Wirtschaft und Arbeit
Die materielle Grundlage unseres Lebens ist die Erwerbsarbeit. Im Wirtschaftsleben bündeln sich deshalb zentrale Interessenkonflikte unserer Gesellschaft. Entsprechend bilden die Verbände der Wirtschaft und des Arbeitslebens die gewichtigste Gruppe der Interessenverbände. Sie stellen auch die bei weitem größte der Interessenverbände-Gruppen in der "Lobbyliste" des Deutschen Bundestages. Die Bundesrepublik räumt der Beteiligung der wirtschaftlichen Interessenverbände an der politischen Gestaltung einen hohen Stellenwert ein. Dies geschieht auf höchst verschiedenen Wegen - auf dem öffentlich sichtbaren Treffen der Spitzengespräche beim Bundeskanzler oder bei der offiziellen "Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen" genauso wie auf den verschlungenen Pfaden der persönlichen Kontakte und informellen Einflußkanäle.
Im Grundgesetz werden die Vereinigungen des Arbeits- und Wirtschaftsbereiches besonders hervorgehoben. Denn neben Artikel 9 Absatz 1 des Grundgesetzes, der das für alle Bereiche wichtige Grundrecht auf Bildung von Vereinen und Gesellschaften sichert, wird in Absatz 3 speziell garantiert: "Das Recht zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbeziehungen, Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet". Das Recht, im Bereich der Arbeitsbeziehungen Vereinigungen zu bilden, nennt man das Koalitionsrecht. Es ist insbesondere die Grundlage für die Arbeit der Gewerkschaften, deren freie Entfaltung in allen autoritären Staaten behindert wird. Die Koalitionsfreiheit ist in der Bundesrepublik somit grundgesetzlich klar verbürgt. Das Koalitionsrecht ist ein Eckpfeiler der Arbeitsbeziehungen, die auch "industrielle Beziehungen" oder "Austauschbeziehungen zwischen Kapital und Arbeit" genannt werden. Geregelt werden damit die Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse in der Wirtschaf Dies geschieht nur zu einem Teil durch staatliche Regelungen mittels Gesetz, Verordnung oder durch richterliche Entscheidungen (Richterrecht) wie in wichtigen Bereichen des Arbeitsrechts, sondern zum großen Teil selbständig (autonom) durch die beiden Tarifparteien im Zuge der Tarifautonomie.
Die Arbeitgeberverbände (für das Kapital) und die Gewerkschaften (für die Arbeit) handeln frei und unabhängig vom Staat die Tarife für die Arbeitnehmer aus. Diese werden in zeitlich befristeten Tarifverträgen festgelegt. Läuft die Zeit ab, so wird der Vertrag in der Regel von den Gewerkschaften, seltener auch von den Arbeitgebern, gekündigt und es werden Tarifverhandlungen verlangt. Kommt es dabei nicht zur Einigung, entsteht ein Tarifkonflikt, in dem zunächst Schlichter zu vermitteln suchen. Wenn das nicht zur Einigung führt, können Kampfmaßnahmen eingesetzt werden: Die Gewerkschaften können zum Streik aufrufen, die Arbeitgeber darauf gegebenenfalls mit Aussperrung antworten.
Zum deutschen System der Tarifautonomie gehören also die beiden Tarifverbände, Rahmenrichtlinien des Arbeits- und Arbeitskampfrechts, die Kooperation durch Mitbestimmungsregelungen nach dem Betriebsverfassungsgesetz und dem Montan-Mitbestimmungsgesetz (dieses gilt nur im "Montanbereich", das heißt dem Sektor von Kohle und Stahl) und dazu gehört auch der geregelte Konflikt bei Tarifauseinandersetzungen. Die Tarifverbände spielen insofern wirtschaftspolitisch eine ganz entscheidende Rolle.
Aber nicht nur Gewerkschaften und Arbeitgeber bilden Verbände im Bereich von Wirtschaft und Arbeit. Das Feld ist noch viel weiter und umfaßt mindestens die folgenden sechs verschiedenen Typen von Interessengruppen: Wirtschafts- und Unternehmerverbände, Arbeitgeberverbände, der Sonderfall der Kammern, Arbeitnehmer- und Berufsverbände sowie Verbraucherverbände.
Wirtschaftsverbände
Im Wirtschaftsbereich gibt es eine Besonderheit. Während die Arbeitnehmer in erster Linie durch die Gewerkschaften vertreten werden, bilden die Unternehmerverbände in Deutschland drei Säulen: die Wirtschaftsverbände, die Arbeitgeberverbände und die Kammern.
Unter den Wirtschaftsverbänden ragt als größter der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) heraus. Daneben gibt es Spitzenverbände der Banken oder des Handels. Der BDI bildet das Dach über ein kompliziert verschachteltes Gebilde vieler Einzelverbände. Ihm gehören unmittelbar 16 Landesverbände und 35 Branchenverbände an - von A wie Automobilindustrie bis Z wie Zuckerindustrie - die sich selbst wiederum in zahlreiche Fachverbände unterteilen, so daß es sich insgesamt um fast 400 Einzelverbände handelt. Der BDI mit Sitz in Köln ist sozusagen der "Cheflobbyist" für die Industrie in Bonn, aber auch in Brüssel bei der Europäischen Union (EU) sowie mit Vertretungen in Washington und Tokio. Daneben stellt der BDI seinen Verbänden zahlreiche Dienstleistungen - Beratung und Service - für deren Wirtschafts-, Technologie-, Umwelt- und internationale Politik zur Verfügung. Der BDI ist der größte, bekannteste und wohl auch mächtigste Wirtschaftsverband in Deutschland. Aber die Tarifverhandlungen werden nicht von ihm geführt.
Die gesellschafts- und sozialpolitischen Interessen der Unternehmer werden von den Arbeitgeberverbänden gegenüber Staat, Öffentlichkeit und Gewerkschaften wahrgenommen. Insbesondere sind sie aber der Tarifpartner der Gewerkschaften. Alle Tarifverhandlungen - mit Ausnahme des öffentlichen Dienstes - werden von diesen beiden Tarifparteien geführt.
Die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) in Köln ist der Dachverband eines weit verzweigten Geästs von Einzel- und Unterverbänden. Zunächst einmal gibt es 62 Mitgliedsverbände der BDA aus Industrie, Handel, Banken, Landwirtschaft, Handwerk und Dienstleistungen einerseits und aus 15 Landesverbänden andererseits. Jeder dieser Spitzenverbände besteht aus einer Vielzahl von Einzelverbänden, besonders bei der Industrie. Dort sind 26 Fachspitzenverbände Mitglied, angefangen alphabetisch vom Verband der Deutschen Bauindustrie, dem nochmals 37 Einzelverbände angehören. Insgesamt ergibt sich daraus die immense Zahl von über 1000 Arbeitgeberverbänden, die der BDA unmittelbar oder über ihre Mitgliedsverbände angeschlossen sind. Entsprechend kompliziert ist die Willensbildung in Präsidium, Vorstand, Geschäftsführung, Ausschüssen, Instituten, Stiftungen und Kuratorien. In diesen Gremien sind mehrere hundert leitende Persönlichkeiten der Wirtschaft vertreten.
Neben der in der Öffentlichkeit oft spektakulären Rolle der Arbeitgeberverbände in Tarifauseinandersetzungen nimmt die BDA - wie die Gewerkschaften auch - wichtige, aber nicht so öffentlichkeitswirksame Aufgaben als Vertretung der Arbeitgeber in staatlichen und sozialpolitischen Organen wahr, so beispielsweise bei der Bundesanstalt für Arbeit, bei den Arbeits- und Sozialgerichten, bei den Krankenkassen und den Rentenversicherungen.
