Verbändereport AUSGABE 1 / 2003

Organisierter Pluralismus in Deutschland: Kräftefeld, Selbstverständnis und politische Arbeit deutscher Interessengruppen

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I. Organisierter Pluralismus in Deutschland: Die Problemstellung
II. Das Kräftefeld organisierter Interessen und seine Entwicklung

  1. Gesellschaftliche Modernisierung und die Entwicklung der Verbandslandschaft: Trends und Prognosen
  2. Amerikanisierung des deutschen Verbändewesens? Zum Boom interverbandlicher Konkurrenz
  3. Schwächung verbandlicher Hierarchien? Spitzenverbände vor neuen Herausforderungen

III. Das Selbstverständnis deutscher Verbandsvertreter

  1. Selbstsicht und Fremdeinschätzung: Verbandliches Selbstverständnis in der Diskussion
  2. Verbände und Gemeinwohl: Ein schwieriges Verhältnis?

IV. Politische Arbeit deutscher Interessengruppen: Praxis und Perspektiven des Lobbyismus

  1. Das Einmaleins des Lobbyisten: Fremdsicht und Selbsteinschätzung
  2. Politische Verbandsarbeit zwischen Mythos und Realität: Das Berufsfeld des Interessenvertreters im Wandel
  3. Alter und neuer Lobbyismus: Verbandsarbeit und "Public Affairs Lobbying" zwischen Kooperation und Konkurrenz

V. Gegenwart und Zukunft des organisierten Pluralismus in Deutschland:
Fazit

Organisierter Pluralismus in Deutschland: Die Problemstellung

Als Otto von Bismarck im Jahre 1884 einen seiner ungeliebten Auftritte vor dem Deutschen Reichstag zu absolvieren hatte, schleuderte er dem versammelten Plenum aus tiefster innerster Überzeugung entgegen: "Die politischen Parteien sind der Verderb unserer Verfassung und der Verderb unserer Zukunft."[1]

Bismarck ist Geschichte, die Probleme im Umgang mit dem Pluralismus sind es nicht. Denn nichts anderes steht hinter dieser Sentenz als das Unvermögen, lebendige Interessenvielfalt zu tolerieren und als Chance, nicht als Gefahr für die Gestaltung des politischen Gemeinwesens zu sehen.

Selbst der überzeugte Demokrat und Wirtschaftsliberale Ludwig Erhard war hiervon nicht ganz frei, versuchte er doch 1965 mit seinem abstrusen Konzept der "formierten Gesellschaft"[2]den seiner Ansicht nach unkontrollierten und die Demokratie schädigenden Einfluß von Interessengruppen zurückzudrängen, um zu einem System gesamtgesellschaftlicher Kooperation ohne große Konkurrenz zu gelangen.

Das "Streben nach Harmonie"[3]und das problematische Verhältnis zu Konkurrenz und Wettbewerb hat also in Deutschland lange Tradition, und bis heute macht es sich regelmäßig - Vulkaneruptionen gleich - Luft, wenn Volkes Seele wieder einmal die "Herrschaft der Verbände"[4]beklagt.

Glücklicherweise haben heute wenigstens die Politiker begriffen, was sie an ihren Interessengruppen haben, und insoweit ist Verbändefeindlichkeit à la Erhard unter ihnen ausgesprochen selten geworden. Die Geschichte des bundesdeutschen Lobbyismus, die trotz vieler Regelverstöße mit vollem Recht als demokratiesichernde politische Erfolgsstory gewertet werden kann, trug hierzu entscheidend bei. Übersetzt in das sozialwissenschaftliche Kauderwelsch: Die Lernfähigkeit und Zukunftsfähigkeit unseres politischen Systems ist ohne verbandliche Vielfalt gar nicht denkbar, und Diktaturen sind deshalb schon aus Gründen fehlender Informationsinputs langfristig zum Scheitern verurteilt: Sie lernen, wie Karl Deutsch das einmal formuliert hat, pathologisch.[5]

Doch zurück zu den deutschen Verhältnissen und dem Erfolgsmodell "Organisierter Pluralismus", das ich im folgenden durchleuchten möchte, indem ich in gebotener Kürze Kräftefeld, Selbstverständnis und politische Arbeit deutscher Interessengruppen auf den Seziertisch der Wissenschaft lege.

