Verbändereport AUSGABE 1 / 2000

Die Vielfalt der Verbände

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Vieles in der deutschen Verbändelandschaft ist im Fluß, gerade in den neuen Bundesländern, und häufig fehlt es an genauen Daten, etwa über die Anzahl der Vereinigungen. Die Lobbyliste des Deutschen Bundestages (offiziell: Öffentliche Liste über die Registrierung von Verbänden und deren Vertretern) in der Ausgabe von 1995 erfaßt 1538 Verbände. Aber sie enthält nur diejenigen Verbände, die sich dort gemeldet haben. In diese Liste müssen sich alle Verbände eintragen, die offiziell Zugang zum Parlament, zur Regierung und zu deren Anhörungen (Hearings) haben wollen. Die Liste ist eine Fundgrube für die unterschiedlichsten Verbände, deren Adressen, Mitgliederzahlen und Zielsetzungen.

Da es nirgendwo eine zentrale Erfassungsstelle für Verbände gibt oder ein Forschungsinstitut, das systematisch alle Daten sammelt, ist man auf die Zahlen von Umfragen und Adressenhandbüchern sowie auf Faustregeln zur Aufhellung der Dunkelziffer angewiesen. Danach müßte es über 2500 organisatorisch selbständige, bundesweit tätige Verbände geben. Kommerzielle Adressenanbieter bringen es sogar auf über 20000 Verbandsadressen. Hier sind aber Kreis- und Landesstellen und sonstige Teilorganisationen miterfaßt und damit viele Verbände mehrfach gezählt. Auch das Vereinsregister enthält keine genauen Angaben, denn es umfaßt alle eingetragenen Vereine und unterscheidet nicht zwischen Verbänden, die vor allem die Interessenvertretung ihrer Mitglieder zum Ziel haben, und anderen eingetragenen Vereinen, die keine Interessenverbände sind.

Organisationsgrad

Obwohl die Anzahl der Vereine und damit der Verbände hoch erscheint, ist doch nur ein Teil der Bevölkerung organisiert. Nach jüngeren Umfragen - allerdings noch in der alten Bundesrepublik - sind ungefähr 25 Prozent Mitglied eines Berufsverbandes oder einer Gewerkschaft und über 60 Prozent in einem Verein. Bei den Vereinen gibt es jedoch viele Doppelmitgliedschaften, so daß die Zahlen etwas zu hoch erscheinen. Denn viele Menschen sind nicht nur Mitglied eines Verbandes, beispielsweise der Gewerkschaften, sondern in mehreren Verbänden oder Vereinen organisiert. Die Mitgliedschaft in Automobilclubs, Mietervereinen und anderen Service-Verbänden ist in diesen Zahlen nicht enthalten, so daß der Organisationsgrad doch sehr viel höher liegt. Nimmt man Umwelt- und Sozialverbände oder sogar auch noch die Kirchen hinzu, dann würde fast jeder in Deutschland in irgendeiner Weise Mitglied von freiwilligen Organisationen sein - die meisten sogar mehrfach.

Allerdings ist vielen Menschen ihre Mitgliedschaft in Verbänden und Vereinen gar nicht bewußt, da sie nicht aktiv sind und nur den Mitgliedsbeitrag abbuchen lassen. Andere dagegen sind ehrenamtlich höchst aktiv und übernehmen Ämter und Aufgaben.

Der typische deutsche "Vereinsmeier" war in der Vergangenheit männlich, mittleren Alters und aus dem Mittelstand. Hier hat sich viel geändert. Männer sind immer noch in der Vereinsmitgliedschaft (75 Prozent aller Männer sind organisiert) gegenüber den Frauen (55 Prozent aller Frauen sind Vereinsmitglied) überrepräsentiert. Neben ihrer traditionell hohen Beteiligungsbereitschaft in Kirchen und religiösen Verbänden haben sie besonders im Sport, aber auch in Umweltorganisationen stark aufgeholt.

Bei den Berufsverbänden haben die Männer mit 38 Prozent eine deutlich höhere Organisationsquote als die Frauen mit 13 Prozent, was besonders auf die höhere Gewerkschaftsmitgliedschaft der Männer zurückzuführen ist. Vom Alter ausgehend beginnt die Mitgliedschaft bei jungen Menschen (18-24 Jahre) mit nur 15 Prozent und verdoppelt sich bei den älteren Erwachsenen (45-59 Jahre) auf 34 Prozent und sinkt danach bei den Rentnern und Pensionären auf 20 Prozent. Die Schulbildung hat auf die Verbandsmitgliedschaft keinen nennenswerten Einfluß. Die Wohnortgröße macht nur bei den Dörfern bis zu 2000 Einwohnern einen klaren Unterschied: Dort ist die Verbandsmitgliedschaft deutlich niedriger. Dies steht ganz im Gegensatz zur lokalen Vereinsmitgliedschaft, die hier eher überproportional hoch ist. Auch anhand der Bildung lassen sich starke Unterschiede bei der Vereinsmitgliedschaft feststellen: Je höher die Bildung ist, desto stärker ist die Bereitschaft, sich zu organisieren.