Der Organisationsgrad der Arbeitgeber in den Verbänden ist immer recht hoch gewesen - in den achtziger Jahren waren 80 Prozent aller Unternehmen in der Bundesrepublik organisiert. Nur ein im Arbeitgeberverband organisiertes Unternehmen ist an die Tarifverträge mit den Gewerkschaften gebunden. Anderenfalls kann es freie Haustarife anbieten. In den neunziger Jahren haben die Konflikte innerhalb der Arbeitgeberverbände über die Tarifpolitik zugenommen, so daß eine Reihe von Unternehmen ausgetreten sind. Die Organisationsquote ist deutlich gesunken. Mitte 1996 haben sogar die beiden Branchenverbände - der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie und der Zentralverband des Deutschen Baugewerbes - beschlossen, die BDA zu verlassen, weil diese dem mit den Gewerkschaften ausgehandelten Kompromiß der Bauarbeitgeber über die sogenannte "Entsenderegelung", damit ist die Festlegung eines Mindestlohnes für ausländische Arbeitnehmer auf deutschen Baustellen gemeint, nicht zugestimmt haben. Dieser Konflikt innerhalb des Arbeitgeberlagers gibt zu der Sorge Anlaß, daß bewährte Prinzipien der flächendeckenden Tarifpolitik in Deutschland in Zukunft bedroht sind.
Krach bei den Wirtschaftsverbänden
Immerhin, die Herren duzen sich, und gelegentlich gingen einige von ihnen auch gemeinsam segeln. Doch derartige Vertraulichkeiten zwischen den Spitzenleuten der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) dürften künftig wohl seltener stattfinden. Schlecht war das Klima zwischen den beiden Wirtschaftsverbänden schon seit längerem, jetzt ist es ausgesprochen frostig geworden. […]
Lange Jahre sind sich die drei großen Wirtschaftsverbände - neben BDI und BDA der Deutsche Industrie- und Handelstag (DIHT) - nur selten in die Quere gekommen, auch wenn Kritiker nicht einsehen mochten, wozu gleich drei aufwendige und teure Verbandsbürokratien nütze seien. Die BDA fühlte sich vor allem für Sozial- und Tarifpolitik zuständig, der BDI für die Wirtschaftspolitik und der DIHT agierte als Dachverband der Industrie- und Handelskammern. Doch seit sich, wegen wachsenden Kostendrucks und der Bedrohungen der Globalisierung, die Laune in den Unternehmen verdüstert, bröckelt die Solidarität […]
Vor allem die BDA geriet immer mehr unter Beschuß. Wiewohl selbst alles andere als zimperlich im Umgang mit den Gewerkschaften, steht die Holding der Arbeitgeberverbände noch am ehesten zum Prinzip der Sozialpartnerschaft - zumindest nach Meinung des BDI viel zu bedingungslos. ”Es ist ein Punkt erreicht”, sagt dessen Vizepräsident Tyll Necker, ”an dem eine Konsens-um-jeden-Preis-Politik nicht mehr durchzuhalten ist.” Die entscheidende Frage sei nicht: ”Was besänftigt die Gewerkschaften?”, sondern ”Was bekämpft die Arbeitslosigkeit?” Notfalls müsse man auch ”zur Konfrontation bereit sein”.
Vor allem aber stoßen sich Kritiker wie Necker daran, daß die BDA trotz aller Reformwünsche am Flächentarifvertrag in der bisherigen Form festhält. […] Der Mittelständler möchte, ”daß über diese zentralen Parameter die Betriebsparteien entscheiden können, wenn die Tarifparteien zu markt- und unternehmensfernen Abschlüssen kommen.” Dies wäre faktisch das Ende des verbindlichen Flächentarifs.
Die Fragen an den Arbeitgeberverband lauteten: ”Welche Strategie hat die BDA zur Eindämmung der Arbeitszeitverkürzung entwickelt? Welche Strategie ist entwickelt worden, um Arbeitsplätze zu sichern und zu schaffen? Wo sind die konzeptionellen Ansätze, um entsprechend auf Politik und Gewerkschaften einzuwirken?” Die Antwort gibt Necker gleich selbst: ”Dies ist zumindest nicht hinreichend geschehen […]”.
Arne Daniels, ”Krach bei den Kapitalisten”, in: Die Zeit vom 22. März 1996.
Kammern
Die dritte Säule der Unternehmerverbände ist der Deutsche Industrie- und Handelstag e.V. (DIHT) als Spitzenorganisation der entsprechenden Kammern. Der DIHT ist als eingetragener Verein zweifellos ein Verband, der Kammerinteressen vertritt, und keine öffentliche Körperschaft, wie die einzelnen Kammern. Der DIHT ist der Dachverband von drei Millionen gewerblichen Unternehmen. Die einzelnen 83 deutschen Industrie- und Handelskammern sind wie bereits gesagt Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Zwangsmitgliedschaft für alle Groß- und Kleinunternehmen aller Branchen. Neben Industrie und Handel haben auch die Landwirte, das Handwerk und einige freie Berufszweige (Ärzte, Anwälte, Architekten) eigene Kammerorganisationen oder Innungen, denen sie sich anschließen müssen.
Die Kammern haben damit eine Zwitterstellung zwischen Selbstverwaltung der Wirtschaft und öffentlichem Auftrag: Eigene Kammergesetze regeln Organisation, Willensbildung und Aufgaben. Der Staat weist den Kammern die Durchführung bestimmter Aktivitäten zu. So obliegt ihnen beispielsweise die Standesaufsicht. Sie können Inhalt, Form und Ziel der beruflichen Fortbildung organisieren; sie beraten den Staat in wirtschafts- und strukturpolitischen Fragen. Finanziert werden die Kammern sowohl aus öffentlichen Mitteln als auch aus Umlagen der Unternehmen der gewerblichen Wirtschaft, deren Interessen sie vertreten. Den angeschlossenen Unternehmen wird zudem eine Vielzahl von Beratungsleistungen angeboten. 6600 Experten sind bei den Kammern beschäftigt: Fachleute für Wirtschaftsrecht, Steuer, Umwelt, Industriefragen und Berufsbildung sowie Schlichter bei Rechtsstreitigkeiten. In den Unternehmen arbeiten 250000 Beschäftigte ehrenamtlich für die Kammerorganisation und in ihren Ausschüssen.
Es bleibt nicht aus, daß es bei einer so verzweigten Organisation wirtschaftlicher Interessen einer Koordination bedarf. Der mittelständische Einzelhandel hat möglicherweise andere Interessen als die großen Handelsketten und Kaufhäuser, beispielsweise beim Ladenschluß; exportorientierte Unternehmen sind an anderen Regelungen interessiert als binnenmarktorientierte; ein freiberuflicher Werbegrafiker hat andere Interessen als ein Werbekonzern. Zur Koordinierung dient der Gemeinschaftsausschuß der Deutschen Gewerblichen Wirtschaft, dem die wichtigsten Spitzenverbände der Wirtschaft, der Arbeitgeber und der Kammern angehören. Aber auch solche Koordinierungsgremien schließen Streit über Weg und Ziel nicht aus, was angesichts der unterschiedlichen Interessen von Mittelstand und Großkonzernen, Export- oder Importwirtschaft nicht weiter verwunderlich ist.
Arbeitnehmerverbände
Die Gewerkschaften bilden den interessenpolitischen Gegenpart zu den Unternehmerverbänden. Allerdings ist die Sichtweise von den beiden gleichstarken "Sozialpartnern" verkürzt, da die Kapitalseite in der Marktwirtschaft durch ihre Investitionsmacht immer die aktive und stärkere Macht ist als die Arbeitnehmerverbände, die darauf nur reagieren können. Auch verfügen die Gewerkschaften bei weitem nicht über eine solche Fülle von Fachverbänden und Fachpersonal wie die Unternehmerverbände.
Die Verhandlungsmacht und Durchsetzungskraft der Gewerkschaften gegenüber den Wirtschaftsverbänden hängt aber nicht nur von der grundsätzlichen Ordnungspolitik, sondern auch von der Konjunktur ab. In guten Wirtschaftslagen können die Gewerkschaften größere Lohnzuwächse durchsetzen. In schlechten Zeiten oder problematischen Branchen sinkt dagegen ihre Handlungsmacht rapide ab.