II. Das Kräftefeld organisierter Interessen und seine Entwicklung

1. Gesellschaftliche Modernisierung und die Entwicklung der Verbandslandschaft: Trends und Prognosen

Das Gesamtspektrum organisierter Interessen in Deutschland quantitativ zu erfassen, ist eine recht undankbare Aufgabe. Mangels anderer Möglichkeiten hat man dies häufig mit der Prägung von Faustformeln zur Berechnung der Endsumme versucht. Thomas Ellwein etwa ging schon zu Beginn der siebziger Jahre von ca. 3 - 4 Vereinigungen jeglicher Art (kleine Vereine wie große Verbände) pro 1000 deutsche Einwohner aus und gelangte so zu einer Gesamtzahl von etwa 200.000.[6]Bei knapp 82 Mio. Bundesbürgern heute hätte man es demgemäß mit etwa 327.000 Gruppen zu tun - für einen mit begrenzten Ressourcen ausgestatteten Sozialwissenschaftler eine geradezu Schauder erregende Größenordnung. Selbst wenn diese Schätzung um etliche 10.000 unter oder über der tatsächlichen Summe liegt, eine gepflegte sechsstellige Zahl ist mit Sicherheit zugrundezulegen, und eine entsprechende Ehrfurcht vor dem Gegenstand ebenso.

Für den engeren Bereich der bundespolitisch tätigen Verbände reduziert sich die Zahl erfreulicherweise erheblich und pendelt sich bei etwa 5.000 ein.[7]Präzise Zahlen fehlen auch hier noch, doch bereits laufende Forschungsprojekte sollen dem abhelfen. Lediglich die beim Deutschen Bundestag "akkreditierten" Organisationen sind seit 1974 kontinuierlich durch die "Lobbylisten" quantifizierbar, und auf dieser Datenbasis lassen sich einige interessante Entwicklungstrends in der deutschen Verbandslandschaft ablesen.[8]

Ganz generell ist deren deutliche Ausweitung zu diagnostizieren: Waren in der ersten Liste 1974 lediglich 635 Gruppen verzeichnet, so sind es 1998 bereits weit über 1600. Dahinter stehen gesamtgesellschaftliche Veränderungen, welche unweigerlich auch für organisierte Interessenvertretung Folgen haben mußten: Der generelle Trend hin zur Dienstleistungsgesellschaft mit einem immer stärkeren Anwachsen des tertiären zu Lasten von primärem und sekundären Sektor verändert auch das Spektrum von Wirtschaftsverbänden: Eine Vielzahl dienstleistungsorientierter Organisationen schießt Pilzen gleich aus dem Boden, während traditionelle Gruppen, etwa im Bereich Bergbau oder in alten Handwerksberufen, entweder starken Mitgliederschwund zu beklagen haben oder als selbständige Verbände zu existieren aufhören. Gut 70% stehen heute für den tertiären Sektor.[9]

Auch das Anwachsen gesellschaftsgefährdender Bedrohungspotentiale, von Ulrich Beck plakativ mit dem Terminus "Risikogesellschaft" erfaßt", trägt erheblich zu dieser Transformation bei: Denn überproportional häufig sind in den letzten 25 Jahren Organisationen zur Abwendung externer Risiken (Umweltverschmutzung, globale Militärkonfrontation, Nord-Süd-Konflikt) oder zur Neutralisierung innergesellschaftlicher Probleme (soziale Vereinzelung, Arbeitslosigkeit, Entsolidarisierung) entstanden. Sie haben ihre Zahlen im benannten Zeitraum z.T. mehr als vervierfacht, während die gesamte Verbandslandschaft nur etwa auf das Zweieinhalbfache wuchs.

Der dritte interessante Trend ist die generell gewachsene Organisationsfähigkeit von Interessen. Denn die vom Großmeister moderner Verbändeforschung, Mancur Olson, 1965 geäußerte These, soziale Großgruppen, wie Verbraucher oder Umweltfreunde, seien aufgrund ihrer Heterogenität kaum oder gar nicht organisierbar, ist von der Wirklichkeit längst widerlegt. Auch in diesen Spektren haben sich schlagkräftige Verbände etabliert, und sie profitieren dabei von politisch-kulturellen Modernisierungsprozessen, die per Saldo wesentlich aktivere und organisationswilligere Bürger hervorgebracht haben - conditio sine qua non etwa für sog. "public interest groups" amerikanischer Prägung.

