeit und verfassungsrechtliche Vorgabe“, sagt Sebastian Heimann, Bundesgeschäftsführer des DFV.
Der frühere Landessozialrichter Dr. Jürgen Borchert, der die Beschwerdeführer und Familienverbände anwaltlich vertritt, weist darauf hin, dass beide Beiträge, der in Geld wie auch der generative, als Konsumverzicht im Kern ökonomisch identisch sind. Daher stelle sich die Frage, weshalb in den „Vorsorgesystemen“ nur der Konsumverzicht für Rentenzahlungen in der Gegenwart berücksichtigt werde, hingegen der zukunftsgewandte generative nicht.
Mit ihrem Antrag, die Ungerechtigkeiten zu Lasten der Familien in der sozialen Pflegeversicherung zu beseitigen, waren die Familienverbände 2022 beim Bundesverfassungsgericht erfolgreich. Der Gesetzgeber musste die Beitragslasten von Mehrkinderfamilien gestaffelt nach Kinderzahl ermäßigen. Zum 1. Juli 2023 hat das der Bundestag umgesetzt.
Hinsichtlich der weitaus gravierenderen Nachteile in der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung blieb den Beschwerdeführern der Erfolg auf dem nationalen Rechtsweg hingegen versagt, da das BVerfG elterliche Nachteile durch die Anrechnung von Kindererziehungszeiten in der Rente sowie die „beitragsfreie Mitversicherung“ in der Krankenversicherung als ausgeglichen erachtete.
Diese Behauptungen erfolgten freihändig, weder fand eine Beweisaufnahme noch eine mündliche Verhandlung statt. Tatsächlich setzte sich das BVerfG nicht nur über die gesicherten Erkenntnisse der Sozialökonomie, sondern auch über seine eigenen Judikaturen der Vergangenheit hinweg; zu diesen verlor das Karlsruher Gericht kein Wort.
Dass die Beitragsstrukturen der Sozialversicherung die entscheidenden Ursachen für Kinder- und Familienarmut sind, sei kein Problem der Sozialversicherung, so die Argumentation des BVerfG-Beschlusses. Familien könnten sich schließlich an die Jobcenter wenden oder Sozialhilfe beziehen. Ebenso könnten Mütter der drohenden Altersarmut durch eine höhere Erwerbsbeteiligung entgegenwirken.
Worum geht es in der Menschenrechtsbeschwerde konkret?
Dass der Sozialgesetzgeber Eltern mehrerer Kinder zwingt, auf ihre Privatkosten die Altersvorsorge für Kinderarme gratis mit auf die Beine zu stellen, qualifizierte man bereits in den 1950er-Jahren als „Frondienst“ der Familien.
Durch die beitragsrechtliche Ausgestaltung der gesetzlichen Sozialversicherung mit ihren finanziell überfordernden Wirkungen werden Familien unter das Existenzminimum gedrückt und in ihrem Menschenrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt. Die überaus niedrige Rentenhöhe und die Altersarmut von Müttern zeigt schließlich die tatsächliche Geschlechterungleichheit und die verbotene Diskriminierung der Lebensleistungen von Müttern.
„Bei der Menschenrechtsbeschwerde in Straßburg geht es nicht darum, Eltern zu privilegieren, wie das BVerfG in seinem Beschluss von 2022 behauptet, sondern darum, die Beitragsstrukturen der Sozialversicherung mit der Wirklichkeit des Dreigenerationenvertrags in Einklang zu bringen“, sagt Borchert.
„Nicht die Beiträge der Vergangenheit, sondern nur die zukünftigen Beiträge der Nachwuchsgeneration können den Alten einen sorgenfreien Lebensabend verschaffen. Vorsorge beinhaltet nur die Kindererziehung. Wer keine Kinder großzieht, baut seine Zukunft auf die Kinder anderer Leute. Diesen elementaren Zusammenhang missachtet das Beitragsrecht der Sozialversicherung und diskriminiert die Elternleistungen“, führt Borchert aus.
Die Beschwerdeführer machen in ihrer Beschwerde folgende Menschenrechtsverletzungen geltend:
1. Verletzung des Anspruchs auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK)
Dass das BVerfG seine eigenen Judikaturen und angewendeten Maßstäbe des Art. 6 Abs. 1 GG ohne Anhörung der Kläger, ohne mündliche Verhandlung und ohne Begründung ignoriert hat, hat die Kläger überrascht und jeglicher Chance beraubt, sich mit dessen Argumentation auseinanderzusetzen.