Die Arbeitnehmerverbände in der Bundesrepublik teilen sich in den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) mit seinen Einzelgewerkschaften einerseits und eine Reihe von kleineren Verbänden andererseits. Hier gibt es die Deutsche Angestelltengewerkschaft (DAG) mit etwa 500000 Mitgliedern. Sie hat ihren Schwerpunkt im Dienstleistungsbereich und arbeitet recht eng mit den DGB-Gewerkschaften zusammen. Eine härtere Konkurrenz zum DGB ist der Deutsche Beamtenbund (DBB) mit mehr als einer Million Mitgliedern. Es ist ein recht bunter Verbund aus 37 Mitgliedsgewerkschaften - von der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer bis zum Deutschen Gerichtsvollzieherbund -, der entgegen seinem Namen aber nicht nur Beamtinnen und Beamte, sondern auch einige Angestellte und Arbeiter des öffentlichen Dienstes und der privatisierten Bereiche organisiert. Der DBB ist deshalb so erfolgreich, weil er an die Solidarität des großen Beamtenapparates in allen Ministerien, Verwaltungen und auch in den Parlamenten appellieren kann. Ohne große Bedeutung blieb der Christliche Gewerkschaftsbund Deutschlands mit etwa 300000 Mitgliedern, da auch im DGB Christdemokraten ihren Einfluß gewahrt sehen können.
Der DGB steht zwar in der über hundertjährigen Tradition der freien, sozialistischen Gewerkschaften, hat sich aber nach dem Zweiten Weltkrieg völlig neu orientiert. Zum einen wurde die politische Bindung aufgegeben und eine überparteiliche und überkonfessionelle "Einheitsgewerkschaft" für alle Überzeugungen mit parteipolitischen und konfessionellem Neutralitätsanspruch gegründet. Das schließt nicht aus, daß die Gewerkschaften mehrheitlich doch eher der SPD nahestehen. Aber der DGB nimmt auch immer eine Minderheit von Christdemokraten in seine Führung auf und berücksichtigt deren Position. Zum anderen wurde das "Industrieverbandsprinzip" nach dem Motto "Ein Betrieb - eine Gewerkschaft" durchgesetzt. Wenn ein Betrieb der Textil- oder Stahlbranche angehört, so gehören alle Gewerkschaftsmitglieder im Betrieb der entsprechenden Gewerkschaft an. Konkurrierende Kleingewerkschaften im Betrieb sind deshalb unmöglich, etwa im Gegensatz zu Großbritannien, wo jede Facharbeitergruppe eines Großbetriebs ihre eigene Gewerkschaft pflegt. In einem deutschen Automobilwerk sind dagegen alle Autopolsterer, Kantinenköche, Technischen Zeichner oder Baukolonnen gemeinsam in der Industriegewerkschaft Metall.
Nicht der DGB, sondern die Einzelgewerkschaften sind die wichtigsten Grundeinheiten, denn sie organisieren die Mitglieder, und nur sie sind tariffähig, das heißt sie führen die Tarifauseinandersetzungen bis zum Arbeitskampf. Gab es in den achtziger Jahren noch 17 Einzelgewerkschaften, so wird es bald nur noch etwa ein Dutzend geben, da sich mehrere Organisationen zusammengeschlossen haben oder dies planen. Trotzdem bleibt noch ein riesiges Gefälle zwischen den größten Organisationen, wie der Industriegewerkschaft Metall mit 2,8 Millionen und der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) mit 1,7 Millionen Mitgliedern, und den kleinen, wie der Gewerkschaft Holz und Kunststoff mit 170000 oder der Industriegewerkschaft Medien mit 200000 Mitgliedern.
Die größten drei Einzelgewerkschaften - IG Metall, ÖTV und IG Chemie - und ihre Vorsitzenden bestimmen durch ihre Stärke den Kurs der Gewerkschaften nachdrücklicher als der um Kompromiß zwischen den Einzelgewerkschaften bemühte DGB-Vorsitzende. Erst recht stehen die kleinen Gewerkschaften im Schatten der Großen. Da diese sich aber nicht immer einig sind, können die kleinen wechselnde Bündnisse mit den großen eingehen.
Der DGB ist als Dachorganisation für Wirtschafts- und Sozialpolitik, Rechtsschutz und die Vertretung der Gewerkschaften in der Öffentlichkeit zuständig. Der DGB wirkt aber nicht nur von seiner Düsseldorfer Zentrale aus, er ist auch in allen Ländern und bis hinunter in die Kreise mit Geschäftsstellen für die allgemeinen Belange der Einzelgewerkschaften und der einzelnen Mitglieder vertreten. Auch aus Kostengründen gibt es hier in den letzten Jahren Reformbestrebungen, die Arbeitsteilung zwischen DGB und Einzelgewerkschaften neu zu regeln bis hin zu dem radikalen Vorschlag, die dezentralen DGB-Vertretungen ganz zu schließen und sie den Einzelgewerkschaften zu überlassen. Aber nicht nur der DGB wird sich ändern müssen, auch die Einzelgewerkschaften sind im Wandel. Sie beraten Reformen ihrer inneren Organisation, da sie alle mit Mitgliederschwund und Finanznot zu kämpfen haben.
Verbände von Berufen, Selbständigen und Eigentümern
Neben den Gewerkschaften gibt es noch zahlreiche Berufsverbände, die häufig sogar miteinander konkurrieren. So sind in der "Lobbyliste" des Bundestages allein zehn verschiedene Architektenverbände, sieben Apothekerverbände und sogar 29 Ingenieursverbände verzeichnet. Unter diesen ragt der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) heraus, nicht so sehr wegen der Zahl seiner Mitglieder - es sind 120000 und damit sicher wenig im Vergleich zu vielen anderen Verbänden -, sondern wegen seiner halböffentlichen Aufgaben bei der Entwicklung von Normen und Richtlinien für die Technik, die der VDI teilweise im Verbund mit dem in dieser Hinsicht noch bedeutsameren Deutschen Institut für Normung (DIN) leistet. Zu diesem weiten und wichtigen Bereich zählen auch die Technischen Überwachungsvereine (TÜV), die ebenfalls keine Behörden, sondern Verbände sind. VDI, DIN, TÜV - das sind Kürzel, die jeder kennt und die überall auftauchen, sei es im Zusammenhang mit Briefbögen ("DIN A4"), Elektrogeräten, der Sicherheitsprüfung von Autos ("TÜV-Plakette") oder Atomkraftwerken. Die öffentliche Bedeutung dieser Vereinigungen ist so groß, daß in der Wissenschaft von Tendenzen zu einer "Regierung durch Verbände" gesprochen wird. Wir werden auf diese Diskussion später zurückkommen.
Auch der Deutsche Bauernverband (DBV) mit ungefähr einer Million Mitgliedern zählt zu den wichtigen und mächtigen Verbänden. Auch er übernimmt teilweise halböffentliche Aufgaben, beispielsweise in Bayern, wo sein Landesverband mit der Rolle der Landwirtschaftskammern, die es dort nicht gibt, betraut ist. Die Landwirtschaftskammern sind die berufsständischen Träger der Selbstverwaltung und üben als Körperschaften des öffentlichen Rechts auch hoheitliche Befugnisse aus, beispielsweise bei der Berufsausbildung einschließlich der Meisterprüfung.