2. Amerikanisierung des deutschen Verbändewesens? Zum Boom interverbandlicher Konkurrenz

Eine tendenzielle Amerikanisierung des deutschen Verbändewesens, meine sehr verehrten Damen und Herren, steht uns nach meiner Auffassung ohnehin bevor. Generell ist ja das US-Verbändewesen von sehr starker zwischenverbandlicher Konkurrenz und weitgehender Strukturlosigkeit geprägt: So ist es die Regel, daß sich um jede Klientel mehrere, heftig rivalisierende Gruppen gleichzeitig balgen, und auch die insb. von deutschen Wirtschaftsverbänden bekannte hierarchisierte Organisationsstruktur mit Spitzen-, Fachspitzen- und Fachverbänden suchen wir dort vergebens.[10]

In Deutschland sind bisher vor allem die "neuen" Verbandsspektren, beispielsweise im Umweltbereich, nach diesem US-Muster gewebt. BUND, NABU und Greenpeace seien als durchaus in Konkurrenz zueinander stehende Organisationen genannt. Aber auch im sozialpolitischen Bereich ist sie deutlich ausgeprägt, denkt man an den Wettbewerb zwischen den großen Wohlfahrtsorganisationen "Caritas", "Diakonisches Werk" oder "Paritätischer Wohlfahrtsverband". Und auch den Bereich der Wirtschaftsverbände, obwohl traditionell eher korporatistisch formiert und die Entstehung von Konkurrenzgruppen eher hemmend, hat dieser Trend voll erfaßt. So fanden sich bereits in der Lobbyliste von 1994 nicht weniger als 11 verschiedene Verbände zur Vertretung allgemeiner Mittelstandsinteressen, und auch die pluralistische Auffächerung bei der Vertretung von Beamteninteressen (z.B. bei der Polizei) kann hier als Beispiel dienen.

3. Schwächung verbandlicher Hierarchien? Spitzenverbände vor neuen Herausforderungen

Gerade dieser Trend zur Pluralisierung und Aufweichung überkommener verbandlicher Strukturen wird die traditionellen deutschen Spitzenorganisationen vor große Herausforderungen stellen. Denn die Notwendigkeit, als Fachvertretung einem Dachverband anzugehören, erschließt sich heute nicht mehr gleichsam von selbst, sondern nur nach nüchterner Kosten-Nutzen-Kalkulation. Gespräche, die ich mit Vertretern solcher Fachverbände führte, erbringen hier mitunter recht farbige und z.T. auch drastische Lageeinschätzungen.[11]Vom finanziellen Zwang zum "lean management" ist da häufig die Rede, welcher auch vor einer per Mitgliedsbeitrag finanzierten Spitzenorganisation nicht Halt machen dürfe, von Zweifeln an der Einsichtsfähigkeit in spezifische fachverbandliche Belange sowie vom Unmut bezüglich unausgewogener innerorganisatorischer Willensbildung. Die Gefahr einer Abwanderung von Mitgliedsverbänden aus diesen spitzenverbandlichen Gefügen wächst, zumal ja auch viele europäische Verbände bereits die Möglichkeit einer Direktmitgliedschaft ohne Umweg über nationale Spitzenorganisationen ermöglichen.

Der Streit um das Entsendegesetz für die deutsche Bauwirtschaft, welcher die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände vor eine ernste Zerreißprobe stellte, ist dabei durchaus symptomatisch und sollte entsprechend ernst genommen werden:[12]Denn die zweifellos sehr wichtige Koordinationsfunktion deutscher Spitzenverbände droht im Strudel solch aktueller Kontroversen aus dem Blick zu geraten, und deshalb ist eine professionelle Vermarktung deren eigenen Leistungs- und Erfolgsprofils gegenüber knauserigen Mitgliedsorganisationen wichtiger denn je.

