Die Diskussion über „Macht und Verantwortung der Verbände“ ist nicht neu. Mit ihren Schwerpunkten „innerverbandliche Demokratie“ und „Sozialpflichtigkeit der Verbände“ gehört sie zu den klassischen Elementen der Demokratie- und Pluralismustheorien der Nachkriegszeit. Die aktuelle Wirtschaftskrise hat die Bedeutung dieser Diskussion nicht nur bestätigt und verstärkt, sondern zugleich das Mandat der Sozialpflichtigkeit von Verbänden in ein neues Licht gestellt. Die Verbände müssen sich gemeinwohlorientierter aufstellen, wollen sie nicht an Akzeptanz, Glaubwürdigkeit und politischer Mitwirkungskompetenz verlieren.
Rege Diskussion in den siebziger Jahren
Vor allem in den siebziger Jahren gab es eine rege Diskussion unter dem Oberbegriff „Macht und Verantwortung der Verbände“. Diese Verbands-Diskussion stand im engen Kontext zur allgemeinen Demokratie- und Parteienstaats- Auseinandersetzung. Darüber hinaus bemühte sie sich aber auch, adäquate Antworten auf offenkundige Defizite des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Pluralismus zu finden und den Verbänden neben den Parteien eine eigene abgrenzbare und definierbare Position zu geben.
Spätestens seit den siebziger Jahren ist auch die zunehmende Abhängigkeit der Politik von den Verbänden evident. Angesichts schwieriger werdender Reglungsbedürfnisse suchten Parteien und Parlamente den Sachverstand und die Verfügbarkeit von Experten der Verbände. In dem Maße, in dem Parteien auf die Verbände angewiesen waren, verstärkte sich die bedenkliche Tendenz, sich dem Sachverstand der Verbände unterzuordnen. Die Verbände machen sich in vielfältiger Weise nützlich: Sie liefern Informationen, Sachverstand und Spenden, bringen ihren eigenen Mitgliedern politische Kompromisslösungen nahe und stellen Wählerstimmen zur Verfügung. Diese Fähigkeit der Verbände zur Zusammenarbeit mit den Parteien sollte nicht nur mit Ablehnung gesehen werden. Letztlich liegen die Leistungen der Verbände zu einem gewissen Grad nicht nur im Interesse der Parteien, sondern der gesamten Gesellschaft, tragen sie doch zu ihrer politischen, sozialen und wirtschaftlichen Stabilität bei und schaffen zudem ein zusätzliches Element moderner Gewaltenteilung.
Verbandsinterne und –externe Kernfragen
Die Kernfragen der eigentlichen Verbändediskussion haben die Positionen zu einem verbandsinternen und zu einem -externen Thema polarisiert: Zum einen geht es darum, inwieweit Verbände - ähnlich dem innerparteilichen Demokratiegebot nach dem Parteiengesetz - innerverbandliche Demokratie herstellen müssen. Zum anderen hat immer das Postulat nach „Sozialpflichtigkeit“ der Verbände auf dem Prüfstand gestanden. Es wurde also die Frage gestellt, inwieweit Verbände als Organisationen partikularer Interessen dennoch eine Gemeinwohlbindung und -ausrichtung ausdrücken müssen.
Das erstgenannte Thema hat sich vor allem an Führungs- und Entscheidungsstrukturen in Einzelsituationen niedergeschlagen. Prägnantes Beispiel war die Satzung des Deutschen Bauernverbandes, wonach der Präsident des Bauernverbandes nicht durch eine Delegiertenversammlung, sondern von den Vorsitzenden der Landesverbände bestimmt wurde. Wohl öffentlichkeitswirksamster Streitpunkt zum zweit genannten Thema war der Slogan des Allgemeinen Deutschen Automobilclubs (ADAC) „Freie Bürger fordern freie Fahrt“. Nach der so genannten „Ölkrise“ im Jahre 1973 und den sich hieraus ergebenden politischen Bestrebungen, eine generelle Höchstgeschwindigkeit auf Autobahnen einzuführen, erhob der Kraftfahrer-Interessenverband dieses Postulat. Da diese Forderung von einem Verbandsvorstand beschlossen und publiziert worden war, ohne dass es auch eine adäquate Beteiligung der damals schon rund 10 Millionen Mitglieder des ADAC an der Willensbildung gegeben hätte, wird auch hier die innerverbandliche Demokratie heftig diskutiert. Im Mittelpunkt stand aber vor allem die Fragestellung, ob ein Verband, der sich aufgrund seiner Größe und Übernahme quasi-öffentlicher Aufgaben wie Straßenwacht, Lebensrettung, Verkehrsorganisation etc. in die Nähe staatlicher Verantwortlichkeiten und Kompetenzen bewegt hatte, pointiert die Interessen der angeblich meisten deutschen Kraftfahrer nach nicht-limitierten Geschwindigkeiten auf Autobahnen vertreten dürfe, ohne Fragen der Energiekosten, des Umweltschutzes usw. in angemessener Weise mit einzubeziehen.