In anderen Bundesländern ist der Bauernverband mit den Kammern personell eng verknüpft. Eine weitere Besonderheit des Landwirtschaftssektors ist die weitgehende Alleinvertretung ihrer Interessen durch den Bauernverband in einem engen Netzwerk gemeinsam mit den Landwirtschaftskammern, Raiffeisenverbänden und anderen branchennahen Vereinigungen. Gegenverbände, wie sie beispielsweise bei den Gegensatzpaaren Arbeit und Kapital oder Ökologie und Ökonomie auftreten, die durch Arbeitgeber und Gewerkschaften oder Umwelt- und Wirtschaftsverbände repräsentiert werden, treten bei der Landwirtschaft so klar nicht auf den Plan. Erst in den letzten Jahren haben sich Umwelt-, Verbraucher- und teilweise auch Industrieverbände im Konflikt zu Interessen des Bauernverbandes als Gegenpart geäußert. Obwohl der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten an der Gesamtbevölkerung drastisch geschrumpft ist, haben es die Landwirtschaftsverbände erfolgreich geschafft, gerade auch mit europäischen Agrarsubventionen ihre Interessen hrzunehmen.
Neben den Berufs- und Selbständigenverbänden gibt es auch noch Eigentümerverbände, wie zum Beispiel ein Dutzend verschiedene Grundbesitzerverbände oder Aktienbesitzerverbände, die eine recht erfolgreiche Lobbyarbeit aufgebaut haben und Beratungsservice für ihre Mitglieder anbieten.
Verbraucherverbände
Traditionell wurde der Gesamtbereich Wirtschaft in zwei Grundinteressen aufgeteilt: Kapital, das heißt Arbeitgeber einschließlich Selbständige einerseits, und Arbeit, das heißt Arbeitnehmer einschließlich Berufsgruppen andererseits. In den letzten Jahrzehnten entdeckte man als dritte Säule den Konsum, die Verbraucher. Denn ohne den Warenabsatz können Kapital und Arbeit nicht existieren. Aber die Wirklichkeit der Verbändelandschaft spiegelt eine solche Dreiteilung nicht gleichgewichtig wider. Gegenüber der Anzahl, Vielfalt und Stärke sonstiger wirtschaftlicher Interessengruppen nehmen sich die allgemeinen Verbraucherverbände recht klein und unbedeutend aus. Der Dachverband Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände trägt die Verbraucherzentralen in den Ländern sowie die Stiftung Warentest und gibt selbst Informationen heraus. Der Arbeitsgemeinschaft gehören 32 sozial- und gesellschaftspolitisch engagierte Verbände an, die meistens wiederum Dachverbände sind, beispielsweise der DGB, die Wohlfahrtsverbände oder der Deutsche Frauenring. Die gesamte Arbeit ist durch diese Konstruktion schwerfällig und stark von staatlichen Zuwendungen abhängig, die circa 80 Prozent der Mittel umfassen.
Es gibt allerdings einige spezielle Verbraucherverbände für Teilinteressen, die sich aktiv für ihre Mitglieder einsetzen können und recht erfolgreich sind. Dazu gehört der Deutsche Mieterbund mit einer Million Mitgliedern, aber auch der kleine, sehr öffentlichkeitswirksame Bund der Steuerzahler (370000 Mitglieder) und schließlich der große ADAC (13 Millionen Mitglieder), der trotz seiner vielfältigen Aktivitäten - angeschlossen sind neben den bekannten Pannendiensten Motorsportclubs, Reiseunternehmen oder Rechtsschutzversicherungen - wohl am ehesten als Verbraucherverband der Autofahrer eingeordnet werden kann und sich schlagkräftig für deren Interessen einsetzt.
Soziales Leben und Gesundheit
Das Gemeinsame aller Interessenverbände in der Wirtschaft lag darin, daß sie in erster Linie ein materielles, wirtschaftliches Interesse verfolgen, obwohl auch von diesen Verbänden der Anspruch erhoben wird, dem Gemeinwohl zu dienen. Das ist kein Widerspruch, denn auch nach der Theorie des Marktes dient die Verfolgung des ökonomischen Eigeninteresses langfristig und gesamtgesellschaftlich gesehen dem allgemeinen Wohl. Die Unternehmerverbände verweisen auf die Schaffung von Arbeitsplätzen statt auf Gewinnmaximierung, die Gewerkschaften auf humane Gesellschaftsreform statt auf Lohnmaximierung, die Bauernverbände auf Ernährungssicherung und Landschaftspflege statt auf Subventionsforderungen usw.
Das Charakteristische an den Verbänden außerhalb der Wirtschaft ist schwer herauszufiltern. Sie haben soziale, kulturelle, ideelle, freizeitorientierte und politische Ziele. Aber auch sie eint eine Gemeinsamkeit: Sie wollen für ihre Ziele und die Interessen ihrer Mitglieder und Anhänger werben sowie öffentliche Unterstützung, staatliche Anerkennung und finanzielle Mittel erhalten.
Freie Wohlfahrtspflege
Die Interessenverbände im Sozialbereich sind kaum weniger vielfältig und bedeutsam als im Wirtschaftsbereich. Vielleicht sind sie sogar vielseitiger, weil sie nicht nur Interessen bündeln und vermitteln - gegenüber dem Tarifpartner oder gegenüber Staat und Wirtschaft - sondern weil sie selbst als Dienstleistungsanbieter aktiv tätig sind.
Das gilt am stärksten für die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege, die in ihrer bedeutenden Stellung in Deutschland international eine einmalige Erscheinung sind. Auf die fast eine Million Beschäftigten dieser Verbände, auf die Millionen ehrenamtlichen Mitarbeiter und den großen gesellschaftlichen Beitrag, den sie für den sozialen Dienstleistungsbereich erbringen, wurde bereits schon hingewiesen. In der Wissenschaft sind diese als "Sozialleistungsverbände" bezeichnet worden, weil sie für andere Menschen Leistungen erbringen. Davon kann man die "Sozialanspruchsverbände" unterscheiden, die soziale Ansprüche an den Staat zur Unterstützung ihrer Mitglieder stellen. Dazu zählen Blindenverbände, Kriegsopferverbände, Flüchtlingsverbände oder Verbände von politisch, religiös und rassisch Verfolgten.
Diese beiden Typen - die leistungserbringenden Wohlfahrtsverbände und die leistungsfordernden Sozialverbände - sind die traditionellen Verbändeformen in der Sozialpolitik. Daneben gibt es aber noch einen dritten Typ, der gerade in den letzten Jahrzehnten aktueller geworden ist: Die Selbsthilfegruppen, die in Eigeninitiative soziale Dienste für sich selbst in die Hand nehmen. Aus den USA sind die dort schon früher entstandenen Anonymen Alkoholiker auch in Deutschland aktiv geworden. Der Deutsche Diabetiker-Bund, die Dialysepatienten Deutschlands e.V. oder die Deutsche Rheuma-Liga sind Beispiele solcher Vereinigungen, die in erster Linie Hilfe zur Selbsthilfe anbieten. Sie sind ein neues Element neben den schwerfälligen und teilweise bürokratisierten Spitzenverbänden der Wohlfahrt, mit denen sie in manchen Bereichen durchaus konkurrieren. Im Selbsthilfebereich arbeiten auch viele kleine und kleinste Grüppchen, die schnell entstehen, sich zuweilen aber auch genauso schnell wieder auflösen.
Jugend und Frauen
Bei allen Verbänden, die sich um besondere Gruppen aufgeteilt nach Alter, Geschlecht oder Lebenslage kümmern, muß man die selbständigen Vereinigungen (zum Beispiel Verbände für Jugendliche, Frauen, Familien oder Ausländer) unterscheiden von Abteilungen innerhalb allgemeiner Verbände für die entsprechenden Bevölkerungsgruppen. Die Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und Sozialverbände haben fast alle Sonderorganisationen für Jugend, Frauen und Senioren. Die Jugendlichen selbst besitzen mit dem Bundes- und Landesjugendring einen Dachverband, in dem ein breites Spektrum - von der Katholischen Jugend über die Sport-, Gewerkschafts-, Pfadfinder- und Landjugend, über die Naturfreunde-, Beamten- und Feuerwehrjugend bis zur Europa- und Stenografenjugend - von 41 Verbänden mit Millionen Mitgliedern zusammengefaßt ist.
