Pressemitteilung | (vzbv) Verbraucherzentrale Bundesverband e.V.

Die meisten Deutschen sind falsch versichert / Edda Müller: "Falsche Vertriebsanreize führen zu Schäden in Milliardenhöhe"

(Berlin) - "Die meisten Deutschen sind falsch versichert", sagte vzbv-Vorstand Prof. Dr. Edda Müller auf einer Tagung zur Reform des Versicherungsrechts in Berlin. "Die meisten Bürger haben Versicherungen, die sie nicht brauchen oder die bei existenzbedrohenden Schadensfällen nicht zahlen." Als Ursache nannte der vzbv falsche Anreize für Versicherungsvermittler sowie eine Benachteiligung der Verbraucher im geltenden Versicherungsrecht. Der vzbv forderte weitreichende Reformen im Versicherungsrecht und bei der Versicherungsvermittlung.

Die Über-, Unter- und Fehlversicherung der Bundesbürger führt zu erheblichen gesamtwirtschaftlichen Folgekosten. "Der volkswirtschaftliche Sinn von Versicherungen wird in sein Gegenteil verkehrt, wenn die Versicherung im Ernstfall nicht die elementaren Risiken abdeckt, für die sie gebraucht wird," so Edda Müller. Ein Beispiel für die Fehlentwicklungen im Versicherungsmarkt seien Kapitallebensversicherungen. So werden bis zu 80 Prozent aller Kapitallebensversicherungen vor Vertragsablauf meist unter erheblichem Verlust gekündigt oder beitragsfrei gestellt. Häufig als zentraler Pfeiler der privaten Altersvorsorge geplant, wird die Versicherung hierdurch für einen großen Teil der Kunden zum Verlustgeschäft.

Die Eigenverantwortung der Verbraucher ist künftig in immer mehr Bereichen gefordert. Die sozialen und wirtschaftlichen Folgen eines unzureichenden Versicherungsschutzes werden sich künftig also noch verstärken. Dabei sind beispielsweise rund drei Viertel der Haushalte nicht gegen die Folgen einer Berufsunfähigkeit abgesichert.

Die Gründe für den lückenhaften Versicherungsschutz der meisten Verbraucher liegen nach Ansicht des vzbv in einer ungleichen Verteilung der Rechte und Pflichten zwischen Versicherern und Versicherten, in der fehlenden Transparenz des Versicherungsmarktes und in falschen Anreizen bei der Vermittlung und beim Abschluss von Versicherungen. Dies bedeutet konkret:

Rechte und Pflichten sind ungleich verteilt:

- Wer als Versicherungskunde beim Vertragsabschluss wichtige Informationen vergisst oder verschweigt, muss teuer dafür bezahlen - in der Regel mit dem Verlust des Versicherungsschutzes. Umgekehrt ist die Rechtslage für Versicherungen derzeit weitaus großzügiger: Eine fehlende Belehrung über die Lücken des Versicherungsschutzes bleibt für die Versicherungen folgenlos.
- Ungleich sind Rechte und Pflichten auch bei der Beendigung des Versicherungsschutzes verteilt: So können Sach- oder Rechtsschutzversicherer einen Vertrag jederzeit ohne Angabe von Gründen kündigen, wenn sie einmal zahlen mussten.

Fehlende Transparenz des Versicherungsmarktes:

- Der Versicherungsmarkt gehört zu den am wenigsten transparenten Märkten. Die Information beim Vertragsabschluss über das, was die Versicherung abdeckt und vor allem darüber, was sie nicht abdeckt, ist höchst lückenhaft. Derzeit ist es sogar üblich und vom Gesetzgeber geduldet, dass Versicherungen ihren Kunden die Vertragskonditionen erst nach Abschluss des Vertrags mitteilen.
- Die Intransparenz hat System: Nur so ist verständlich, warum beispielsweise der Markt für Unfallversicherungen boomt - obwohl es viel wahrscheinlicher ist, dass jemand durch Krankheit seine Arbeitskraft verliert als durch einen Unfall.