III. Das Selbstverständnis deutscher Verbandsvertreter

1. Selbstsicht und Fremdeinschätzung: Verbandliches Selbstverständnis in der Diskussion

Das öffentliche Ansehen deutscher Interessengruppen - ich komme zur Selbstverständnisproblematik - stufen die Verbandsfunktionäre insgesamt nur als "befriedigend" ein, wenn man sie nach dem Schulnotensystem zensieren läßt. Die eigenen Organisationen erhalten demgegenüber mit einer 2,4 noch ein knappes "gut", was auf ein durchaus nicht unterentwickeltes Selbstbewußtsein schließen läßt.[13]

"Ein Verbandsgeschäftsführer ist ein Unternehmer, ... weil er sonst gar nicht leben kann. Ein Unternehmer, der sein Unternehmen "Verband" so führt, daß er erstens unabhängig ist, selbst denkt, aber immer die Gegensätze im Kopf hat und versucht, zu koordinieren und zu kooperieren."[14]So charakterisiert ein Mitglied dieser Gilde kurz und prägnant das berufliche Profil des Lobbyisten. Und dies mit Recht: Verbandsvertreter sind heute professionell geschulte Dienstleister, die von ihren Organisationen mit großen Gestaltungsspielräumen ausgestattet werden. Denn der einzelne Lobbyist kann nur Erfolg haben, wenn er als eigenverantwortlicher und mit Verhandlungsmasse ausgestatteter Treuhänder für seine Klientel tätig wird, nicht aber dann, wenn er nur weisungsabhängiger Laufbursche ist.

Durch verbändekritische Positionen lassen sich solch selbstbewußte Funktionäre nicht einschüchtern, sondern betonen ganz im Gegenteil die demokratiepraktische Relevanz ihres Wirkens. Gleichwohl ist ihnen bewußt, daß sie in einer politischen Landschaft agieren, in der ihre Tätigkeit immer wieder kritisch hinterfragt und problematisiert wird. In die politische Defensive lassen sie sich dadurch nicht drängen. Sie pflegen einen offensiven Kommunikationsstil, der auch harte Auseinandersetzungen mit politischen Gegnern ermöglicht. Dabei wird der Konflikt nicht systematisch gesucht, aber er wird in essentiellen Fragen auch nicht vermieden.

2. Verbände und Gemeinwohl: Ein schwieriges Verhältnis?

Ein recht unverkrampftes Verhältnis besitzen die deutschen Verbandsvertreter infolgedessen auch gegenüber der Gemeinwohlproblematik, die jedem deutschen politischen Sonntagsredner bekanntermaßen besonders am Herzen liegt. In einer Umfrage jedenfalls, die ich unter den Lobbyisten 1994 tätigte, erklärten allein 50%, ein solches Gemeinwohl ließe sich ohnehin als Maßstab nicht vorab ermitteln, sondern sei gerade erst Produkt des Interessenausgleichs - Gemeinwohl a posteriori, Ernst Fraenkel läßt grüßen.[15]Lediglich 28% sind vom Gegenteil überzeugt, darunter überproportional viele Vertreter von Spitzenorganisationen, welche aufgrund der Allgemeinheit ihrer Interessen für die Problematik "Gemeinwohl" ohnehin sensibler sind. Unabhängig davon sehen 56% der Funktionäre auch keine Gemeinwohlunverträglichkeit ihrer Positionen, lediglich 19% sind hier größeren Gewissenskonflikten ausgesetzt.

IV. Politische Arbeit deutscher Interessengruppen: Praxis und Perspektiven des Lobbyismus

1. Das Einmaleins des Lobbyisten: Fremdsicht und Selbsteinschätzung

Trotzdem haben die deutschen Verbände immer noch ein Image-Problem: Zwar mühen sie sich redlich und durchaus professionell, Politik in ihrem Sinne zu beeinflussen, werden dabei aber vom durchschnittlichen Bundesbürger regelmäßig des Einsatzes unlauterer Methoden geziehen, wie ich erst neulich als Teilnehmer eines Hörergesprächs des Bayerischen Rundfunks erleben konnte: Anrufer beschrieben dort die Lobbyisten sinngemäß als öffentlichkeitsscheue Gnome, von Politiker zu Politiker huschend, eifrig die Klinken putzend und emsig ihre Taschen von der Last der Geldscheine befreiend. Rauschende Feste in den eigenen Partykellern täten ein Übriges, um im Dunste der Bierseligkeit auch noch den renitentesten Parteifunktionär eines Besseren zu belehren und zum gefügigen Werkzeug einer Interessengruppe zu machen. Ich überzeichne deutlich, treffe aber doch den Kern!