Bei den Senioren konkurrieren mehrere Dachverbände miteinander, einschließlich des Senioren-Schutz-Bundes Graue Panther, ohne daß sie allerdings an die Millionenzahl der organisierten Jugendlichen heranreichen könnten.
Die Frauen organisieren sich in drei Gruppen von Verbänden: Erstens die traditionellen Frauenverbände, wie der Deutsche Landfrauenverband, der Deutsche Juristinnenbund oder der Katholische Deutsche Frauenbund. Zweitens die vielen indirekten Frauenorganisationen der sonstigen Großverbände von den Kirchen, Parteien bis zu den Gewerkschaften. Sie alle sind im Dachverband Deutscher Frauenrat - Lobby der Frauen zusammengeschlossen, der insgesamt 43 Organisationen mit 10 Millionen Mitgliedern vertritt. Daneben gibt es eine relativ geringe Zahl von Frauengruppen wie beispielsweise pömps e.V. - Netzwerk für Frauen oder viele Frauenhausinitiativen, die nicht im Deutschen Frauenrat organisiert sind.
In der letzten Zeit haben die Konflikte zwischen Verbänden der alten Frauenbewegung und Initiativen der neuen spürbar nachgelassen, da sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, daß es beider Organisationsformen bedarf, um beispielsweise bessere Gesetze zur Gleichstellung der Frau politisch durchzusetzen. Man braucht einen langen Atem, um in Parlamenten, Parteien und Regierungen für Unterstützung zu werben, und man braucht auch wirksamen Protest, um die Öffentlichkeit zu mobilisieren.
Flüchtlinge und Vertriebene
Als weiteren Bereich im Handlungsfeld Soziales Leben und Gesundheit sollen noch die Verbände von Ausländern und Flüchtlingen angesprochen werden. Bei den Millionen ausländischer Staatsangehöriger, die in der Bundesrepublik leben, ist es naheliegend, daß diese sich in zahlreichen Vereinen und Verbänden zusammenschließen, um ihre Interessen wahrzunehmen, aber auch um ihre Kultur und Geselligkeit zu pflegen. Neben italienischen, türkischen, griechischen, spanischen oder islamischen Verbänden gibt es zahlreiche deutsch-ausländische Vereine, zum Beispiel den Dachverband der Initiativgruppen in der Ausländerarbeit. Bei den Flüchtlings- und Vertriebenenverbänden kann man einmal auf die Organisationen der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen verweisen, die in der Folge des von den Nationalsozialisten verursachten Zweiten Weltkrieges ihre Heimat verloren haben; unter ihnen ragt der Bund der Vertriebenen, Vereinigte Landsmannschaften und Landesverbände heraus. Ihm gehören 43 Vereinigungen mit 2,4 Millionen Mitgliedern an. Der Bund der Vertriebenen beschreibt seine Ziele in der "Lobbyliste" des Deutschen Bundestages so: "Wahrnehmung der Interessen der deutschen Vertriebenen und (Spät-)Aussiedler, rechtliche und soziale Beratung und Betreuung; Erhaltung, Pflege und Entfaltung der deutschen Kultur der Vertriebenengebiete; Unterstützung der deutschen Staatsangehörigen und Volkszugehörigen in den Herkunftsgebieten zur Wahrung ihrer Identität und Schaffung dauerhafter Perspektiven". Die Vertriebenenverbände haben in der Nachkriegszeit an der Integration ihrer Mitglieder in die Bundesrepublik aktiv und konstruktiv mitgewirkt, aber sie haben durch ihre Forderungen auch lange die ostpolitische Entspannung, gerade unter Bundeskanzler Willy Brandt, gehemmt. Nach Ende der deutschen Teilung seit 1989 ist ihr politischer Einfluß gesunken.
Zum anderen sind neben den deutschen Flüchtlings- und Vertriebenenverbänden in den letzten Jahren viele kleinere Neuorganisationen entstanden, die sich um das internationale Flüchtlingsproblem und die Asylbewerber kümmern, so beispielsweise Pro Asyl oder der Flüchtlingsrat NRW.
Die meisten der hier genannten Organisationen von Jugendlichen, Senioren, Frauen, Ausländern oder Vertriebenen sind nicht nur sozial aktiv, sondern ragen mit ihren Angeboten für Freizeit und Erholung, Kultur und Bildung sowie ihrem gesellschaftspolitischen Engagement in die folgenden drei Verbändegruppen mit hinein.
Freizeit und Erholung
Der Bereich von Freizeit und Erholung ist eigentlich eher der Tummelplatz des kleinen Vereins, nicht des großen Verbandes und der Interessengruppe, die vorrangig unser Thema sind. Deshalb interessieren uns jenseits der örtlichen Vereine auch die Dach- und Fachverbände, die deren Interessen vertreten.
Dennoch sollte man die gesellschaftspolitische Wirkung des scheinbar so unpolitischen Vereinswesens mit seinen Kleingärtnern und Taubenzüchtern, Anglern und Jägern, Sportlerinnen und Sängern nicht unterschätzen. Zwar sind die meisten Mitglieder nicht an Vereinspolitik interessiert, sondern wollen einfach nur ihr Hobby betreiben. Aber die Wirkung ist dennoch spürbar, besonders in der Kommunalpolitik, wo jeder Gemeindepolitiker gut daran tut, die Vereine zu pflegen. Denn alle Vereine wirken auch - gewollt oder ungewollt - auf die politische Bewußtseinsbildung und die Sozialisation ihrer jugendlichen Mitglieder ein.
Der Deutsche Sportbund (DSB) ist nach Mitgliedern der größte Verband in Deutschland überhaupt. Er hatte 1995 knapp 26 Millionen Mitglieder mit steigender Tendenz; waren es doch 1985 noch 19,2 und 1990, nach der deutschen Vereinigung 23,7 Millionen Mitglieder. Ungefähr ein Drittel der Bevölkerung gehört also einem Sportverband oder -verein an. Dem DSB gehören 56 Spitzenverbände der einzelnen Sportarten an, angefangen von den beiden größten, dem Deutschen Fußball-Bund mit 5,6 und dem Deutschen Turner-Bund mit 4,6 Millionen Mitgliedern, bis zu den kleinen, wie dem Deutschen Rasenkraftsport- und Tauzieh-Verband mit 9000 Mitgliedern und dem Deutschen Skibob-Verband mit 2300 Mitgliedern.
Der Sport ist allein durch sein wirtschaftliches Volumen ein großer politischer Faktor. Über 600000 Menschen sind im Sport beschäftigt. Nach Walter Priesnitz, Staatssekretär im Bundesinnenministerium, hat die staatliche Sportförderung 1994 rund sieben Milliarden DM betragen, denen fünf Milliarden DM sportbezogene Steuereinnahmen gegenüberstanden. Dabei ging ein wesentlicher Teil der Mittel an die Verbände, nicht an die einzelnen Vereine. Es ist klar, daß bei solchen Summen die Sportverbände in Ministerien, Verwaltungen, Parlamenten und Parteien aktiv vorstellig werden, um sich die Mittel zu sichern. Die wichtigste Anlaufstelle für den Sport ist dabei das Bundesinnenministerium.
Unter dem großen Dach des Deutschen Naturschutzrings mit 2,8 Millionen Mitgliedern, der neuerdings den Zusatztitel Bundesverband für Umweltschutz führt, sind zum Teil sehr gegensätzliche Unterverbände zusammengefaßt: sowohl die sogenannten "Naturnützer", die sich dem Wandern, Reiten, Jagen oder Sportfischen widmen, als auch die eigentlichen "Naturschützer", die sich etwa den Tierschutz oder Naturerhalt jedweder Art zur Aufgabe gemacht haben. Soweit der Naturschutz allerdings vom beispielsweise vogelkundlichen Hobby zum aktiven Einsatz bei Umweltinitiativen für gesellschaftspolitische Ziele übergeht, sollte er zur späteren Gruppe gesellschaftspolitischen Engagements gerechnet werden.
