Machtwechsel und Umzug von Regierung und Parlament bildeten lediglich den äußeren Anlass für die Neuformierung der Interessenvertreter in Berlin. Im Kern liegt die Ursache vielmehr in den überkommenen Strukturen der Verbändelandschaft. Seit Jahren haben es die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft versäumt, die notwendigen Anpassungen an den Strukturwandel der Wirtschaft konsequent vorzunehmen.
So hat die Mehrzahl der Spitzenverbände den Umzug nach Berlin lediglich genutzt, um eine Art Wohngemeinschaft zu bilden. In einem gemeinsamen „Haus der Wirtschaft“ haben sich drei der vier grosen Spitzenverbände räumlich und infrastrukturell zusammengeschlossen. Die Mitglieder dieser Hausgemeinschaft bestehend aus BDI, BDA und DIHT teilen Kantine und Konferenzräume und -technik, strategisch-organisatorisch bleibt hingegen alles beim Alten. Der vierte Spitzenverband der deutschen Wirtschaft, der Zentralverband des Deutschen Handwerks e.V. (ZDH), ist seiner alten Gemeinschaft verbunden geblieben: Im „Haus des Deutschen Handwerks“ residiert er auch in Berlin nach wie vor Seite an Seite mit der Bundesvereinigung der Fachverbände des Deutschen Handwerks e.V. und dem Deutschen Handwerkskammertag. Die Interessenvertreter dieser Zunft sind mithin nicht über den Bonner Status Quo hinausgegangen.
Einige Spitzenverbände haben sich in der neuen Hauptstadt räumlich zusammengeschlossen, wenige darüber hinaus auch strategisch-organisatorisch.
In der neuen Hauptstadt hat sich nach langem Tauziehen ein fünfter Spitzenverband im „Haus des Handels“ konstituiert: Es ist die Bundesvereinigung der Deutschen Handelsverbände e.V. (BDH). Die Hauptmotivation derer, die diesen Zusammenschluss betrieben haben, war der Wunsch, möglichst bald im Bundeskanzleramt beim „Bündnis für Arbeit“ mit am Tisch sitzen zu können, da der Handel als Arbeitgeber in der überkommenen ‚tripartistischen Weltsicht’ oft nicht ausreichend wahrgenommen wurde.
Auch die Versicherungswirtschaft hat den Umzug nach Berlin zur Zusammenlegung der Lebens- und Schadensversicherer unter dem Dach des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. genutzt. Alleine die Tatsache, dass die Privaten Lebensversicherer eigenständig geblieben sind, zeigt allerdings die Halbherzigkeit schon im Ansatz. Fazit: Einige Spitzenverbände haben sich in der neuen Hauptstadt räumlich zusammengeschlossen, wenige darüber hinaus auch organisatorisch-strategisch.
Die strukturellen Probleme der Wirtschaftsverbände
Keiner der Spitzenverbände aber hat bis heute eine konsequente Neuausrichtung vorgenommen, die strukturellen Probleme der Wirtschaftsverbände bleiben nach wie vor existent. Dabei hängen die Perspektiven des Lobbyismus in Berlin nicht zuletzt davon ab, ob sich die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft den Herausforderungen der Zukunft noch beizeiten und konsequent stellen werden. Leisten sie die notwendigen Strukturanpassungen nicht, werden sie an Bedeutung verlieren.
Schon heute haben die anderen lobbyistischen Akteure an Einfluss gewonnen und Teilfunktionen der Verbände übernommen. Deutliche Neugewichtungen der Lobbyisten untereinander sind bereits Realität.
An dieser Stelle seien die fünf strukturellen Herausforderungen, mit denen die Wirtschaftsverbände konfrontiert werden und die wesentlichen Einfluss auf die Neuformierung der Interessenvertreter haben, noch einmal vergegenwärtigt:
Zwei bedeutende politisch-ökonomische Phänomene sind die zunehmende Globalisierung und die fortschreitende europäische Integration. Beide Entwicklungen führen zu einer steten Verlagerung von Entscheidungsprozessen und zu abnehmenden Gestaltungsmöglichkeiten nationaler Politik und damit auch nationaler Wirtschaftsverbände.