Als Berufsbild des Lobbyisten mag ein solches Tätigkeitsprofil geradezu verlockend wirken: Keine Routine, am Schalthebel der Macht, als graue Eminenz politische Entscheidungen fernsteuernd. Mit dem Arbeitsalltag hat diese Beschreibung - wohl auch zum Leidwesen vieler Verbandsfunktionäre - indessen nur wenig zu tun: Organisierte Interessenvertretung gestaltet sich wesentlich unspektakulärer und ist zudem von klaren Spielregeln geleitet. Bereits 1982 verfaßte Klaus Broichhausen einen "Knigge... für die Lobby in Bonn"[16], welcher das Berufsethos verbandlicher Arbeit auf den Punkt bringt. Von "Geben und Nehmen", "Sachverstand über alles", "Glaubwürdigkeit", "nicht mauscheln" sowie "Klarheit und Offenheit" gegenüber Politikern ist dort die Rede[17], mithin von preußischen Tugenden, welche auch andere Arbeitsbeziehungen prägen.

2. Politische Verbandsarbeit zwischen Mythos und Realität: Das Berufsfeld des Interessenvertreters im Wandel

Die Lobbyisten selbst schildern ihren Arbeitsalltag in ähnlichen Worten: mit durchschnittlich drei bis vier Mitarbeitern besetzt, praktizieren die Verbandsgeschäftsstellen Interessenvertretung im wesentlichen auf geschäftsmäßige Art und Weise:[18]Pressemitteilungen werden verfaßt, Briefe geschrieben, Telefonate mit Abgeordneten und Ministerialbeamten getätigt, gemeinsame Aktionen mit Partnerorganisationen geplant und zudem Mitgliederservice absolviert. Gesellschaftliche Veranstaltungen sind dabei eher die Ausnahme und dienen meist dem "small talk" und der Beziehungspflege, nicht aber der lobbyistischen Feinarbeit.

Ein solcher Arbeitsalltag führt zu stabilen und dauerhaften beruflichen Beziehungen zwischen Lobbyisten, Beamten und Politikern, welche durchweg von gegenseitiger Wertschätzung getragen sind: Verbandsfunktionäre gelten mit Recht als ausgewiesene Sachexperten und werden von politischen Entscheidern regelmäßig und gerne gehört. Die Macht des Arguments macht Schmiergeld deshalb regelmäßig überflüssig - zumal die kargen Verbandsetats dafür auch kaum finanziellen Spielraum böten.

3. Alter und neuer Lobbyismus: Verbandsarbeit und "Public Affairs Lobbying" zwischen Kooperation und Konkurrenz

Die Grundregeln dieses traditionellen Lobbyismus sind dabei nicht überraschend, und gerade Ihnen erzähle ich damit ja auch nichts Neues. Wohl aber beginnt sich in Deutschland - mehr noch bei der Europäischen Union - ein neuer Stil organisierter Interessenvertretung breitzumachen, welcher oft gänzlich an der gewachsenen Verbändelandschaft vorbei führt. "Public Affairs Lobbying" ist das kryptische Zauberwort - amerikanischen Ursprungs natürlich und auf ein System von Interessenvertretern verweisend, welche nicht als Verbandsfunktionäre tätig und damit dauerhaft mit ihrer Klientel vernetzt sind, sondern als Rechtsanwälte und Consultants von Fall zu Fall als "hired guns" (so die recht saloppe amerikanische Bezeichnung) von der Kundschaft in das lobbyistische Gefecht geschickt werden. Gerade kleine Gruppen, welche sich den Luxus einer permanenten verbandlichen Repräsentanz am Regierungssitz nicht leisten können bzw. müssen, wählen oft diesen Weg.