Schließlich gehören in das große Reich der Verbände aus Freizeit und Erholung die sozialen Geselligkeits- und Hobbyverbände für Kegler und Sammler, Sänger und Musiker, die ebenfalls auf beachtlichen Zuspruch verweisen können, so der Deutsche Sängerbund mit 1,8 Millionen Mitgliedern.
Die verbreitete These, daß bei den freiwilligen Vereinigungen ganz allgemein, einschließlich der örtlichen Vereine und Verbände, der Gewerkschaften, der Parteien und Kirchen, ein allgemeiner Mitgliederschwund und generelle Organisationsmüdigkeit zu beklagen seien, läßt sich weder beim Sport noch bei vielen anderen Verbänden bestätigen. Das gilt mehr oder weniger ebenso für die Verbände des Wanderns, der Heimatpflege, des Brauchtums, der Geschichtskunde oder der Kleingärtnerei. Auch wenn einige über fehlenden Nachwuchs klagen und die Mitgliederzahlen zeitweise absinken, wie besonders bei Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften, Parteien und Kirchen, kann von einem existenzbedrohenden Einbruch im Mitgliederbestand nicht die Rede sein.
Der Grund für viele Probleme der Verbände wird in einem Wertwandel gesehen, der neue Formen nach Selbstverwirklichung ohne die organisierte Gemeinschaft der Verbände suche. Der Wandel zu einer "Freizeitgesellschaft" oder zu einer "Erlebnisgesellschaft", wie der Soziologe Gerhard Schulze den Trend zu schneller Befriedigung der Unterhaltungsbedürfnisse der Menschen im kommerziellen Fitneß-Club statt im Sportverein, in der Disco statt im Jugendverband genannt hat, dieser Wandel wird das Verbändewesen nicht untergehen lassen, wie manche Heimatvereine fürchten, denen die jungen Mitglieder wegbleiben. Die organisatorische Hülle dieser Organisationen ist flexibel genug, um nicht kurzfristig von jungen neuen Initiativen verdrängt zu werden. Der klassische Verband wird sich allerdings wandeln: zugunsten professioneller Dienstleistungen und offenerer Angebote.
Kultur, Bildung und Wissenschaft
Die bürgerlichen Bildungsvereine gehörten zu den ältesten Verbänden, so beispielsweise die Patriotische Gesellschaft in Hamburg von 1765 oder der Verein für Cultur, Gewerbe und Sittlichkeit in Ahaus/Westfalen von 1836.
Die Ziele des bürgerlichen Kulturvereins im 19. Jahrhundert wurden nach Thomas Nipperdey so formuliert: "Die Vereinsmitglieder wollen und sollen sich untereinander friedfertig belehren, um den "Bau der Menschlichkeit" oder die "Glückseligkeit" bei sich selbst zu fördern. Sie wollen sich bilden [...]. Sie wollen ein neues, weltbürgerliches oder nationales, aufgeklärtes oder idealistisches oder romantisches, liberales oder soziales Bewußtsein, eine neue Gesinnung bilden, sich darin bestärken und fortentwickeln."
Entsprechend diesen Vorläufern gibt es heute immer noch einzelne Lesegesellschaften, die die bürgerliche Verbandskultur des 19. Jahrhunderts fortführen. Ein Beispiel ist die Maximilian-Gesellschaft in Hamburg, zwar erst 1911 gegründet, aber ganz den Atem des großbürgerlichen Bildungsengagements ausströmend. In der gültigen Satzung von 1961 lautet der Verbandszweck: "Die Gesellschaft will den Sinn für das nach Inhalt und Form gute und schöne Buch pflegen, die deutsche Buchkunst und die Wissenschaft vom Buche fördern". Das hörte sich in einer Schrift von 1911 noch blumiger an: "Dem deutschen Buch fehlt noch die Stätte, an der es in einem ausgewählten Kreis von Kundigen und Freunden, unberührt von literarischen und künstlerischen Tagesmeinungen und losgelöst vom Markt, die liebevolle Pflege findet, die den Büchern anderer Länder in wohlgefügten Vereinigungen lange schon zuteil wird [...]. Die Gesellschaft will ihren Zweck darin suchen, alle Bestrebungen zu fördern, die der Pflege des deutschen Buches nach Inhalt und Ausstattung gelten."
Neben solchen geradezu anrührenden Relikten der bürgerlichen Bildungskultur gibt es eine Fülle von Kunstvereinen, Theatergemeinden, Musikverbänden und literarischen Gesellschaften. Die meisten dieser Kulturverbände sind im Dachverband Deutscher Kulturrat organisiert, der als ein der Öffentlichkeit weitgehend unbekannter Verband die überraschend hohe Zahl von neun Millionen Mitgliedern und 196 angeschlossenen Fachverbänden angibt. Die Teilverbände sind in acht Sektionen gegliedert:
- Deutscher Musikrat mit 78 Mitgliederorganisationen,
- Rat für darstellende Künste mit 18 Verbänden, insbesondere dem Volksbühnenverband,
- Arbeitsgemeinschaft Literatur mit sechs Mitgliederorganisationen,
- Kunstrat mit 21 Teilverbänden aus der bildenden Kunst,
- Rat für Baukultur mit sieben Mitgliederorganisationen angeführt vom Bund Deutscher Architekten,
- Deutscher Designertag mit neun Teilorganisationen,
- Sektion Film/Audiovision mit 15 Mitgliederverbänden,
- Rat für Soziokultur, dem 13 Organisationen angehören, federführend die Kulturpolitische Gesellschaft in Hagen.
Viele Träger von Weiterbildung und Bildungsangeboten sind als Vereine und Verbände organisiert und im Arbeitskreis Deutscher Bildungsstätten zusammengeschlossen. Diesem Kreis gehören zwar nur 102 Einzelmitglieder, aber 160 weitere Organisationen an, insbesondere die vielen Akademien für Erwachsenenbildung. Seine Ziele sind nach der "Lobbyliste" des Deutschen Bundestags: "Außerschulische politische Jugend- und Erwachsenenbildung, Jugendarbeit, Fragen des Bildungsurlaubs, internationale Jugend- und Erwachsenenbildung, Medienpädagogik, musische Bildung, kulturelle Bildung, Fortbildung pädagogischer Mitarbeiter."
Schließlich gehören zu dieser Abteilung auch die wissenschaftlichen Vereinigungen, die aus Fachverbänden der Einzelwissenschaften bestehen, so beispielsweise die Arbeitsgemeinschaften der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften oder die Gesellschaft für Erd- und Völkerkunde.
Religionsgemeinschaften und gesellschaftspolitisches Engagement
Kirchen und ihre Verbände
Die Kirchen sind kein Interessenverband - so lautet die eine Meinung, die wir oben schon dokumentiert haben -, denn sie sind juristisch Körperschaften des öffentlichen Rechts, historisch gewachsene Weltanschauungsgemeinschaften und theologisch gleichsam von höherer Warte aus zu betrachten. Sozialwissenschaftlich betrachtet handeln sie nach außen aber oft wie Verbände - so lautet die andere Meinung - beispielsweise in den Auseinandersetzungen um die Abtreibung, um den Religionsunterricht, um soziale Sparmaßnahmen der Regierung oder um den Erhalt staatlicher Subventionen.
Wie andere Interessenverbände unterhalten auch die Kirchen Verbindungsbüros in der Bundes- und in den Landeshauptstädten. Sie achten darauf, daß ihre Anliegen in den großen Parteien vertreten werden. Man muß sich deshalb nicht sträuben, die Kirchen unter soziologischen Gesichtspunkten als Verbände zu behandeln. Es soll ihnen damit nichts von ihrem Selbstverständnis genommen werden. In anderen Ländern, wie besonders in den USA, werden die zahlreichen Kirchenverbände wegen ihres Auftretens auch eher wie Interessenverbände verstanden.