Schon heute haben die anderen lobbyistischen Akteure an Einfluss gewonnen
und Teilfunktionen der Verbände übernommen.
Das dritte Phänomen, mit dem die Wirtschaftsverbände konfrontiert werden, ist der massive technologisch bedingte Strukturwandel der Wirtschaft. Gemessen an den Anteilen des sekundären Sektors an der Bruttowertschöpfung sinkt die Bedeutung, während gleichzeitig die Bedeutung des tertiären Sektors beständig wächst. Das produzierende Gewerbe und die modernen Dienstleister entwickeln sich zu einem komplementären Beziehungsgeflecht, eine Entwicklung, an deren Ende ein neuer Schlüsselsektor der Volkswirtschaft stehen wird.
Keiner der konventionell gegliederten Branchenverbände kann angesichts dieses Strukturwandels die Unternehmerinteressen - insbesondere die der Zukunftsbranchen - voll abdecken. Die Schnittmengen zwischen den Branchenverbänden wachsen beständig. Die Folge: Es wird immer schwieriger, die Tätigkeitsfelder der Unternehmen einem der klassischen Branchenverbände eindeutig zuzuordnen, die Grenzen traditioneller Verbandsstrukturen sind erreicht, anders gesagt: sie bedürfen einer Neudefinition.
... die Grenzen traditioneller Verbandsstrukturen sind erreicht, anders gesagt: sie bedürfen einer Neudefinition.
Viertes Phänomen, das die Wirtschaftsverbände verändert, ist der Paradigmenwechsel in der Gesellschaft, ein Wechsel von Solidarität und Gemeinwohlorientierung hin zu Individualisierung und Pluralisierung und zu abnehmender Bindungswilligkeit ihrer Mitglieder. Mussten in der Vergangenheit Unternehmer, die ihre Verbände verließen, mit geschäftlicher und gesellschaftlicher Diskreditierung rechnen, scheint es heute dem Zeitgeist zu entsprechen, Verbänden den Rücken zu kehren und - im Hinblick auf ihre Leistungen - Trittbrett zu fahren.
Es scheint heute dem Zeitgeist zu entsprechen, Verbänden den Rücken zu kehren und - im Hinblick auf ihre Leistungen - Trittbrett zu fahren.
Eng verbunden mit dem vierten ist schließlich das fünfte Phänomen, das die Wirtschaftsverbände verändert: Es ist die neue Denkrichtung der Unternehmer angesichts des internationalen Wettbewerbsdruckes. Galt früher langfristige Interessenpolitik als ein von den Unternehmern anerkanntes Ziel eines Verbandes, so scheint heute die kurzfristige Wahrnehmung von Partikularinteressen erheblich an Bedeutung gewonnen zu haben.
Zukunftsstrategien
Diesen zentralen Herausforderungen haben sich die Spitzenverbände bis heute nicht hinreichend gestellt. Die unverändert dringend notwendigen Anpassungsstrategien lassen sich unter dem Rubrum ‚wirtschaftsstrukturelle Anpassung und maximale Flexibilisierung der Verbandsstruktur‘ fassen. Dabei reicht die gemeinhin geforderte Forcierung der verbandlichen Konzentrationsprozesse zur Stärkung der Schlagkraft nicht aus.