Die Brüsseler Lobbyszene ist schon heute ohne diesen neuen Typus von Interessenvertreter nicht mehr denkbar. Einer meiner Diplomanden ermittelte für das Jahr 1998 rund 400 solcher Public-Affairs-Agenturen, je etwa zur Hälfte von spezialisierten Anwaltskanzleien und Consultancies gebildet.[19]Ich wage einmal zu prognostizieren, daß dieses Phänomen auch in Deutschland immer weiter Verbreitung finden wird. Didi Rollmann, der deutsche Prototyp, wird also Schule machen, und in der Person eines Vizepräsidenten der DGVM haben wir ein weiteres gutes Beispiel parat.

Die Zukunft wird dabei das Verhältnis zwischen traditionellem Verbands- und neuem Auftragslobbyismus zu klären haben. Tragisch wäre dabei eine unkontrollierte Konkurrenz um die Klientel, denn wichtige Synergieeffekte gingen dabei verloren: gerade "hired guns" ermangeln ja meist der langfristigen Verwurzelung im jeweiligen Interessenspektrum, kennen es als lobbyistische Wasserläufer nur oberflächlich. Hier ist der traditionelle Verbandsfunktionär konkurrenzlos und daher als Quelle für Public Affairs-Agenturen eigentlich unabdingbar. Er selbst könnte sich im Gegenzug durch punktuelle Kooperation der Dienste von "hired guns" bedienen, um seine eigene Arbeitsbelastung zu verringern - zumal in Kleinverbänden, in welchen recht häufig ein lobbyistischer Solist vom Mitgliederservice über die verbandsinterne Bauchpinselung der Ehrenamtlichen, der Disziplinierung von renitenten Landesverbänden bis hin zur bundesweiten Richtlinienbestimmung von Interessenpolitik jede nur denkbare oder undenkbare Aufgabe zu erfüllen hat. Synergie sei es Panier, möchte man da sagen, und der Lobbyismus der Zukunft wird dem hoffentlich Rechnung tragen.

V. Gegenwart und Zukunft des organisierten Pluralismus in Deutschland: Fazit

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Zukunftsperspektiven der deutschen Verbandslandschaft sind pluralistischer denn je. Auch wenn Bismarck sich im Grabe drehen mag: der von ihm perhorreszierte Pluralismus hat sich langfristig als überlegenes politisches Gestaltungskonzept erwiesen und den monarchischen Obrigkeitsstaat zu Recht in die Mottenkiste politischer Ordnungsformen verdrängt.

Tragen wir alle dafür Rechnung, daß dieses Bewußtsein auch in Zukunft dominiert und auch in der Bevölkerung noch stärkere Verankerung findet: Was politische Eliten begriffen haben, ist längst noch nicht Gemeinplatz des politisierenden deutschen Michel, und vornehme Aufgabe politischer Bildung muß es daher sein, die eben beschriebene Erfolgsgeschichte auch erfolgreich im Bewußtsein des deutschen Bürgers zu verankern. Dann wird unser Pluralismus auf Dauer bestehen und auch im Rahmen eines geeinten Europas Bestand haben.

 

[1]Verhandlungen des Reichstages, Stenographische Berichte, V. Legislaturperiode, IV. Session 1884, Erster Band, 09.05.84, S.503.

[2]Vgl. Knopp, Guido/ Geiger, Tim, 1999: Der Optimist: Ludwig Erhard, in: Knopp, Guido u.a., Kanzler. Die Mächtigen der Republik, München (Bertelsmann), S.83-160, hier S.127.

[3]Aus oppositionstheoretischer Sicht Grosser, Dieter, 1975: Die Sehnsucht nach Harmonie: Historische und verfassungsstrukturelle Vorbelastungen der Opposition in Deutschland, in: Oberreuter, Heinrich (Hrsg.), Parlamentarische Opposition. Ein internationaler Vergleich, Hamburg (Hoffmann und Campe), S.206-229.

[4]Theodor Eschenburgs bekannter Essay von 1955 hat diese Formulierung zu einem politischen "Evergreen" werden lassen, wobei zumeist das Fragezeichen des Autors übersehen wird: Eschenburg, Theodor, 1963: Herrschaft der Verbände?, 2.Aufl., Stuttgart (DVA) (erstm. 1955).

