Pressemitteilung | Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW)

GEW: „Wir brauchen ein Schulsystem, das alle Kinder mitnimmt!“ / Bildungsgewerkschaft stellt Studie zu „Selektivität und Durchlässigkeit im deutschen Schulsystem“ vor

(Berlin) – Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hat gefordert, auch in Deutschland schrittweise ein integratives Schulwesen zu entwickeln, wie es in Schleswig Holstein geplant ist. „Wir brauchen Schulen, die alle Kinder von Anfang an mitnehmen, individuell fördern und niemanden ausgrenzen. Die Behauptung, es gebe genug Möglichkeiten, die Nachteile der frühen Auslese der Kinder im Alter von zehn Jahren auszugleichen, ist schlicht falsch“, erklärte GEW-Schulexpertin Marianne Demmer am 18. November in Berlin. Das belege die Untersuchung „Selektivität und Durchlässigkeit im allgemein bildenden Schulsystem“, die die GEW während einer Pressekonferenz vorgestellt hat. Gabriele Bellenberg, Gertrud Hovestadt und Klaus Klemm aus der Arbeitsgruppe Bildungsforschung/Bildungsplanung an der Uni Duisburg-Essen haben die Studie erarbeitet.

„Mit allen Reparaturmaßnahmen haben wir weder eine ähnlich hohe Abiturienten-Quote wie Länder mit integrativen Schulsystemen noch eine kleine Risikogruppe erreicht“, sagte Demmer. Die Abiturientenquote liege in Deutschland bei 36 Prozent, in den skandinavischen Ländern bei über 70 Prozent. In diesen Staaten sei andererseits die Risikogruppe mit weniger als zehn Prozent deutlich niedriger als in Deutschland mit fast 25 Prozent. „Die GEW wird die nächste PISA-Runde nutzen, um diese Fragen ins Zentrum der schulpolitischen Debatten zu rücken“, kündigte die Schulexpertin an.

„Abstieg: ja, Aufstieg: nein: Ist ein Kind erst einmal in eine Schulform einsortiert, ist das System fast nur noch in eine Richtung ‚durchlässig’: nämlich nach unten. Über 75 Prozent der Schüler, die die Schulart in der Sekundarstufe 1 wechseln, werden abgestuft“, unterstrich Demmer. Lediglich ein knappes Viertel schaffe den Aufstieg in eine höherwertige Schulform. Zwar sei es später möglich, nicht erreichte Schulabschlüsse nachzuholen. „Das Gymnasium bleibt aber das Maß aller Dinge. Viele Arbeitgeber nehmen lieber einen Realschüler mit schlechten Noten als einen Hauptschüler mit guten“, sagte die Gewerkschafterin. Aber selbst bei formal gleichen Abschlüssen werde geschaut, an welcher Schulform die Schüler sie bekommen haben. Wer sein Abi am Gymnasium gemacht hat, werde weit mehr geschätzt als ein Schüler, der die Hochschulreife an einer beruflichen Schule erworben hat.

Demmer wies darauf hin, dass nach den Daten der Untersuchung die Auslese im Schulsystem in den vergangenen Jahren schärfer geworden sei. „Die Quote der Zurückstellungen bei Schulbeginn ist leicht gestiegen. Die Zahl der Sitzenbleiber schwankt von Jahr zu Jahr, wird aber unter dem Strich nicht niedriger. Alarmierend ist, dass heute fast 15 Prozent mehr Kinder an Sonderschulen überwiesen werden als vor zehn Jahren“, stellte die Schulexpertin fest. Besonders Kinder aus Einwandererfamilien würden strukturell diskriminiert. Ihr Anteil an Schulen für Lernbehinderte sei fast doppelt so hoch wie der deutscher Kinder.

Die GEW-Sprecherin kritisierte, dass die Maßnahmen der Kultusministerminister nach dem PISA-Schock im Wesentlichen langfristig angelegt und ohne konkrete Zielvorgabe seien. „Niemand sagt: Bis 2007 bringen wir die Abiquote auf 50 Prozent und senken die Risikogruppe der Benachteiligten auf zehn Prozent eines Schülerjahrgangs. Auf kurzfristige Maßnahmen wie den konsequenten Ausbau der Lehrerfortbildung oder die Förderung von Einwandererkindern in der Sekundarstufe haben die Kultusminister gleich ganz verzichtet“, sagte die Schulexpertin.

„Gleichzeitig werden Lehrkräften und Erzieherinnen, die der Motor von Innovationsprozessen an KiTas und Schulen sein sollen, die Arbeitszeit erhöht und die Einkommen gekürzt. So bringt man die guten Ansätze in der frühkindlichen Bildung oder den Ausbau von Ganztagsschulen in Gefahr. Hohe Qualität von Lehr- und Lernprozessen und gute Arbeitsbedingungen sind zwei Seiten einer Medaille.“

Quelle und Kontaktadresse:
Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Reifenberger Str. 21, 60489 Frankfurt Telefon: 069/78973-0, Telefax: 069/78973-201

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