„Ohne Nachweis eigener ökonomischer Sachkunde hat sich das Bundesverfassungsgericht über gesicherte Erkenntnisse der Fachwissenschaft hinweggesetzt und alternative Wahrheiten zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht“, so Borchert. „Somit liegt ein klassischer Fall der Verletzung der Grundsätze eines fairen Verfahrens vor.“
2. Verletzung des Zwangsverpflichtungsverbots (Art. 4 Abs. 2 EMRK)
Borchert erklärt: „Der staatliche Beitragszwang entzieht den Familien substanzielle Teile ihres für den Unterhalt der Kinder benötigten Familieneinkommens und leitet diese – nicht zuletzt – an kinderarme Rentenbezieher weiter. Die später erwachsenen Kinder hindert der Staat durch seine hohen Beitragslasten an der Versorgung der eigenen Eltern. Was Eltern mit ihren Anstrengungen während der Kindererziehung säen, ernten zu wesentlichen Teilen andere.“
Der relative Wohlstand der kinderarmen Rentner und die Armut der Kinder bedingen einander. Der Transferausbeutung der Familien in Höhe von ca. 120 Milliarden Euro pro Jahr in der Renten- und Krankenversicherung stehen auf der anderen Seite – ohne Anstrengungen durch die Kindererziehung – erworbene Pfründe von Kinderlosen gegenüber.
3. Missachtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK)
Eltern müssen nicht nur für ihre Kinder sorgen, sondern zahlen gleichzeitig mit denselben Beiträgen wie Kinderlose in die Rentenkasse ein. Der Staat erkennt diesen doppelten – generativen und finanziellen – Beitrag nicht an. Die Kollektivierung der Alterslasten über die Rentenversicherung – bei gleichzeitig privaten Kinderkosten – führt nach Forschungsarbeiten der Sozialökonomie zur Generierung externer fiskalischer Effekte zugunsten Kinderloser von über 100.000 Euro je Kind.
„Der Abgabenzwang zur Sozialversicherung – und nicht etwa eine Lawine der Arbeitslosigkeit – ist die wesentliche Ursache der Verarmung sozialversicherter Eltern“, sagt Borchert.
Familien mit einem Durchschnittseinkommen und zwei Kindern landen netto unweigerlich durch die Abgabenlast der Sozialversicherung unter dem Existenzminimum. Mit einem entsprechenden Kinderfreibetrag in der Sozialversicherung könnten finanzielle Belastungen abgefedert werden, ohne dass Familien auf Sozialleistungen angewiesen sein müssten.
„Dass sich die jährlichen Geburtenzahlen von 1964 bis heute halbiert und die Kinderarmutsquote von jedem 75. Kind unter sieben Jahren auf gegenwärtig mehr als jedes 5. Kind auf das Zigfache gestiegen ist, ist auf die strukturelle Rücksichtslosigkeit der Sozialversicherungsbeiträge zurückzuführen, welche Eltern die Vorsorgelasten für alle, auch für die ohnehin finanziell bessergestellten Kinderarmen, aufbürdet“, so Borchert.
4. Diskriminierung der Mütter
Der „Lohn für Lebensleistung“, den die sogenannte „Anerkennung“ von Erziehungsleistung im Rentensystem beinhalten soll, ist bei genauer Betrachtung reiner Hohn: Denn eine Mutter müsste mehr als 15 Kinder großziehen, um im Alter eine das Existenzminimum zuverlässig absichernde Rente zu erhalten.
„Obwohl gerade Mütter den ‚Löwenanteil‘ der Sorge für die nachfolgende Generation leisten, werden sie mit der Rente direkt in die Altersarmut geschickt“, sagt Borchert. „Gerade in der Alterssicherung wird die absolute Geringschätzung der Kindererziehungsleistung von Müttern sichtbar. Ein klarer Verstoß gegen Menschenrechte. Der demografische Niedergang ist das Ergebnis struktureller Rücksichtslosigkeit gegenüber den Eltern.“
Quelle und Kontaktadresse:
Deutscher Familienverband e.V. (DFV), Seelingstr. 58, 14059 Berlin, Telefon: 030 30882960