Sexualdelikte zum Nachteil von Kindern: Rückgang der Zahlen täuscht über tatsächliche Lage hinweg
(Berlin) - Morgen werden Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CDU), Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA), und Kerstin Claus, Unabhängige Beauftragte des Bundes gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen (UBSKM), das Bundeslagebild „Sexualdelikte zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen 2024“ vorstellen.
Die Zahl der registrierten Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern bleibt mit 16.354 Fällen im Jahr 2024 nahezu unverändert gegenüber dem Vorjahr (16.375 Fälle). Auch wenn dies einem minimalen Rückgang von 0,1 Prozent entspricht, bleibt das Niveau aus Sicht der Deutschen Kinderhilfe besorgniserregend hoch. Insgesamt wurden 18.791 Kinder unter 14 Jahren Opfer sexuellen Missbrauchs – ein Rückgang von 1,9 Prozent. Auffällig ist jedoch der Anstieg der Fälle bei Kindern unter sechs Jahren um 3,8 Prozent auf 2.306 Opfer.
Im Vergleich zu 2019 ist ein deutlicher Anstieg der Opferzahlen zu verzeichnen: Damals wurden 15.936 Kinder unter 14 Jahren sexuell missbraucht – ein Plus von fast 18 Prozent innerhalb von fünf Jahren.
Auch im Bereich der sogenannten Kinderpornografie (Herstellung, Besitz und Verbreitung kinderpornographischen Materials) zeigt sich ein scheinbarer Rückgang: Nach einem Höchststand von 45.191 Fällen im Jahr 2023 sank die Zahl 2024 auf 42.854 Fälle (minus-5,2 Prozent / -2.337 Fälle). Die Deutsche Kinderhilfe warnt jedoch davor, diese Entwicklung als tatsächlichen Rückgang zu interpretieren. Vielmehr sind gesetzliche Änderungen und eine veränderte Strafverfolgungspraxis ausschlaggebend für die sinkenden Zahlen.
Im Mai 2024 wurde § 184b StGB reformiert. Die Mindeststrafen für Besitz und Verbreitung kinderpornografischer Inhalte wurden gesenkt, und der Besitz gilt nun nicht mehr als Verbrechen, sondern als Vergehen. Dies ermöglicht mildere Sanktionen und häufigere Einstellungen von Verfahren (§§ 153, 153a StPO) sowie die Bearbeitung per Strafbefehl ohne öffentliche Hauptverhandlung. Dadurch erscheinen viele Fälle nicht mehr in der offiziellen Statistik, obwohl sie strafrechtlich verfolgt wurden.
Die deutsche Kinderhilfe hatte die Reform im Rahmen einer Expertenanhörung als einziger angehörter Verband abgelehnt. „Hier hat man versucht, die Belastung der Justiz durch ständig neue Fälle zu reduzieren, indem man vorgab, man wolle nicht tausende von Jugendlichen, die sich auch mal gegenseitig Nacktbilder zusenden, kriminalisieren. Dies stimmt aber so nicht, da sie dem Jugendstrafrecht unterliegen, bei dem es überhaupt nicht um Verbrechen oder Vergehen geht, sondern um das erzieherische Einwirken auf die betroffenen Jugendlichen. Und das entspricht ja wohl mehr dem Präventionsgedanken als Verfahren ‚wie mit der Gießkanne‘ einzustellen“ kritisiert Rainer Becker, Ehrenvorsitzender der Deutschen Kinderhilfe e.V.
Die Deutsche Kinderhilfe begrüßt in diesem Zusammenhang daher ganz besonders die Entscheidung des EU-Parlaments vom Juni 2025, den Kampf gegen sexuellen Missbrauch von Kindern europaweit zu verschärfen. Geplant sind unter anderem:
• Höhere Höchststrafen für verschiedene Formen des sexuellen Missbrauchs
• Neue Definitionen des Begriffs „Einwilligung“ bei Minderjährigen
• Strafverschärfungen bei Ausbeutung von Kindern in der Prostitution und Besitz/Verbreitung von Missbrauchsdarstellungen
• Keine Verjährungsfristen mehr für Straftaten und Entschädigungsansprüche von Opfern
Diese Maßnahmen sind aus Sicht der Deutschen Kinderhilfe ein wichtiger Schritt, um die tatsächliche Dimension sexueller Gewalt gegen Kinder sichtbar zu machen und wirksamer zu bekämpfen.
Becker fordert darüber hinaus mehr Forschung zu dem Thema. „Die erste repräsentative Studie, die sich in jüngster Zeit mit dem Dunkelfeld sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche befasst hatte, stammt aus dem Juni 2025 vom Zentralinstitut für seelische Gesundheit und musste ohne jede Förderung durch zuständige Bundesministerien finanziert werden. Aber Politik, Justiz und Polizei brauchen für eine effiziente Prävention sexueller Gewalt valide Forschungsdaten und keine bloße Verwaltung des Status Quo“, so Becker.
Abschließend weist Becker darauf hin, dass der überwiegende Teil der Ermittlungserfolge in Bezug auf Herstellung, Besitz und Verbreitung kinderpornographischen Materials aufgrund von Hinweisen der halbstaatlichen amerikanischen Institution „Nationales Zentrum für vermisste und ausgebeutete Kinder“ (NCMEC) stammt, erhoben mit Methoden, für die der deutsche Gesetzgeber aus Datenschutzgründen die erforderlichen Eingriffsbefugnisse bis heute ablehnt. Der diesbezügliche Vertrag mit den USA läuft allerdings 2027 aus. „Kann sich die EU bis dahin nicht auf eine – von uns seit Jahren geforderte – effiziente gleichartige Ermittlungspraxis einigen, wird es in Europa und damit auch in Deutschland so gut wie keine festgestellte sogenannte Kinderpornografie mehr geben“, befürchtet Becker.
Eine möglicherweise so erzeugte Straflosigkeit der Mehrheit der Täter ist aus Sicht der Deutschen Kinderhilfe ein Skandal und eine Verhöhnung der Missbrauchsopfer. Daher werden wir die politischen Entscheidungsprozesse auf EU- Ebene weiter kritisch verfolgen.
Quelle und Kontaktadresse:
Deutsche Kinderhilfe - Die ständige Kindervertretung e.V., Schiffbauerdamm 40, 10117 Berlin, Telefon: 030 24342940
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