WSI: Ein Drittel der westdeutschen Vollzeitbeschäftigten arbeitet im Niedriglohnsektor
(Düsseldorf) - Rund ein Drittel aller Vollzeitbeschäftigten in Westdeutschland, das sind 6,3 Millionen Personen, erhalten einen Niedriglohn, also weniger als 75 Prozent des durchschnittlichen effektiven Vollzeitverdienstes. Das geht aus einer Studie hervor, die das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung im Auftrag des NRW-Ministeriums für Wirtschaft und Arbeit durchgeführt hat. Das Projekt untersuchte den Zusammenhang zwischen Niedriglöhnen, sozialen Mindeststandards und Tarifsystem.
Knapp 4,2 Millionen der Niedriglohnbezieher (fast 24 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten) erhalten demnach einen Arbeitslohn zwischen 50 bis unter 75 Prozent des Durchschnittsverdienstes (Prekärlöhne). Mit einem Lohn von weniger als 50 Prozent (Armutslöhne) müssen rund 2,1 Millionen Arbeitnehmer (gut 12 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten) auskommen. Der Niedriglohnsektor hat seit 1980 um fast 400.000 Vollzeitbeschäftigte zugelegt, während gleichzeitig die Gesamtzahl der Vollzeitbeschäftigen in Westdeutschland um 1,4 Millionen gesunken ist.
Diese Ergebnisse widersprechen laut Dr. Claus Schäfer vom WSI vielen der gängigen Argumente zum Thema Niedriglohnsektor: Ein Niedriglohnsektor muss nicht erst geschaffen werden, er existiert schon längst. Niedriglöhne sind unter den so genannten Normalarbeitsverhältnissen inzwischen sogar ein Massenphänomen. Trotz dieser Entwicklung kann von einem positiven Effekt auf die gesamte Vollzeitbeschäftigung oder gar von einem Beschäftigungswunder aber keine Rede sein.
Schäfer weist auch darauf hin, dass nicht allein junge oder unqualifizierte Beschäftigte Niedriglöhne beziehen. Vielmehr seien es mehrheitlich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im mittleren Alter und auch Beschäftigte mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung. Offenbar seien weniger individuelle als betriebliche bzw. strukturelle Faktoren für den Bezug von Niedriglöhnen verantwortlich. Frauen, Beschäftigte im Dienstleistungsbereich und Arbeitnehmer aus kleineren Betrieben mit bis zu 99 Beschäftigten sind die Hauptbezieher von Niedriglöhnen.
Angesichts dieser Befunde stelle sich die Frage, ob die untersten Tariflöhne noch überall ihre Funktion erfüllen können, die Arbeitnehmer vor Niedriglöhnen und besonders vor Armutslöhnen zu schützen. Schäfer verweist auf eine mögliche Ergänzung des Tarifsystems durch ein einfacheres und wirksameres Verfahren der Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) von Tarifverträgen durch die jeweiligen Bundes- oder Landesarbeitsministerien, um den Geltungsbereich der Tarifverträge auszuweiten. Eine weitere Möglichkeit sei ein gesetzlicher Mindestlohn nach dem Beispiel der meisten EU-Länder. Ein solcher gesetzlicher Mindestlohn habe den Beschäftigungserfolg in Holland, England und Frankreich nicht behindert, aber soziale Ausgrenzung verhindert.
Quelle und Kontaktadresse:
Hans-Böckler-Stiftung
Bertha-von-Suttner-Platz 1, 40227 Düsseldorf
Telefon: 0211/77780, Telefax: 0211/7778120
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