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ist ein Zusammenschluß selbständiger protestantischer Gliedkirchen (Landeskirchen). Sie steht in der Tradition verschiedener Vereinigungen des deutschen Protestantismus. Seit der deutschen Einigung gehören 24 Landeskirchen und eine Sondereinheit zur EKD.
Die EKD ist keine hierarchisch organisierte Einheit. Sie schränkt die Selbständigkeit der ihr angeschlossenen Kirchen nicht ein. Die Landeskirchen besitzen für ihre interne Arbeit volles Gesetzgebungsrecht, Finanz- und Personalhoheit. Sie sind der EKD gegenüber nicht weisungsgebunden. Die Mitgliedschaft der Gläubigen besteht zu den Landeskirchen, nicht aber unmittelbar zur EKD. In der EKD sind lutherische, reformierte und unierte Kirchen der Bundesrepublik zusammengefaßt. Neben der EKD bestehen weitere Organisationen der protestantischen Glaubensgemeinschaft - so die Evangelische Kirche der Union (EKU), die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschland (VELKD) und der Reformierte Bund.
Im Umfeld der Evangelischen Kirche sind zahlreiche Vereine mit unterschiedlicher Aufgabenstellung angesiedelt. Im diakonischen Bereich nimmt vor allem das Diakonische Werk als einer der fünf Spitzenverbände der Wohlfahrt eine bedeutende Stellung ein. Die EKD ist als Mitglied am Diakonischen Werk beteiligt, ebenfalls beteiligt sind die Diakonischen Werke ihrer Gliedkirchen sowie die Freikirchen der Bundesrepublik. Darüber hinaus sind dem Diakonischen Werk über 100 Fachverbände angeschlossen. Das Diakonische Werk koordiniert vor allem die diakonische Arbeit der gesamten evangelischen Glaubensbewegung, es ist besonders tätig im sozialen Bereich und in der Not- und Katastrophenhilfe. Das Diakonische Werk finanziert sich aus Mitteln der EKD, durch Spenden und staatliche Zuschüsse.
Neben die kirchlichen und diakonischen Organisationen tritt ein breit aufgefächertes Verbandswesen. Es lassen sich anhand verschiedener Dachorganisationen Schwerpunkte ablesen, so zum Beispiel die Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Deutschland, die vor allem Vereine der evangelischen Jugendarbeit oder ihr nahestehende Organisationen zusammenfaßt (Pfadfinder, Christlicher Verein Junger Menschen [CVJM] u.a.). Im Bereich der Evangelischen Studentenarbeit gibt es die Evangelische Studentengemeinde in Deutschland. Ebenso zu nennen sind der Dachverband der Evangelischen Frauenarbeit in Deutschland, das Posaunenwerk der EKD oder das Evangelische Bibelwerk in der Bundesrepublik Deutschland.
Anders als die evangelische Glaubensbewegung, die ein differenziertes, miteinander in einem akzentuierten Verhältnis stehendes Bündnis religiöser Strömungen darstellt, ist die römisch-katholische Kirche eine hierarchisch strukturierte Amtskirche. Die römisch-katholische Kirche nach ihrem Selbstverständnis die einzige und wahre Kirche Christi, ist Heilsgüter-Gemeinschaft und nicht weltlicher Verband. Aufgrund dieses Selbstverständnisses lehnte das "Zweite Vatikanische Konzil" (1962-1965) noch eine weitergehende Demokratisierung der Kirche ab, da die kirchliche Autorität und Universalität überweltlichen Charakter trage. Die katholischen Verbände, Vereine und Parteien repräsentieren also eine Weltanschauung, auf deren verpflichtenden Grundlage sie arbeiten.
Auch im katholischen Bereich liegt ein weit verzweigtes Vereins- und Verbandswesen vor, bei dem die Grenzen zwischen rein religiösem Anliegen und gesellschaftlichen, sportlichen und geselligen Bezügen nicht immer klar ersichtlich sind. Sie reichen von Musikvereinen bis zu Vereinigungen im Bereich von Jugendbetreuung, Frauen- und Männerverbänden. Das Verbandswesen erstreckt sich auf Gebiete der Politik und Gesellschaft, so die Katholische Arbeitnehmerbewegung (KAB) oder die Kolpingfamilie. Die Motivation dieser Verbände ist davon bestimmt, in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen katholische Gemeinschaften zu bilden und in einzelnen Fragen, wie zum Beispiel in sozialpolitischen Fragen, katholische Antworten zu geben.
Gesellschaftspolitische Verbände
Auch die sonstigen gesellschaftspolitischen Verbände sind sozialwissenschaftlich betrachtet "ideelle Fördervereine". Sie haben in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen. Dazu zählen Verbände wie amnesty international oder die Gesellschaft für bedrohte Völker, aber auch die Humanistische Union, Friedensinitiativen, Kriegsdienstgegner und Verbände der internationalen Verständigung und Solidarität.
Schließlich als letzte Verbände-Gruppe kann man hier die Umwelt- und Naturschutzverbände einordnen, insofern sie rein ideelle Ziele und keine Nutzerinteressen, wie zum Beispiel Sportfischen oder Jagen, vertreten. Die Interessengruppen des Umweltschutzes zeigen ein breites Spektrum von traditionellen Verbänden, wie dem Bund für Vogelschutz, und neuen Initiativgruppen und Aktionen. Viele Initiativen haben sich im Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V. (BUND) zusammengeschlossen, der 1975 als Dachverband gegründet wurde.
Seit den siebziger Jahren waren zahlreiche Bürgerinitiativen zum Umweltschutz wie Pilze aus dem Boden geschossen. Sie wollten sich nicht nur für die Umwelt engagieren, sondern eine neue Demokratie durch direktes Handeln an der Basis verwirklichen. Verbände und damit Vereine oder gar Dachverbände wurden als bürokratisiert, erstarrt und basisfern abgelehnt. Es hat sich aber schnell gezeigt, daß Organisation und übergreifende Koordination nur schwer verzichtbar sind. Zunächst entstand der Bundesverband Bürgerinitiativen Umwelt (BBU) als ein eingetragener Verein, der aber wegen innerer Streitigkeiten bald wieder an Bedeutung verlor. Der BUND hat sich als das stabilere Dach für die vielfältigen Umweltaktivitäten erwiesen. Er kombiniert erfolgreich traditionelle, langfristig orientierte Verbandsarbeit mit kurzfristigen Aktionen und Initiativen.
Eine organisatorische Innovation ist Greenpeace, weil dieser politisch überaus aktive Umweltverband keine traditionelle Mitgliederorganisation ist. Den Kern bilden fest angestellte Mitarbeiter der Zentrale als "Profis" für Aktionen wie Schornsteinbesetzungen oder Schlauchbootattacken auf Walfänger, aber auch als wissenschaftliche Experten. Daneben gibt es in vielen deutschen Städten sogenannte Greenpeace-Kontaktgruppen, die Öffentlichkeitsarbeit leisten. Eingeschriebene Mitglieder hat Greenpeace nur sehr wenige, die Spenden werden über Fördermitgliedschaften eingeholt, die keine Mitwirkungsrechte haben. So ist eine professionelle Aktionsgruppe entstanden, die international arbeitet. Ob dies aber die Zukunftsvision für die allgemeine Arbeit von Interessenverbänden ist, mag bezweifelt werden.
