Humanitäre Aufnahmen gestoppt: Bundesregierung lässt gefährdete Medienschaffende im Stich – und schwächt sich selbst im Kampf gegen Desinformation
(Berlin) - Reporter ohne Grenzen (RSF) schlägt Alarm: Die aktuelle Entscheidung der Bundesregierung, sämtliche humanitären Aufnahmen auszusetzen, schließt für manche bedrohte Journalistinnen und Journalisten eine lebensrettende Tür. Betroffen sind derzeit zahlreiche Medienschaffende aus den autoritären Staaten Russland, Belarus, Iran. Viele von ihnen werden von Reporter ohne Grenzen dabei unterstützt, mithilfe einer Aufnahme nach § 22 Satz 2 Aufenthaltsgesetz Schutz in Deutschland zu finden – sie sind akut bedroht oder wurden bereits ins Exil gezwungen.
„Die Bundesregierung verabschiedet sich von ihrer humanitären Verantwortung und riskiert damit das Leben von Medienschaffenden“, sagt Anja Osterhaus, Geschäftsführerin von Reporter ohne Grenzen. „Dabei liegt es im Interesse Deutschlands, kritische Stimmen aus Russland, Belarus oder dem Iran zu schützen. Denn sie tragen dazu bei, autoritäre Narrative zu durchbrechen – auch hierzulande.“
Zwei konkrete Fälle: Einer ist in Sicherheit - und einer nicht
Eine dieser wichtigen Stimmen ist der russische Journalist Valeri Potaschow, der seit fast 40 Jahren aus der an Finnland grenzenden Region Karelien berichtet. Er war unter anderem Korrespondent für Novaya Gazeta, das in Russland gesperrte Online-Portal der ehemals größten regimekritischen Zeitung Russlands. Trotz wachsender Drohungen und Repression gründete er den unabhängigen Telegram-Kanal From Karelia with Freedom und berichtet dort offen über Menschenrechtsverletzungen und Anti-Kriegs-Proteste. Besonders brisant: Aus der von ethnischen Minderheiten bewohnten Region werden seit Ausweitung des Krieges in der Ukraine überdurchschnittlich viele Männer eingezogen – jegliche Kritik hieran wird besonders hart verfolgt. Potaschows regionale Berichte werden von prominenten russischen Exilmedien wie Meduza aufgenommen und weiter international publiziert.
Im Juli 2025 wurden seine Wohnung und seine Datscha vom russischen Geheimdienst durchsucht – im Zusammenhang mit einem Verfahren wegen angeblichen Landesverrats. Zwar wurde er zunächst nur als Zeuge vorgeladen, doch ihm war klar: „In Russland ist das oft nur der erste Schritt zur Anklage.“ Mit Unterstützung von Reporter ohne Grenzen konnte er mit einem Visum nach § 22 Satz 2 AufenthG ausreisen. „Ohne das Visum wäre ich jetzt wahrscheinlich in Untersuchungshaft. Es war keine Flucht – es war Rettung.“
Genau diese Rettung wird etwa dem Fotografen und Kameramann Dmitri L., der mehr als ein Jahrzehnt lang gesellschaftliche Missstände und erinnerungspolitische Konflikte in der nordrussischen Stadt Vorkuta dokumentierte – zuletzt für 7x7 Horizontal Russia und Sever.Realii, beides inzwischen als „ausländische Agenten“ eingestufte Redaktionen. Dmitri L. wurde infolgedessen entlassen, mit Berufsverbot belegt und systematisch bedroht. Bereits im Februar 2022 entdeckte er eine versteckte Kamera in seiner Wohnung – mutmaßlich installiert durch Parteimitglieder. Seitdem wurde er wiederholt überwacht, abgehört und unter Druck gesetzt. Unbekannte drohten ihm mit fingierten Drogenfunden und Verhaftung, sollte er weiter journalistisch arbeiten.
In Deutschland ist Dmitri L. privat gut vernetzt, seine journalistische Arbeit könnte er mit Unterstützung eines sicheren Aufenthaltsstatus’ unmittelbar fortsetzen. Doch solange die humanitäre Aufnahme ausgesetzt bleibt, bleibt auch ihm der Schutz verwehrt, den andere Medienschaffende noch rechtzeitig erhalten konnten.
Russland, Belarus, Iran: Verfolgung kennt keine Pause
Die Liste der gefährdeten Medienschaffenden ist lang: Medien aus Russland werden systematisch als "ausländische Agenten" oder "unerwünschte Organisationen" eingestuft – ihre Mitarbeitenden werden ins Exil gedrängt. Die russische Regierung erklärt kritische Berichterstattung faktisch für illegal.
In Belarus sind unabhängige Medien seit Jahren auf der Abschussliste: Viele Medienschaffende wurden willkürlich inhaftiert oder zur Flucht gezwungen. Und im Iran sind regierungskritische Reporter und Journalistinnen einem massiven Repressionsapparat ausgeliefert – Verhaftung, Folter, Ausreiseverbote und Überwachung sind an der Tagesordnung.
Seit Anfang 2022 haben es fast 250 regimekritische russische Journalistinnen und Journalisten mit Unterstützung von RSF geschafft, ihre Arbeit im deutschen Exil sicher fortzusetzen. Viele andere warten jedoch unter lebensgefährlichen Bedingungen in Russland – oder oft mit prekärem Aufenthaltsstatus und ohne Rechtssicherheit in Drittstaaten wie Georgien, Armenien oder der Türkei. Mit der Aussetzung der Aufnahmeverfahren verlieren sie jede Aussicht auf langfristigen Schutz.
Dabei wären gerade sie prädestiniert für eine sichere Einreise in diesem beschleunigten Aufnahmeverfahren “zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland” – denn ihr Fachwissen ist zugleich von enormem Wert für die deutsche Gesellschaft. Als Expertinnen und Experten für ihre Regionen sind sie häufig besser darin geschult, die aus ihren Heimat-Regimen stammende Desinformation und Propaganda frühzeitig zu entlarven und die Öffentlichkeit zu stärken.
Aufnahme als Beitrag zur Stärkung unserer Demokratie
In einer Zeit, in der autoritäre Staaten ihre Desinformationskampagnen globalisieren und freie Medien gezielt schwächen, ist die Aufnahme dieser Medienschaffenden auch ein Beitrag zur demokratischen Resilienz. Viele von ihnen arbeiten im Exil weiter journalistisch – sei es für russischsprachige Exilmedien wie Meduza, The Insider, IStories, Novaya Gazeta Europa oder Echo, für internationale Recherchenetzwerke oder für deutschsprachige Redaktionen. Ihre Perspektiven, ihr Wissen und ihre Netzwerke sind für die deutsche Medienlandschaft sehr wertvoll. Reporter ohne Grenzen fordert die Bundesregierung auf, die humanitären Aufnahmeverfahren umgehend wieder aufzunehmen, anstatt gefährdete Journalistinnen und Journalisten im Stich zu lassen. Für diejenigen, die bereits Aufnahmezusagen erhalten haben, sollten zudem sofort Visa erteilt werden. Der deutsche Staat muss seine Versprechungen einhalten.
Interviewangebote
Reporter ohne Grenzen vermittelt gern Kontakte zu betroffenen Journalistinnen und Journalisten aus Russland, Belarus und dem Iran, die über ihre Situation und ihre Arbeit im Exil sprechen möchten. Für Interviewanfragen wenden Sie sich bitte an: presse@reporter-ohne-grenzen.de
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Quelle und Kontaktadresse:
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