Falsche Anreize bei der Vermittlung:

- Fast alle Versicherungsvermittler leben von Provisionen und nicht von einer bedarfsorientierten Beratung der Verbraucher. So gibt es in Deutschland rund 500.000 Vermittler, die mehr oder minder von Provisionen leben. Auf der anderen Seite gibt es nur etwa 130 (!) gerichtlich zugelassene Versicherungsberater, die ausschließlich von Beratungsgebühren leben und bei deren Ratschlägen keine Provisionsinteressen mitspielen.
- Die Höhe der Provision richtet sich nach den zu zahlenden Beiträgen - und nicht nach Risiko und Bedarf der Kunden. Die geringsten Provisionen gibt es ausgerechnet bei Versicherungen, die zu den wichtigsten Policen für jeden Verbraucher gehören - wie etwa die private Haftpflichtversicherung.
- Der Irrglaube, dass die Beratung beim durchschnittlichen Vermittler "nichts kostet", trifft die Versicherten auch auf andere Weise: So zahlt der Kunde, der einen Vertrag abschließt, mit seiner Provision auch die Beratungen all derer Kunden mit, bei denen es nicht zum Vertrag kommt.

Kernelemente der Reform
Der vzbv stellte Kernelemente einer Reform des Versicherungsvertragsrechts sowie der Regelung zur Vermittlung von Versicherungen vor. "Unser Reformvorstoß zielt auf einen funktionierenden Versicherungsmarkt ab: Wir wollen, dass es sich für die Unternehmen ökonomisch lohnt, ihren Kunden den Versicherungsschutz zu geben, den sie wirklich brauchen," sagte vzbv-Chefin Edda Müller.

Zu den zentralen Forderungen des vzbv bei der anstehenden Reform des Versicherungsvertragsrechts und der Umsetzung der EU-Versicherungsvermittler-Richtlinie zählen

- der Hinweis auf die Notwendigkeit einer Risiko- und Bedarfsanalyse vor Vertragsabschluss,
- die Neuregelung des Vertragsabschlussverfahrens,
- Informationspflichten über Lücken des Versicherungsschutzes sowie die Pflicht des Versicherers zur Deckung dieser Lücken bei Verletzung seiner Informationspflichten,
- neue Regeln bei der Verteilung der Abschlusskosten (Mindest-Rückkaufswerte),
- eine Verpflichtung der Versicherer, auch sogenannte Netto-Tarife (ohne Einrechung von Abschlussprovisionen) anzubieten,
- eine einheitliche Besteuerung aller für den Aufbau einer Altersversorgung in Frage kommenden Produkte sowie
- die Förderung einer von Provisionsinteressen freien Versicherungsberatung.

Bei den Lebensversicherungsprodukten wie auch bei allen anderen Altersvorsorgeprodukten ist eine deutlich verbesserte Verbraucherinformation notwendig. Sie sollte in der gesamten Finanzdienstleistungsbranche gleich nummeriert und strukturiert sein. Für unerfahrene Konsumenten ist eine "Kurzfassung" der Verbraucherinformation erforderlich, die dem gleichen Muster folgt. Im Bereich der Nichtlebensversicherung ist vor Antragstellung durch den Verbraucher eine verpflichtende Information über die gravierenden Deckunglücken des angebotenen Produkts notwendig.

Damit die Information auch genutzt werden kann und wird, müssen die rechtlichen Regelungen zum Vertragsabschlussverfahren geändert werden. Der Versicherer soll keine Prämienzahlung fordern dürfen, wenn er nicht nachweisen kann, dass er dem Verbraucher vor dessen Unterschrift unter den Versicherungsantrag zumindest eine Kurzfassung der "Verbraucherinformation" mit allen wichtigen Vertragsinformationen überlassen hat.