Die Zahl der Vereinsmitglieder allgemein ist übrigens um ein Vielfaches höher als die Zahl der Parteimitglieder in Deutschland. Insgesamt sind ungefähr 2,5 Millionen Bundesbürger Mitglied einer der politischen Parteien, das sind nur fünf Prozent der Wahlberechtigten. Auch bei den Parteien sind die Männer mittleren Alters aus dem Mittelstand deutlich überrepräsentiert.

Wirtschaftsfaktor Verbandswesen

Der gesamte "Dritte Sektor" zwischen Markt und Staat, zu dem auch die Verbände gehören, ist nicht nur ein Bereich für ehrenamtliches Engagement, Mitbestimmung, Mitwirkung, Einfluß und Macht, sondern er ist auch ein beträchtlicher Wirtschaftsfaktor. Ein Beispiel sind die Wohlfahrtsverbände.

Wohlfahrtsverbände

Wenn man bedenkt, daß die fünf deutschen Wohlfahrtsspitzenverbände (Deutscher Caritasverband e. V., Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland e.V., Deutsches Rotes Kreuz e.V., Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband e.V., Arbeiterwohlfahrt e.V. und Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V.) insgesamt fast eine Million Beschäftigte aufweisen, kann man die wirtschaftliche und arbeitsmarktpolitische Bedeutung des Verbandswesens kaum hoch genug einschätzen. Nimmt man die kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und die aller übrigen Vereine und Verbände hinzu, kommt man leicht auf über zwei Millionen Beschäftigte.

Die sogenannten "freien Träger" der verbandlichen Wohlfahrtspflege (im Gegensatz zu staatlichen Trägern) in Deutschland betreiben die enorme Anzahl von 60000 einzelnen sozialen Einrichtungen - vom Kindergarten über das Altenheim bis zur Großklinik. Sie haben jährlich einen Umsatz von etwa 40 Milliarden DM und verfügen über rund 70 Milliarden DM Anlagevermögen. Neben ihren fast eine Million Hauptamtlichen wirken über 1,5 Millionen ehrenamtliche Helfer an diesen Dienstleistungen mit. Der gesamte Dienstleistungssektor wird in Deutschland zu einem beträchtlichen Anteil - die Schätzungen reichen von 10 bis 25 Prozent - von Verbänden, Vereinigungen und Vereinen bestritten. Wir stehen damit einer der großen Branchen im gesamten Wirtschaftsbereich gegenüber.

Allerdings finanzieren die Verbände ihre Dienstleistungen nicht allein mit eigenen Mitteln. Nach eigenen Angaben stammen die Finanzmittel der Wohlfahrtsverbände zu je etwa einem Drittel aus staatlichen Zuwendungen, aus Erstattungen der Sozialleistungsträger sowie aus Spenden und Mitgliedsbeiträgen, also aus Eigenmitteln. Skeptiker glauben allerdings, daß die Eigenmittel kaum zehn Prozent überschreiten.

Die besondere Größe und Stellung der Wohlfahrtsverbände ist eine deutsche Eigenheit. Nirgends sonst haben sie eine so einflußreiche und privilegierte Position. Wir werden auf das Charakteristische dieser deutschen Wohlfahrtsverbände später noch einmal ausführlicher zurückkommen. Trotzdem ist der gesamte "Dritte Sektor" aus nicht-staatlichen und nicht-erwerbswirtschaftlichen Vereinigungen in anderen Ländern nicht kleiner, sondern oft noch bedeutsamer. Nach vergleichenden Studien wurden 1990 in Deutschland 3,6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes hier erwirtschaftet, in Großbritannien aber 4,8 Prozent und in den USA sogar 15,4 Prozent.

