Gewalt an Schulen mit neuem Denken begegnen / Zum zehnten Jahrestag des Amoklaufs in Erfurt fordert BLLV-Präsident Wenzel Mut zur Veränderung: "Das Grundkonzept unseres Bildungssystems ist kritisch zu hinterfragen"
(München) - Der zehnte Jahrestag des Amoklaufs von Erfurt am 26. April 2002 sollte ein Anlass für kritisches Nachdenken sein", erklärte der Präsident des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV), Klaus Wenzel, heute in München. Mit blindem Aktionismus und reflexartig wiederholten Verlautbarungen ließen sich Amokläufe an Schulen nicht verhindern, denn die Gründe dafür seien komplex: "Sie entziehen sich einfachen Erklärungen und schnellen Lösungen. Exzessive Gewaltausbrüche wie die von Erfurt, Winnenden oder Emsdetten weisen vielmehr darauf hin, dass das Grundkonzept unserer Bildungseinrichtungen kritisch zu hinterfragen und unsere Denkweise zu ändern ist." Zwar würden Schul- und Bildungspolitiker ständig Veränderungen und damit auch viel Unruhe in die Schulen bringen, sie verfolgten damit aber nur eine Absicht: Das antiquierte Konzept so zu lassen wie es ist. "Probleme wie Amokläufe oder Gewalt an Schulen lassen sich so aber nicht lösen. Ich behaupte - und mit mir eine ganze Reihen von Wissenschaftlern, die sich intensiv mit dem Thema befassen, - dass Ausgrenzung und Verhinderung von Partizipation Aggressionen begünstigen - deshalb müssen wir als Lehrerinnen und Lehrer Möglichkeiten bekommen, integrierende Beziehungsarbeit zu fördern."
"Wir sollten uns genau anschauen, wie Schulsysteme mit Heranwachsenden umgehen", sagte Wenzel. In den Schulen würden junge Menschen in erster Linie benotet, bewertet, sortiert. "Die Lehrerinnen und Lehrer müssen etwas tun, was ihnen zutiefst widerspricht, nämlich defizitorientiert an ihre Schüler herangehen." Schüler würden so auf Notenbündel reduziert. Ihre Persönlichkeit spiele eine untergeordnete Rolle. Entscheidend für den schulischen Erfolg sei nicht, welche soziale Kompetenz ein Heranwachsender habe, sondern welche Ziffernnoten, welche Leistungsnachweise er bringe. "Wenn sich heute der Ministerrat mit den 'Bayerischen Leitlinien für Bildung und Erziehung von Kindern bis zum Ende der Grundschulzeit' befasst, sollte es daher auch um die Frage gehen, wie an den Schulen ein neues Lern- und Leistungsverständnis zu etablieren ist. Es ist zu hoffen, dass die Politik der guten Absicht auch optimale Taten folgen lässt."
Weil Schule und Bildung komplett über Leistung und somit über Noten definiert werde, definierten sich auch Schüler so; "sie sehen sich selbst als Verlierer, fühlen sich gedemütigt und ausgegrenzt, wenn sie die erforderliche Leistung nicht bringen." Schon Grundschulkinder wüssten, nur wer gute Leistungen bringt, kann partizipieren. Der dadurch ausgelöste Druck hemme jedoch die Motivation, was häufig dazu führt, dass Kinder ihre Potentiale nicht entfalten können." Mit einem gesunden Wettbewerb habe dies alles nichts zu tun. Der massive Druck, der heute schon auf neunjährigen Kindern laste, sei im Übrigen auch eine Form von Gewalt, gab Wenzel zu bedenken und forderte, den "Wert" eines Schülers anders und neu zu definieren, in erster Linie über seine sozialen Kompetenzen und individuellen Fähigkeiten. "Wir können einem Kind nur dann gerecht werden, wenn wir es als ganzheitliche Persönlichkeit sehen, schätzen und fördern - dazu benötigen Schulen aber Zeit und Raum. Lehrer müssen wieder Pädagogen sein dürfen, die den jungen Menschen das geben, was sie brauchen: Hinwendung, Förderung, Verständnis und Zuneigung." Daraus ergebe sich ein anderer Stellenwert der Erziehungswissenschaften an den Hochschulen: "Sie müssen als das Fundament der Lehrerbildung angesehen werden - in der Lehrerbildung ist es aber genau umgekehrt: Wir bilden fachlich hervorragende Lehrkräfte aus, die nur wenig über Pädagogik erfahren und wenn sie Pädagogen sein wollen, werden sie durch Zwänge im Schulsystem daran gehindert."
In einem reichen Land wie Bayern sollte es selbstverständlich sein, dass Bildungseinrichtungen bestens ausgestattet sind, dass sie keinerlei finanzielle Sorgen haben und jede erdenkliche Unterstützung finden. "Dort sind unsere Kinder untergebracht - das Wertvollste, was wir haben." Menschen, die sich mit ihrer Erziehung beschäftigten und mit ihnen arbeiteten, müssten höchste Wertschätzung und Anerkennung erfahren. "Jeder weiß, dass die Realität in Bayern eine andere ist: Die Schulen verwalten den Mangel und Lehrkräfte brennen aus. Ich vermisse in der schul- und bildungspolitischen Diskussion das Wollen", sagte der BLLV-Präsident. Sinnvolle Veränderungen wären machbar, doch die Politik blockiere sie. "Eine Chance sehe ich in der Inklusion. Auch der Freistaat Bayern steht hier in der Pflicht, alle Schüler in Regelschulen zu integrieren. Die Gefahr ist allerdings groß, dass der Inklusionsgedanke zum Betreuungs- und Verwaltungsapparat für Lehrer und Schüler verkommt."
Wenn sich Schreckenstage wie der von Erfurt oder Winnenden jährten, gingen bei den umliegenden Polizeibehörden zahlreiche Drohungen von Schülern ein. "Sie alle haben gewalttätige Gedanken im Kopf und spielen damit. Für mich sind das Hilfeschreie und ebenso deutliche wie alarmierende Hinweise darauf, dass Gesellschaft und Politik Amokläufe und Gewaltexzesse als nicht kalkulierbare Katastrophen hinnimmt. Wie viel besser wäre es doch, erste Schritte zu fundamentalen Veränderungen unseres ausgrenzenden Bildungssystems zu zulassen und so wenigstens einer Ursache für Gewalt an Schulen zu begegnen."
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