Hinzukommen müssen nach Überzeugung der Verfasserin folgende Strategien der Spitzenverbände: Die Zulassung von Unternehmensdirektmitgliedschaften als zusätzliches Element zu den bestehenden Verbändemitgliedschaften, die Einführung eines Modells einer kombinierten Struktur aus Basis-Mitgliedsbeiträgen und leistungsgebundenen Beiträgen und - damit eng verbunden – die Schaffung eines Systems aus Basisleistungen und optionalen Verbandsleistungen, der konsequente Ausbau des Instrumentes der ausgegliederten Geschäftsbetriebe und schließlich die Schaffung adäquater verbandlicher Betreuungspotentiale für die Informations- und Kommunikationswirtschaft und die modernen Dienstleister.
Sicher ist: Nur eine umfassende Neuausrichtung entlang dieses Maßnahmenkataloges kann im Ergebnis die Interessen der Verbändemitglieder unter den veränderten Rahmenbedingungen wieder hinreichend befriedigen und damit die Spitzenverbände als klassische lobbyistische Akteure stärken.
Ebenso gewiss ist allerdings auch: Wie auch immer sich die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft angesichts der umrissenen strukturellen Herausforderungen aufstellen werden, wird der Lobbyismus in Zukunft deutlich facettenreicher. Das hängt vor allem damit zusammen, dass die Steuerungsmöglichkeiten nationaler Regierungen abnehmen und gleichzeitig die Steuerungspotentiale der Wirtschaft und der Finanzmärkte substantiell wachsen. Die Folgen dieses Prozesses sind überdeutlich: Die Schnittstelle von Politik und Wirtschaft rückt in das Zentrum öffentlichen Interesses. Und hier benötigen die führenden Repräsentanten der Wirtschaft angesichts ihrer wachsenden politischen Bedeutung im veränderten Zusammenspiel von Regierung und Wirtschaft mehr als je zuvor maßgeschneiderte professionelle Politik-, Strategie- und Kommunikationsberatung. Dass solche individuellen Beratungsleistungen in weiten Teilen nicht von den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft zu erbringen sind und dies auch nicht ihre originäre Aufgabe sein kann, versteht sich von selbst.
Der Lobbyismus wird in Berlin nicht zuletzt wegen des veränderten Anforderungsprofils an lobbyistische Akteure pluraler.
Insofern scheint eine Entwicklung schleichenden Einflussverlustes der klassischen Spitzenverbände bei gleichzeitiger Etablierung alternativer lobbyistischer und beratender Strukturen unterhalb der Ebene formaler Veränderungen mittelfristig die wahrscheinlichste Variante. In jedem Falle wird der Lobbyismus in Berlin nicht zuletzt wegen des veränderten Anforderungsprofils an lobbyistische Akteure pluraler.
Die Tatsache, dass die mächtigen Unternehmensfürsten immer stärker das direkte Gespräch mit den Regierenden, vor allem mit dem Bundeskanzler selbst, suchen und damit zunehmend als ihre eigenen Cheflobbyisten agieren, mag als ein Beleg gelten. Dies entspricht den veränderten Bedürfnissen der Unternehmer und – zumindest auf europäischer Ebene – mit der Etablierung der European Round Tables seit einigen Jahren auch der faktischen Entwicklung. Auch die zunehmenden lobbyistischen Aktivitäten von Rechtsanwaltskanzleien und Unternehmensberatungen unterstreichen diese Entwicklung. Und schließlich belegt auch die Tatsache, dass alle bedeutenden PR-Agenturen inzwischen in der neuen Hauptstadt eigene Bereiche für Public Affairs aufgebaut haben, die beschriebenen Entwicklungstendenzen.
Dabei sind die Chancen, die mit der Neuformierung der Interessenvertreter in Berlin verbunden sind, deutlich größer als die Risiken, weil sie den veränderten Bedürfnissen Rechnung trägt. Wenn die klassischen Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft und die hinzugekommenen Interessenvertreter es verstehen, sich in Zukunft komplementär zu begreifen, wird Lobbyismus im wohlverstandenen Sinne als elementares demokratisches Gestaltungsmittel an der immer bedeutender werdenden Schnittstelle von Politik und Wirtschaft insgesamt profitieren!