Die Funktion der Gewerkschaften im Allgemeinen und die starke, sehr konsens-orientierte Rolle der Gewerkschaften in Deutschland haben in der politikwissenschaftlichen wie politischen Auseinandersetzungen stets eine besondere und herausragende Rolle eingenommen.
Die Wirtschaftskrise im neuen Jahrtausend
Mit Beginn des neuen Jahrtausends trat zunächst langsam aber nachhaltig eine Wirtschaftskrise auf, die sich seit dem Jahre 2002 dramatisch verschärfte. Diese Wirtschaftskrise aus dem Zusammenwirken weltwirtschaftlicher Einflüsse und spezieller deutscher Entwicklungen und Defizite, hat auch die Diskussion um die Verbände wieder belebt. Die Diskussion bildet sich unter anderem in einer allgemeinen „Anti-Egoismus“- Debatte ab. Darin wird angesichts eines zunehmend überforderten Staates einerseits eine hohe Gemeinwohlorientierung aller, damit auch der Verbände, gefordert. Andererseits erfährt die Erwartung stärkerer Übernahme persönlicher Eigenverantwortung und Lösung aus kooperativen Strukturen und sozialem Fürsorge-Denken wachsende Unterstützung. Diese allgemeine Diskussion betrifft im Wesentlichen die Beziehungen zwischen Individuum und Staat, zwischen Individuum und partikularen Interessengruppen (Parteien, Verbände, Vereine, Berufsgruppen, berufsständische und Interessen-Organisationen usw.) sowie zwischen diesen Interessengruppen und dem Staat. Daneben hat sich eine breite Sonderdebatte über die Rolle der Gewerkschaften als dem führenden deutschen Wirtschaftsverband erhoben. Diese Diskussion reflektiert den Schwerpunkt aller gegenwärtigen von der Wirtschaftskrise geprägten Diskussionen, von der Arbeitsplatzsorge über die damit verbundenen wirtschaftlichen und sozialen Verteilungsfragen sowie zu den Grundfesten des sozialen Systems. Gleichzeitig überlagert die Auseinandersetzung über die Gewerkschaften die vorgenannte generelle Diskussion, da sie das Grundproblem widerspiegelt, das Biedenkopf schon vor einem Vierteljahrhundert unter dem Leitthema „Der Bürger zwischen Gruppeninteresse und Staatsbürokratie“ erörtert hat.
Die aktuelle Diskussion, gerade über die Gewerkschaften, spart nicht an politischer Zuspitzung. So werden Gewerkschaften als „Deutschlands größte Bremser“ - wie im „Gewerkschaftsreport“ - des „Focus“ vom März dieses Jahres zur Titel-Story erhoben - dargestellt; die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ im April dieses Jahres skandiert unter dem Titel „Machtprobe: die Kritik am Kurs der Gewerkschaften wächst, das Zutrauen sinkt“. Selbst die Arbeits- und Sozialpolitiker aller Parteien bemühen sich um Unabhängigkeit und Distanz zu den Gewerkschaften und postulieren eigenständiges politisches Profil und Distanz zu Gewerkschaften und Interessenverbänden: „Jetzt rücken selbstbewusste Generalisten nach“, wie „Die Zeit“ begrüßt.
In der Folge der zurückliegenden Verbände-Diskussion offenbaren sich damit folgende Verstärkungs- und Veränderungstendenzen: Forderung nach innerverbandlicher Demokratie und Gemeinwohlorientierung.
Forderung nach innerverbandlicher Demokratie
Die Mitgliederzahl von Verbänden und speziell von Gewerkschaften sinkt. Dies ist nicht zuletzt überraschend, weil in Zeiten von wirtschaftlicher Schwäche normalerweise das Schutz- und Organisationbedürfnis der Individuen steigt, um persönliche Interessen mit Unterstützung einer Solidargemeinschaft besser durchsetzen zu können. Als Gründe für Mitgliedsschwund und Resignation werden immer häufiger, vor allem bei den Gewerkschaften, innerverbandliche Demokratiedefizite und fehlende Identifizierung der Basis mit der Interessenvertretung durch die Repräsentanten ihrer Verbände genannt. Hieraus folgt, dass auch in Zeiten wirtschaftlicher Nöte und Entscheidungszwänge weite Teile der Bevölkerung sich eher auf individuelle Lösungsansätze konzentrieren, statt sich einem demokratisch unzulänglich legitimierten Mandat eines Verbandes oder einer vergleichbaren Interessengruppe anzupassen. Man kann dies durchaus als demokratischer Emanzipationsprozess der letzten fünfzig Jahre werten würdigen.
Offenbar gewinnt die Einsicht an Bedeutung, dass auf die Frage, wie aus der gegenwärtigen Krise zu entrinnen sei, die Antwort „kollektiv oder gruppenorientiert“ weniger Erfolg versprechend ist. Zum Teil kann die persönliche Interpretation sogar soweit gehen, dass man partikulare Interessenvertretungen wie Parteien oder Verbände zunehmend für die „Wege in die Krise“ verantwortlich macht und ihnen deshalb nicht die erforderliche Kompetenz, Entschlossenheit und Durchsetzungskraft für die „Wege aus der Krise“ zutraut.