Interessenverbände und die Europäische Union
Die Vereinigung Deutschlands hat die Verbände vor die Überlegung gestellt, ob der Sitz im Raum Bonn beibehalten oder Berlin als neuer Schwerpunkt gewählt werden soll. Das Mitglied der Hauptgeschäftsführung des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Arnold Willemsen, erklärt im Sommer 1991 in einem Gespräch in der Zeitung Die Welt, der BDI müsse sich künftig stärker auf Brüssel konzentrieren, bei europäischen Schwesterverbänden sei dies schon der Fall. Sein Fazit: ”Die Zentrale in Berlin kann kleiner ausfallen als die heutige in Köln, der Brüsseler Arm dafür deutlich kräftiger.” […]
Zuerst gingen die nationalen Verbände nach Europa. Aus ihren Kooperationen entstanden europäische Verbände oft umfassenderer Art. Die Industriellen- und Arbeitgeberverbände haben ihre Dachorganisation in der UNICE, der Union des Confederations de l’Industrie et des Employeurs de l’Europe, gefunden. Ihr gehören heute 32 Verbände aus 24 Ländern an. Darunter aus den 15 EU-Staaten, den sieben EFTA-Staaten sowie Malta, Zypern und der Türkei. Seit August 1993 sind auch der tschechische und der slowakische Verband Mitglieder. Nicht nur aus der Industrie, sondern auch aus dem Handel arbeiten europäische Verbände in UNICE mit. Die deutschen Mitglieder sind der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), die ihrerseits auch nichtindustrielle Organisationen vertritt.
Trotz der Arbeit von UNICE sieht der BDI ein dreifaches Instrumentarium für sein Europa-Lobbying: Die Zusammenarbeit in UNICE, die Koalition mit anderen nationalen Mitgliedsverbänden und die unmittelbare deutsche Wirtschaftslobby in Brüssel, wo der BDI und deutsche Branchenverbände Verbindungsbüros unterhalten. In ähnlicher Weise wie UNICE sind auf europäischer Ebene organisiert:
- Eurochambres, die Vereinigung der nationalen Dachorganisationen der Industrie- und Handelskammern,
- Copa, die europäische Vereinigung nationaler Bauernverbände,
- CEEP, die Vereinigung öffentlicher Unternehmen,
- EUROCOMMERCE; für den Handel,
- UEAPME; Europäische Union des Handwerks und der Klein- und Mittelbetriebe,
- EGB, der europäische Gewerkschaftsbund, die Vereinigung der nationalen Gewerkschaften und
- BEUC, die Vereinigung der nationalen Verbraucherorganisationen. […]
Die Entstehungsgeschichte der Europäischen Union hat zwangsläufig dazu geführt, daß zuerst einmal die wirtschaftlichen und sozialen Interessen bis hin zu den Verbraucherinteressen sich auf europäischer Ebene organisieren. In der Zwischenzeit versuchen aber auch zahlreiche andere organisierte Interessen, Einfluß auf Brüssel und Straßburg, dem Sitz des Parlaments, zu nehmen. Angesichts des starken Einflusses der europäischen Behörden auf die Entwicklung des Medienmarktes und der Medienpolitik hat beispielsweise die Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (ARD) 1993 ein eigens Büro in Brüssel errichtet. Die Industrie- und Handelskammern der norddeutschen Hafenstädte haben sehr früh eine eigene Vertretung in Brüssel etabliert. Auch die Kommunen haben sich mit einer europäischen Repräsentanz ausgestattet.
Ein Handbuch des europäischen Verbandswesens zählt insgesamt 3000 Verbände auf, die in Brüssel Büros und Verbindungsstellen unterhalten. In einem Bericht der Kommission vom März 1993 heißt es, daß annähernd 3000 Interessengruppen unterschiedlicher Art in Brüssel vertreten seien mit bis zu 10000 Beschäftigten, die als Lobbyisten tätig sind. Davon sind weit mehr als 500 europäische und internationale Verbände mit über 5000 nationalen Mitgliedern in den Staaten der Union. Daneben gibt es in Brüssel 50 Vertretungen der Länder-, Regionen- und Gebietskörperschaften. Über 200 Einzelfirmen sind direkt vertreten. Rund 100 Beratungsfirmen (Management und Public Relation) verfügen über eigene Büros in Brüssel. Sie und viele andere übernehmen Aufträge der Informationsbeschaffung und Interessenvertretung im Bereich der Europäischen Union. In Belgien bestehen 100 Rechtsanwaltskanzleien, die auf Gemeinschaftsrecht spezialisiert sind. Weitere arbeiten in den übrigen Gemeinschaftsländern sowie in Drittländern. […]
Im Arbeitsprogramm der Kommission von 1992 wurde angekündigt: ”Daher müssen die Beziehungen der Organe der Gemeinschaften zu den Interessengruppen, so nützlich diese in ihrer derzeitigen Form auch sein mögen, genauer festgelegt werden. Darüber hinaus wird die Kommission Überlegungen über einen Wohlverhaltenskodex für ihre Beziehungen zu ihren professionellen Gesprächspartnern anstellen. Dadurch soll jedoch weder die freie Tätigkeit der Berufsgruppen beeinträchtigt, noch die Fortführung des notwendigen Dialogs mit den institutionellen Ausschüssen in Frage gestellt werden.” […]
Die Besonderheiten der Verbandsarbeit in Brüssel ergeben sich unter anderem auch aus der Schwierigkeit, rechtzeitig über die Dokumente der Kommission zu verfügen. Die notwendigen Übersetzungsarbeiten nehmen oft lange Zeit in Anspruch. […] Deshalb haben sich in Brüssel in besonderem Maße erwerbsorientierte Lobbyisten niedergelassen, die Kommissionsdokumente frühzeitig besorgen, um sie ihrem Kunden gegen Entgelt zur Verfügung zu stellen. Die Kommission befaßt sich in ihren Überlegungen deshalb auch ausführlich mit diesen erwerbsorientierten Lobby-Unternehmen.
Die Kommission hat für ihre Beamten einen Verhaltenskodex entwickelt in Ergänzung zu dem Beamtenstatut der Gemeinschaft. Die Annahme von Geschenken, Nebentätigkeiten sowie die Tätigkeit nach dem Ausscheiden aus dem Dienst und die Schweigepflicht werden geregelt. Selbst eine Erwerbstätigkeit der Ehegatten wird erfaßt, falls ein Interessenkonflikt entstehen kann. Auch im Europäischen Parlament sind Überlegungen angestellt worden, die Interessenvertretung zu kanalisieren und zu kontrollieren.
Die Diskussion über die geplanten Maßnahmen der Kommission hat naturgemäß Widerstände ausgelöst. Einerseits sind der Wirtschafts- und Sozialausschuß (WSA) und die bestehenden Ausschüsse sowie die beratenden Organe daran interessiert, ihre Privilegien zu wahren. Zum anderen befürchten die Verbände einen zu starken Einfluß der Kommission auf die Bildung und das Verhalten von Verbänden. Zwar beteuert die Kommission, daß die Interessengruppen die Möglichkeit haben müssen, sich selbst ”frei und ohne Einmischung der öffentlichen Hand zu organisieren” […] Die Kommission bezeichnet es sogar als wünschenswert, eine oder mehrere Organisationen zu bilden, über die die Interessengruppen mit der Kommission in Kontakt treten. Damit wäre freilich die Freiheit der Verbandsbildung und Interessenvertretung eingeschränkt.
Die Entwicklung des europäischen Verbandswesens ist ein Beispiel für die Lebendigkeit der Bildung von Interessengruppen. Die nationalen Verbände haben sich sehr schnell auf die neuen Entscheidungszentren der Politik in Brüssel und Straßburg eingestellt. Sie haben ihre eigenen europäischen Organisationsformen entwickelt. Die Formalisierung der Anhörungs- und Beteiligungsrechte, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland in der Geschäftsordnung der Bundesministerien und des Parlaments vorgegeben ist, muß in Brüssel noch nachvollzogen werden. Sie ist im Interesse einer Transparenz der Einflußnahme ebenso zu begrüßen, wie im Interesse der Sicherung einer sachgerechten Beratung der Politik durch die Verbände. Aber genausowenig wie es in Deutschland möglich ist, alle Interessenverbände und auch die der Wirtschaft unter einem Dach zu versammeln, genausowenig wird dies in Europa möglich sein.
Die Zentralisierung von Kompetenz bei der Europäischen Union läßt die Bedeutung nationaler Verbände schrumpfen.
Günter Triesch/Wolfgang Ockenfels, Interessenverbände in Deutschland, München 1995, S. 158-167.