Pressemitteilung | AOK - Bundesverband

Neue Arzneimittel bei Multipler Sklerose: Risikoreiche Hoffnungsträger

(Berlin) - Nahezu die Hälfte aller Arzneimittelverordnungen für gesetzlich krankenversicherte Patienten mit Multipler Sklerose (MS) entfielen 2017 auf Wirkstoffe, deren Sicherheitsrisiken nicht ausreichend bekannt sind. So musste im März 2018 der Wirkstoff Daclizumab weltweit vom Markt genommen werden. Nur eines der seit 2011 neu zugelassenen MS-Therapeutika konnte seinen Zusatznutzen für eine spezielle Form der MS belegen. "Nebenwirkungen könnten besser erkannt werden, wenn neue Arzneimittel mit nicht abschätzbaren Sicherheitsrisiken nur unter besonderen Auflagen verordnet werden dürfen", sagt Helmut Schröder, stellvertretender Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO). "Neue MS-Arzneimittel sollten deshalb nur in qualifizierten Kliniken oder Schwerpunktpraxen angewendet werden. So könnten schwerwiegende, zum Zeitpunkt der Zulassung nicht bekannte Nebenwirkungen schneller identifiziert werden."

Multiple Sklerose ist in Deutschland die häufigste neurologische Erkrankung im jungen Erwachsenenalter und wird meist im Alter zwischen 20 und 40 Jahren diagnostiziert. Es handelt sich um eine Autoimmunerkrankung, bei der das Nervensystem durch meist schubförmig verlaufende entzündliche Reaktionen angegriffen wird und die dadurch hervorgerufenen bleibenden neurologischen Schäden zu körperlicher Behinderung führen.

1998 sind mit Interferon beta-1a und -1b erstmals krankheitsmodifizierende Arzneimittel zur schubprophylaktischen Behandlung der Multiplen Sklerose auf den Markt gebracht worden. Kurz darauf wurde das Präparat Copaxone© mit dem Wirkstoff Glatirameracetat zugelassen. Wirksamkeit und Langzeitsicherheit dieser drei Wirkstoffe sind mittlerweile gut erforscht. Darüber hinaus steht eine Vielzahl an neueren Wirkstoffen zur Verfügung, die die Schubrate der Erkrankung beeinflussen können. Die 31,45 Millionen verordneten Tagesdosen aller MS-Wirkstoffe zusammen reichen rein rechnerisch aus, um insgesamt knapp 86.000 GKV-Versicherte dauerhaft medikamentös zu versorgen.

Neue Wirkstoffe mit unklaren Risiken

Alle sieben Immuntherapeutika, die seit 2011 den MS-Markt betreten haben, können die Schubfrequenz beeinflussen. Doch bei ihnen fehlen Studien darüber, inwieweit sie tatsächlich das Fortschreiten der Erkrankung aufhalten können. Ebenso gibt es keine vergleichenden Beurteilungen dieser Mittel untereinander. Die Ergebnisse der frühen Nutzenbewertung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) zeigen jedoch: Nur das Arzneimittel Gilenya© mit dem Wirkstoff Fingolimod verfügt für eine spezielle Form der MS über einen geringen Zusatznutzen. Dennoch entfielen knapp die Hälfte der verordneten Tagesdosen an krankheitsmodifizierenden Arzneimitteln für MS-Patienten im Jahr 2017 (15,2 Mio. DDD) auf diese sieben neuen Arzneimittel. Dabei ist deren Nebenwirkungsprofil mit zum Teil lebensbedrohlichen Risiken noch gar nicht einschätzbar: Allein für das Arzneimittel Gilenya© mit dem Wirkstoff Fingolimod sind seit Markteintritt sieben Rote-Hand-Briefe vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) verschickt worden. Damit werden Ärzte und Apotheker insbesondere über neu erkannte Arzneimittelrisiken informiert. Für den Wirkstoff Dimethylfumarat (Tecfidera) stellte der G-BA nicht nur im Rahmen der frühen Nutzenbewertung keinen Zusatznutzen wegen fehlender Daten gegenüber Beta-Interferonen und Glatirameracetat fest. Rote-Hand-Briefe zu der unter Dimethylfumarat beobachteten, schwerwiegenden Nebenwirkung progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML) veranlassten den G-BA, engmaschige Kontrollen zur Risikominimierung einzufordern. Für den Wirkstoff Cladribin ist diese Nebenwirkung ebenfalls beschrieben. Im März 2018 musste das US-amerikanische Biotechnologieunternehmen Biogen das Arzneimittel Zinbryta© mit dem Wirkstoff Daclizumab sogar weltweit vom Markt nehmen: Die Gründe waren erhebliche Sicherheitsprobleme nach Meldungen über schwere entzündliche Erkrankungen des Gehirns (Enzephalitis und Meningoenzephalitis). Zuvor waren bereits tödlich verlaufende Leberschädigungen des Mittels bekannt geworden. 2017 wurden knapp 660.000 Tagesdosen in der Therapie eingesetzt: Rein rechnerisch wurden damit insgesamt ca. 1.800 GKV-Versicherte dauerhaft medikamentös versorgt und nach heutigem Erkenntnisstand unnötigen Risiken ausgesetzt.

Vor dem Hintergrund, dass MS-Patienten immer noch einer lebenslangen Therapie bedürfen, müssen die zum Teil besonders schweren Nebenwirkungen immunologisch wirksamer neuer Arzneimittel besonders beachtet werden. Schröder: "Angesichts dieser Ergebnisse sollte darüber nachgedacht werden, das aktuelle Meldesystem über unerwünschte Arzneimittelwirkungen für neue Arzneimittel zu erweitern." Denn diese verursachen Schäden für die Patienten, die mit sinkender Lebensqualität und steigenden Behandlungskosten bezahlt werden. Wie auch für neue onkologische Arzneimittel mitunter gefordert, sollten neue krankheitsmodifizierende MS-Arzneimittel nur in qualifizierten Kliniken oder Schwerpunktpraxen angewendet werden. So könnten schwerwiegende nicht bekannte Arzneimittelwirkungen schneller identifiziert und die Daten für eine optimale Risikominimierung einfacher zusammengeführt werden.

Quelle und Kontaktadresse:
AOK - Bundesverband Pressestelle Rosenthaler Str. 31, 10178 Berlin Telefon: (030) 34646-0, Fax: (030) 34646-2502

(ta)

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