Die Forderung nach innerverbandlicher Demokratie hat anders als teilweise erwartet unter dem Druck wirtschaftlicher Krisen nicht nachgelassen, sondern zugenommen.
Forderung nach Gemeinwohlorientierung
Noch stärker als bei der innerverbandlichen Demokratie-Diskussion hat sich die gegenwärtige Wirtschaftskrise als Verstärkungsfaktor für das Postulat nach der so genannten Gemeinwohlorientierung von Verbänden ausgewirkt. Auch diese Diskussion ist - wie oben angeführt - nicht neu und hat vor allem in den siebziger Jahren wesentliche Prägung erfahren. Die aktuelle politische, wirtschaftliche und publizistische Diskussion hebt mit Nachdruck Defizite der Verbände in der Realisierung und langfristigen Verfolgung gesamtwirtschaftlicher und gesellschaftlicher Interessen hervor. Verbände, und hierbei speziell die Gewerkschaften, werden zunehmend als „Vertreter egoistischer Einzelinteressen“, „Gestrige“, „realitätsfern“ und „Reformbremser“ attackiert.
Vor allem im Zusammenhang mit der überfälligen Lösung der Hauptprobleme Arbeitsmarkt, Sozial- und Gesundheitssystem sowie Rentenfinanzierung entzündet sich nachhaltige Kritik sowohl an den Gewerkschaften als auch an Interessenverbänden. Diese Kritik steht natürlich im direkten Kontext mit vergleichbarer Kritik an den politischen Parteien. Die Parteien werden indes zunehmend in der Rolle von „Staatsparteien“ mit immanenter „staatstragender“ Funktion gesehen. Damit assoziieren sie jedoch im Gegensatz zu Gewerkschaften und Verbänden ein übergreifendes Verantwortungsbewusstsein, das Verbänden von jeher abgesprochen wird. Die Nachkriegs-Folgerung „der Parteienstaat schafft sich Staatsparteien“ führt zur Konsequenz, dass bei aller Parteienmüdigkeit und Parteien-Kritik diesen demokratisch gewählten und kontrollierten sowie nach dem Grundgesetz und Parteiengesetz dem Gesamtwohl verpflichteten Institutionen nicht nur generell, sondern gerade in der heutigen Zeit erheblich höhere Problemorientierung und Lösungskompetenz zugesprochen wird.
Fazit
Als Fazit kann aus vorgenannten Erkenntnissen gewonnen werden, dass die aktuelle Wirtschaftskrise, ihre Lösungsbedürftigkeit und die Defizite in ihrer konkreten Lösungsbewältigung die Akzeptanz und Rolle von Verbänden, speziell von Gewerkschaften, tendenziell eher geschwächt haben. Die latenten Diskussionen über innerverbandliche Demokratie und die Sozialpflichtigkeits-Anforderungen an Verbände haben neue Impulse gewonnen. Generell lassen sich vermehrte und verstärkte Forderungen nach demokratischen Verbandsstrukturen und größerer Gemeinwohlorientierung feststellen. Mitgliederschwund in Verbandsorganisationen und bei Gewerkschaften belegen konsequente persönliche Reaktionen auf diese Defizitbefunde. Die allgemeine Wirtschaftskrise, die strukturell eher einen Nachfrage- und Bedeutungsgewinn von Interessenorganisationen nahe legt, hat den Verbänden und speziell den Gewerkschaften nicht genutzt. Vielmehr hat sie sich für sie sogar kontraproduktiv entwickelt. Die Akzeptanz der politischen Parteien der Bundesrepublik Deutschland ist trotz der offenkundigen Krisensymptome weniger beschädigt worden als die von Gewerkschaften und Verbänden. Die Bevölkerung definiert die Krisenbefunde zunehmend individuell und bestimmt die Aufzeichnung von „Wege aus der Krise“ ebenfalls mehr und mehr individualistisch.
Literaturhinweise:
Göhner, Reinhard, Zur Macht und Verantwortung von Verbänden, Bonn 1976 Dettling, Warnfried (Hg.), Macht der Verbände-Ohnmacht der Demokratie? Beiträge zur Theorie und Politik der Verbände, München/Wien 1976 Biedenkopf, Kurt, Der Bürger zwischen Gruppeninteresse und Staatsbürokratie, Herder-Korrespondenz, Bd. 30 (1976) Darnstädt, Thomas, Republik der Bürger warum der Parteien- und Verbändestaat aufgebrochen werden muss, in: „Der Spiegel“ Nr. 22/2003 v. 26.05.2003, S. 56 ff Köcher, Renate, Machtprobe - Die Kritik am Kurs der Gewerkschaften wächst, das Vertrauen sinkt, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ Nr. 90/2003 v. 16.04.2003, S. 5 Niejähr, Elisabeth, „Schleudersitz zur Macht“, in: „Die Zeit“ Nr. 16/2003 v. 19.04.2003, S. 11