Wir brauchen eine Abkehr von der Bevorzugung einzelner Produkte im Steuerrecht. Stattdessen muss an die Verwendung der Erträge, also an die Funktion des jeweiligen Produkts angeknüpft werden. Alle zum Aufbau einer Altersvorsorgung in Frage kommenden Produkte sollten steuerlich gleichbehandelt werden. In diesem Zusammenhang begrüßen wir den ersten Schritt, den die Bundesregierung unternommen hat, indem sie die Erträge aus Kapitallebensversicherungen bei ab 2005 geschlossenen Verträgen zur Hälfte der Einkommensbesteuerung unterwirft.

Ein zentraler Punkt der notwendigen Reformen betrifft die Verteilung der Abschlusskosten. So werden bei Lebensversicherungen die Abschlusskosten gleich zu Beginn erhoben - während der ersten Beitragsjahre zahlt der Versicherte also, ohne dass Kapital angespart wird. Wird der Vertrag nach wenigen Jahren gekündigt, ergibt sich ein Verlustgeschäft für den Kunden. Dadurch, dass die Versicherungsvermittler gleich nach Vertragsabschluss kassieren, fehlt für sie zugleich der Anreiz, dass die Versicherten ihren Vertrag möglichst bis zum vorgesehenen Ablauf "durchhalten". Als Alternative müssen die Abschlusskosten wie schon bei der Riesterrente zunächst auf fünf Jahre und später auf die gesamte Laufzeit des Vertrags verteilt werden.

Eine Pflicht der Versicherer zum Ausweis der Abschlussprovision würde den Verbrauchern deutlich machen, dass die bisher kostenlos scheinende Beratung durch Versicherungsvermittler alles andere als kostenlos ist. Wenn transparent würde, was die Verbraucher für den Vermittler bezahlen müssen, dann würden sie stärker als bisher die Dienste wirklich unabhängiger Versicherungsberater in Anspruch nehmen und besser als bisher beraten werden.

Eine zusätzliche Pflicht der Versicherer, auch so genannte "Nettotarife" anzubieten, würde es zudem Honorarvermittlern und -beratern leichter machen, ein breites Spektrum an Versicherern empfehlen zu können.

Auch die Abschaffung des Provisionsabgabeverbots würde die hohen Provisionsunterschiede zwischen der Lebensversicherung und den anderen Sparten verringern und zu einer bedarfsgerechteren Ausstattung der deutschen Haushalte mit Versicherungsschutz führen.

Die finanzielle Allgemeinbildung weist bei 80 Prozent der Verbraucher eklatante Lücken auf, wie Untersuchungen der Commerzbank und der Bertelsmann-Stiftung belegen. Das mangelnde Wissen bei Verbrauchern und auch bei Versicherungsvermittlern trägt - gepaart mit Fehlanreizen bei der Versicherungsvermittlung - erheblich zum Problem der Fehlversicherung bei. Auch seriös arbeitende Unternehmen mit qualitativ hochwertigen Produkten leiden darunter, dass Qualität für die meisten Verbraucher kaum erkennbar ist. Hier sollte eine unabhängige Stiftung zur Verbraucherberatung gegensteuern. Sie sollte aus Beiträgen der Versicherungsbranche finanziert werden.

Die Versicherungswirtschaft und ihre Milliarden

Die deutsche Versicherungswirtschaft ist volkswirtschaftlich von herausragender Bedeutung. Die deutschen Versicherungsunternehmen verbuchten 2003 Beitragseinnahmen in Höhe von mehr als 150 Milliarden Euro. Davon entfielen allein 70 Milliarden Euro auf Lebensversicherungen. Derzeit gibt es rund 93 Millionen Lebensversicherungspolicen, und jährlich werden etwa zehn Millionen neue Lebensversicherungsverträge geschlossen. Bei Lebensversicherern und bei Pensionskassen war 2003 knapp eine Billion Euro oder etwa ein Viertel der gesamten Kapitalanlagen der privaten Haushalte investiert.

Quelle und Kontaktadresse:
vzbv Verbraucherzentrale Bundesverband e.V. Markgrafenstr. 66, 10969 Berlin Telefon: 030/258000, Telefax: 030/25800218

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