Verbandsmitarbeit

Abgesehen von den "unbekannten Riesen", wie man die Wohlfahrtsverbände mit ihrem großen Mitarbeiter- und Servicevolumen wegen ihres vergleichsweise geringen Bekanntheitsgrads genannt hat, sind aber auch die stärker im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehenden Verbände ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Allerdings herrschen in der Öffentlichkeit und in den Medien oft falsche Vorstellungen über die Größenordnungen. Die in den Medien so stark präsenten Parteien, deren angebliche Übermacht in letzter Zeit oft beklagt wurde, haben neben ihren insgesamt etwa 2,5 Millionen Mitgliedern "nur" etwa 1500 hauptamtlich Beschäftigte. Die ebenfalls vieldiskutierten Gewerkschaften hatten Ende 1995 bei 9,36 Millionen Mitgliedern in ganz Deutschland etwa 15000 hauptamtliche Mitarbeiter. Dagegen weisen alle Wirtschaftsverbände zusammen - also die Industrie-, Handels- und Arbeitgeberverbände sowie die Kammern und Innungen - ungefähr das Zehnfache, nämlich ca. 150000 hauptamtlich Beschäftigte auf.

Nimmt man zu den Verbänden noch die Vereine hinzu, so wächst die Bedeutung dieses Wirtschaftsfaktors erheblich. Die ehrenamtlich aktiven Vereinsmitglieder werden auf mindestens fünf Millionen geschätzt. Die auf dieser Basis erbrachte Wertschöpfung dürfte sich auf einige zehn Milliarden DM belaufen - allein im Sportbereich werden drei Milliarden DM an Vereinsbeiträgen aufgebracht. Die Kaufkraft der Mitgliedsverbände insgesamt ist beträchtlich. Mit der Ausübung der Verbands- und Vereinszwecke sind der Ankauf von Sportgeräten, Musikinstrumenten und Kleidung sowie Bauten, Gastronomie, Reisen und vieles andere mehr verbunden. Zahlreiche Verbände und Vereine betätigen sich selbst als Unternehmen im Sozial-, Gesundheits-, Kultur- und Bildungsbereich. Sie sind Träger von Qualifizierungs- und Beschäftigungsinitiativen. Oder sie gründen gewinnorientierte Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbH) als "Service-Gesellschaften", wie zum Beispiel die Reisedienste des ADAC oder auch der Gewerkschaften. Damit sprechen sie dann nicht nur die eigene, Millionen umfassende Mitgliedschaft, sondern die gesamte Bevölkerung an und erzielen einen entsprechend hohen Umsatz.

Typologie

Es ist nicht einfach, unter den Verbänden mit Millionen Mitgliedern einerseits bis zu Kleinverbänden andererseits, die nur ein Dutzend Mitglieder kennen, die Übersicht zu behalten. Deshalb wäre ein Ordnungssystem sehr hilfreich. Eine solche gute Typologie ist wie ein großer Aktenschrank mit beschrifteten Ordnern, Schubladen und Fächern, die genau Auskunft geben, wo was abgelegt und damit schnell wiedergefunden werden kann.

Wir werden das Ideal eines einzigen und eindeutigen Ordnungssystems für die Verbändelandschaft aber wohl aufgeben müssen. Statt dessen gibt es mehrere Möglichkeiten, nach denen die Verbände geordnet werden können.

  • Nach der Größe kann zwischen Großverbänden mit Millionen Mitgliedern und kleinen Verbänden mit höchstens einigen hundert Mitgliedern unterschieden werden. Großverbände haben viele gemeinsame Probleme: Unübersichtlichkeit, komplizierte Willensbildung, Bürokratisierung, Entfernung und sogar Entfremdung zwischen Mitgliederbasis und Führungsspitze, aber auch organisatorische Kraft- und Durchsetzungsfähigkeit. Trotzdem sind aber die Unterschiede zwischen einzelnen Großverbänden - zum Beispiel zwischen Gewerkschaften, Bauernverband, Sportverbänden und Automobilclubs - so groß, daß diese Typologie in Groß- und Kleinverbände in der Praxis nicht sehr aufschlußreich ist.
  • Nach der Rechtsform kann man die Verbände in eingetragene Vereine und nicht eingetragene Vereine einteilen. Öffentlich-rechtliche Körperschaften, wie die Kammern und die Kirchen, können sozialwissenschaftlich in ihrem Handeln oft auch als Verbände betrachtet werden. Für die Stellung eines Verbandes, seine Arbeitsweise und die Willensbildung seiner Mitglieder ist die Rechtsform aber nur bedingt wichtig.
  • Der Organisationstyp ist auch ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal. Viele Interessenverbände, die in Bonn die Politik beeinflussen und deshalb in der "Lobby-Liste" geführt werden, sind Dachverbände, die mehrere Verbände unter dem Dach eines Gesamtverbandes vereinigen. Daneben gibt es die Mitgliederverbände, die aus dem Zusammenschluß "natürlicher Personen", wie es in der Rechtssprache heißt, also Einzelpersonen, bestehen. Die Mitglieder von Dachverbänden sind dagegen "juristische Personen", also wiederum selbständige Einzelverbände. Man kann also nicht als einfaches Mitglied einem Dachverband, so zum Beispiel dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), beitreten.
  • Die jeweilige Art des Interesses oder der vorrangige Vereinigungszweck sind ein weiteres Unterscheidungskriterium. Hier wird in der Regel eine Zweiteilung vorgenommen in materielle Interessen einerseits, das heißt wirtschaftliche Interessen als Berufsgruppe oder Betroffenengruppe - zum Beispiel Flüchtlinge, Blinde oder Produzenten von Gütern oder Dienstleistungen - und in ideelle Interessen andererseits, das heißt soziale Fürsorge, gemeinnütziges Engagement, religiöse, kulturelle, wissenschaftliche oder Freizeit- und Erholungsinteressen. Auch diese Unterscheidung ist nicht immer trennscharf, denn ideelle Fördervereine können auch materielle Interessen haben, wie beispielsweise ein Flüchtlingsverband neben Heimat- und Brauchtumspflege auch finanzielle Unterstützung, etwa Subventionen, beantragen kann. Umgekehrt gilt das gleiche, denn eine wirtschaftliche Interessengruppe wie die Gewerkschaften hat auch ideelle gesellschaftliche und kulturelle Aktivitäten aufzuweisen.