[5]Deutsch, Karl W., 1973: Politische Kybernetik. Modelle und Perspektiven, 3. Aufl., Freiburg (Rombach), S.233-254.

[6]Ellwein, Thomas, 1985: Die großen Interessenverbände und ihr Einfluß, in: Blümle, Ernst-Bernd/ Schwarz, Peter (Hrsg.), Wirtschaftsverbände und ihre Funktion. Schwerpunkte der Verbandsforschung, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), S.239-277 (erstm.1973), hier S.240.

[7]Sebaldt, Martin, 1997: Organisierter Pluralismus. Kräftefeld, Selbstverständnis und politische Arbeit deutscher Interessengruppen, Opladen, S.24.

[8]In der "öffentlichen Liste über die Registrierung von Verbänden und deren Vertretern", wie die Lobbyliste amtlich heißt, finden sich alle jene Organisationen wieder, die offiziell bundespolitisch tätig werden wollen und dafür gleichsam eine "Akkreditierung" benötigen. Denn laut Beschluß des Deutschen Bundestages vom 21.09.72 wird nur denjenigen Interessengruppen Zugang zu parlamentarischen Entscheidungsgremien gewährt, die sich in der Liste registrieren lassen und dabei Angaben zu folgenden Punkten machen:1. Name und Sitz der Organisation; 2. Adresse, 3.Weitere Adressen, 4. Vorstand und Geschäftsführung, 5. Interessenbereich, 6. Mitgliederzahl, 7. Anzahl der angeschlossenen Organisationen, 8. Verbandsvertreter, 9. Anschrift am Sitz von Bundestag und Bundesregierung. Ausgenommen von dieser Registrierungspflicht bleiben laut Beschluß des Präsidiums des Deutschen Bundestages vom 14.03.73 nur Körperschaften, Stiftungen und Anstalten des öffentlichen Rechts sowie deren Dachorganisationen, da sie keine Verbände im Sinne der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages darstellen. Veröffentlich wird sie jährlich in einer Beilage des Bundesanzeigers, und mittlerweile ist sie auch über die Homepage des Bundestages im Internet abrufbar.

[9]Vgl. dazu und zum Rest des Abschnitts Sebaldt, Martin, 1997: Organisierter Pluralismus, a.a.O., S.75-178.

[10]Vgl. zum System amerikanischer Interessengruppen Lösche, Peter, 1989: Amerika in Perspektive. Politik und Gesellschaft der Vereinigten Staaten, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), S.240-270.

[11]Sebaldt, Martin, 1997: Verbände und Demokratie: Funktionen bundesdeutscher Interessengruppen in Theorie und Praxis, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 36-37, S.27-37, hier S.35-36.

[12]Ebenda, S.35.

[13]Sebaldt, Martin, 1996: Gibt es in Deutschland eine "Herrschaft der Verbände"? Lobbyismus in der Politik, in: Das Parlament, 13.12.96, Nr.51, S.2.

[14]Sebaldt, Martin, 1997: Organisierter Pluralismus, a.a.O., S.197.

[15]Fraenkel, Ernst, 1979: Der Pluralismus als Strukturelement der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie, in: Ders., Deutschland und die westlichen Demokratien, 7.Aufl., Stuttgart etc. (Kohlhammer) (erstm. 1964), S.197-221

[16]Broichhausen, Klaus, 1982: Knigge und Kniffe für die Lobby in Bonn, München (Langen-Müller/ Herbig).

[17]Ebenda, S.18-27.

[18]Sebaldt, Martin, 1997: Organisierter Pluralismus, a.a.O., S.241-379.

[19]Plaschka, Klaus, 1998: Politische Interessenvertretung im neuen Stil: Public Affairs Lobbying bei der Europäischen Union, Diplomarbeit, Passau, S.37-38, 74-75; gute Einblicke bietet auch das "European Public Affairs Directory", jährlich in Brüssel publiziert (Hrsg. Alain Fallik; Verlag Landmarks) und in etwa dem deutschen Kompendium "Verbände, Behörden, Organisationen der Wirtschaft" des Hoppenstedt-Verlags vergleichbar.

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