Pressemitteilung | Deutsche Kinderhilfe - Die ständige Kindervertretung e.V.

Erste Lesung des Kinderschutzgesetzes im Deutschen Bundestag: / Die Deutsche Kinderhilfe appelliert: Der Grundkonsens im Bereich Kinderschutz darf nicht aufgrund des anstehenden Wahlkampfes aufgegeben werden!

(Berlin) - Heute (23. April 2009) wird im Bundestag in der ersten Lesung über das geplante Kinderschutzgesetz debattiert. Die Deutsche Kinderhilfe appelliert an die Bundestagsabgeordneten, insbesondere an die SPD-Fraktion, den parteiübergreifenden Konsens der Kindergipfel von Dezember 2007 und Juni 2008 nicht aufzugeben. Dort wurde ausdrücklich beschlossen, dass sich die Jugendämter bei Verdacht einer Kindeswohlgefährdung einen eigenen Eindruck vom Kind und dessen Umfeld machen müssen. Dies ist ohnehin nur ein erster kleiner Schritt zu einem besser funktionierenden Kinder- und Jugendhilfesystem.

Kerstin Griese, Vorsitzende des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (SPD) kritisierte im Vorfeld der Debatte, dass der Gesetzentwurf dazu tendiere, die Jugendämter zu Melde- und Kontrollbehörden umzubauen. Präventive und fördernde Ansätze würden dagegen fast völlig fehlen.

Von fachlicher Seite besteht jedoch Übereinstimmung darüber, dass zur Abklärung einer Kindeswohlgefährdung das Kind und sein Wohnumfeld vom Jugendamt bzw. vom beauftragten freien Träger in Augenschein genommen werden muss. Die tragischen Todesfälle von Lara, Lea-Sophie, Kevin, Jessica, Max Luca und weiterer Kinder haben die Kontrolldefizite explizit zu Tage treten lassen. Sie starben, weil das Jugendamt das Kind nicht in Augenschein genommen hat und der Fokus der eingeleiteten Maßnahme nur auf der Betreuung der Eltern lag. Dass der Bundesgesetzgeber daran gehindert werden soll, die Jugendämter, die laut Verfassung das staatliche Wächteramt für Kinder und Jugendliche innehaben, stärker in die Verantwortung zu nehmen, ist in keiner Weise nachzuvollziehen und wirkt zynisch. Der geforderte Ausbau der präventiven und fördernden Ansätze können nicht in einem Bundesgesetz geregelt werden. Hier sind Kommunen und Länder am Zug. Auch in den SPD-regierten Ländern und Kommunen hat sich aber in den letzten Jahren nichts Nennenswertes verändert.

Die SPD darf nicht in einen Schutzreflex zugunsten der großen Trägerverbände verfallen. Diese hatten schon in der Anhörung zum Referentenentwurf, den die Deutsche Kinderhilfe sachverständig begleitet hat, im Dezember 2008 versucht, alle Ansätze zu blockieren, die nur ein wenig in Richtung "mehr Kontrolle" gehen. So war im ersten Referentenentwurf noch vorgesehen, dass insbesondere Lehrer aber auch andere Berufsgruppen, die mit Kindern arbeiten, bei Verdacht einer Kindeswohlgefährdung das Jugendamt zu informieren haben. Diese Rechtspflicht wurde von den Verbänden massiv bekämpft und leider aus dem Regierungsentwurf herausgenommen. Dies führt nun zu der unerträglichen und nicht nachvollziehbaren Situation, dass Mitarbeiter der freien Träger der Jugendhilfe, also auch der Kindertagesstätten, eine Meldepflicht haben, Lehrer jedoch nicht! Dem liegt ein pädagogisches Idealverständnis zugrunde, dass alles im Konsens mit den "Klienten", also den Eltern, besprochen werden kann. Für die vielen erziehungsunfähigen und überforderten Eltern, die aufgrund ihrer traurigen Biographie und desaströser Lebensumstände in der Unterschicht leben, bedarf es jedoch keiner Konsensgespräche sondern echter Hilfe, das bisherige Leben zu strukturieren. Dies geht nicht ohne Regeln, Kontrollen und Verbindlichkeiten, wie skandinavische Länder schon vor Jahren erkannt haben. Deutschland braucht einen Paradigmenwechsel in der Kinder- und Jugendhilfe. Angesichts mehr als 170 toter Kinder pro Jahr und dramatisch gestiegener Zahlen von verwahrlosten und misshandelten Kindern muss die traurige Wahrheit akzeptiert werden, dass das Jugendhilfesystem nicht mehr funktioniert und neue Wege zu gehen sind.

Die immer noch massiven Qualitätsdefizite in der Kinder- und Jugendhilfe müssen zum Anlass für dringend notwendige Reformen genommen werden. Offenkundig scheuen sich Verbandsfunktionäre aber immer noch davor, endlich eine Qualitätsdebatte in der Kinder- und Jugendhilfe zuzulassen. Etwaiges Versagen der von den Jugendämtern häufig eingeschalteten freien Träger (siehe jüngst den Fall Lara in Hamburg) ist eines der letzten Tabus in der Kinder- und Jugendhilfedebatte.

Bedauerlich ist, dass sich der Gesetzgeber bei den Regelungen über die ärztliche Schweigepflicht nicht dazu durchringen kann, den interkollegialen Austausch der Kinderärzte untereinander zu regeln. Es wäre ein großer Gewinn für den Kinderschutz, wenn sich Kinderärzte zu Eltern, die bei Misshandlungsverdacht häufig den Kinderarzt wechseln, untereinander fachlich austauschen könnten. Das Projekt "Riskid" in Duisburg, das genau diesen Ansatz verfolgt, ist ein Beispiel für effektiven Kinderschutz. Ebenfalls muss die im Referentenentwurf noch vorgesehene Verpflichtung für Berufsgruppen, die mit Kindern arbeiten - also insbesondere Lehrer -, bei einem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung das Jugendamt zu informieren, gegen den Widerstand der Sozialverbände wieder in das Gesetz aufgenommen werden!

"Mehr Kontrolle durch die Jugendämter bedeutet zugleich auch mehr Kontrolle der Träger. Deutschland braucht endlich einheitliche Qualitäts- und Diagnosestandards. Die Sorge der Verbände ist offenbar, dass dieses Gesetz ein Einstieg dafür wäre. Es bleibt zu hoffen, dass dieser durchschaubare Versuch abgewehrt werden kann und das Kindeswohl wieder den Vorrang vor Wahlkampf und Verbandsklientelpolitik erhält", so RA Georg Ehrmann, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Kinderhilfe.

Quelle und Kontaktadresse:
Deutsche Kinderhilfe e.V. Julia Gliszewska, Sprecherin des Vorstandes Schiffbauer Damm 40, 10117 Berlin Telefon: (030) 24342940, Telefax: (030) 24342949

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