Unterscheidung nach gesellschaftlichen Handlungsfeldern

Eine umfassende Typologie der Interessenverbände kann nach fünf gesellschaftlichen Handlungsfeldern vorgenommen werden. Das sind die Handlungsfelder Wirtschaft und Arbeit, Soziales Leben und Gesundheit, Freizeit und Erholung, Religion, Weltanschauung und gesellschaftspolitisches Engagement sowie schließlich Kultur, Bildung und Wissenschaft. In allen fünf Feldern gibt es eine Fülle von unterschiedlichen Arten von Interessenverbänden.

Für jeden Verband müßte es also nur eine und genau diese "Schublade" geben. Leider spielen die freiwilligen Organisationen hier nicht mit. Es herrscht viel Unübersichtlichkeit, die nicht so eindeutig zu verorten ist. Ist der ADAC nun ein Verbraucherverband der Autofahrer, ein Motorsportclub, ein Pannendienst, ein Reiseunternehmen oder eine Lobby für die Automobilbranche? Oder von allem etwas? Dann paßt er erst recht nicht in eine Schublade. Und so geht es mit vielen Verbänden. Mit dieser Unklarheit, die der strengen Wissenschaft widerstrebt, müssen wir im Bereich der lebendigen Verbändevielfalt leben.

1. Wirtschaft und Arbeit

  • Wirtschafts- und Unternehmerverbände aller Wirtschaftssektoren (Produktion, Verarbeitung, Dienstleistung und Branchen),
  • Arbeitgeberverbände,
  • Kammern,
  • Innungen,
  • Arbeitnehmerverbände (Gewerkschaften, Berufsverbände),
  • Verbände der Selbständigen (insbesondere Bauern, freie Berufe, Hausbesitzer usw.),
  • allgemeine Verbraucherverbände,
  • spezielle Verbraucherverbände (Mieter, Steuerzahler, Postbenutzer, Autofahrer).

2. Soziales Leben und Gesundheit

  • Sozialleistungsverbände (insbesondere die Wohlfahrtsverbände),
  • Sozialanspruchsverbände (zum Beispiel Blinden- und Kriegsopferverbände),
  • Medizin-, Patienten- und Selbsthilfevereinigungen,
  • Familienverbände,
  • Kinder-, Jugendlichen- und Seniorenverbände,
  • Frauenverbände,
  • Ausländer- und Flüchtlingsverbände.

3. Freizeit und Erholung

  • Sportverbände,
  • Verbände für Heimatpflege, Brauchtum, Geschichte,
  • Kleingärtnerverbände,
  • Naturnutzerverbände (Jäger, Angler, Tierzüchter),
  • Geselligkeits- und Hobbyverbände (Kegler, Sammler, Sänger und Musizierer, Spiel und Spaß, Fan-Clubs).

4. Religion, Weltanschauung und gesellschaftliches Engagement

  • Kirchen und sonstige Religionsgemeinschaften,
  • gesellschaftspolitische Verbände (Grund- und Menschenrechte, Internationale Verständigung, Frieden, Kriegsdienstverweigerer usw.)
  • Umwelt- und Naturschutzverbände.

5. Kultur, Bildung und Wissenschaft

  • Verbände der Bildung, Ausbildung und Weiterbildung,
  • Verbände im Kunstbereich (Literatur, Musik, Theater, bildende Kunst usw.),
  • Verbände von Kultur- und Denkmalschutz,
  • wissenschaftliche Vereinigungen.
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