Verbändereport AUSGABE 1 / 2013

Aktion Gemeinsinn: Arbeit einstellen oder den alten Auftrag neu interpretieren?

Eine bewährte NGO steht vor einer Grundsatzentscheidung

Logo Verbaendereport

Dieser Beitrag ist aus zweierlei Absicht geschrieben, einer vorder- und einer hintergründigen. Die vordergründige: Die Aktion Gemeinsinn muss aus finanziellen Gründen Ende März ihr langjähriges Domizil in Bonn aufgeben. Sie sucht also Unterschlupf: ein bis zwei Arbeitsplätze, ein großes Regal, Telefon- und Computeranschlüsse, kurzum ein funktionierendes Büro, das bis Ende 2013 dieser ehrwürdigen NGO kostenlose Herberge bietet. Wer kann direkt oder indirekt helfen? Warum bis Ende 2013? Damit sind wir bei der hintergründigen Absicht dieses Textes: Die Aktion will sich dann auflösen, wenn sie bis dahin kein neues Arbeitsfeld samt finanzieller Grundsicherung, d. h. samt Partner, gefunden hat. Mit diesem Beitrag ist eine öffentliche Debatte eröffnet, die hilft, Chancen, Aufgaben, aber auch Dilemmata von Organisationen der Zivilgesellschaft besser zu verstehen. Und vielleicht der Aktion Gemeinsinn aus dem Leserkreis heraus den Weg weist.

Im Jahre 2017 wird die Aktion Gemeinsinn 60 Jahre alt. Einer ihrer Gründer, der Bonner Politologe und ehemalige Bundestagsabgeordnete C.C. Schweitzer,  heute Ehrenvorsitzender der Aktion, nennt es deren über Jahre unveränderte Aufgabe, „die Bürgerinnen und Bürger anzuregen, drängende gesellschaftliche Fragen aufzugreifen bzw. zu deren Lösung aktiv beizutragen“. Das Besondere ist allerdings nicht das Ziel der Bemühung, sondern die Art der Anstoßgebung: Genutzt werden die Wege der klassischen Werbung.

Und das funktioniert so: Die in der Organisation Aktiven suchen sich ein Thema, das ihrer Meinung nach durch gemeinsinnige Aktion bewegt werden soll und kann, formulieren ihre Botschaft und ihre Aufforderung dazu (was muss von wem getan werden, damit sich das Gemeinwesen in die richtige Richtung weiterentwickelt?), suchen sich dann professionelle Kommunikatoren, also Werbeagenturen, die pro bono aus diesem Denk-Material überzeugende Slogans und Bilder in der Form von Anzeigen- und Plakatkampagnen erstellen. Die Motive werden, wiederum pro bono, in den klassischen Medien geschaltet. Auf diese Weise entsteht ein Bewusstseinswandel, übrigens im Erfolgsfall, gemessen an Agenturhonoraren und Anzeigenpreisen, außerordentlich preiswert.

 In 55 Jahren wurden rund 50 Kampagnen und über 60 Tagungen überlegt, entwickelt und durchgeführt. Es gibt kaum ein gesellschaftliches Thema, das nicht irgendwann behandelt wurde. Zivilcourage, Integration, Bildung, Patientenrechte, demografischer Wandel, bürgerschaftliches Engagement: Das waren nur einige der Großthemen. Viele Motive dürften sich in das Gedächtnis der Leser eingebrannt haben, der Herr Ohnemichel beispielsweise. In den letzten Jahren bis heute werben eine Väterkampagne von der Agentur Scholz & Friends und eine Kita-Textkampagne „Helft den Jüngsten“ für mehr Familienfreundlichkeit. Die Kampagne „Werden Sie ein Geldverbesserer“ mit der Kölner Agentur trio-group ruft dazu auf, die Konsumentenmacht ökologisch und sozial gescheit einzusetzen. Die Testimonialanzeige „Für mehr Europa – gegen Renationalisierung“ streut nach bester Aktion-Gemeinsinn-Manier eine überparteiliche, aber klare Botschaft unter die Bürgerinnen und Bürger. Zu allen Kampagnen gibt es Abrufmaterial und Vertiefung im Web (www.gemeinsinn.de).
Darüber hinaus hat sich die Aktion Gemeinsinn mit Tagungen, Workshops und Podiumsdiskussionen ergänzend zu den Printkampagnen an die Öffentlichkeit gewandt.

Auftrag erfüllt? Kasseerschöpft?

Es gibt nur wenige Institutionen der Zivilgesellschaft, die nie finanziellen Engpässen ausgesetzt waren. Die Aktion Gemeinsinn hat in ihrer langen Geschichte, mit Ausnahme eines kurzen Zeitabschnittes, auch die Geschäftsstellenarbeit stets ehrenamtlich durchgeführt, ebenso die Spendenakquise. Damit war sichergestellt, dass sie ihre Kampagnenthemen nie unter finanziellen Opportunitätsgründen festlegen musste. Gleichzeitig bedeutet der Verzicht auf Hauptamtlichkeit, dass das sichere finanzielle Ufer nie erreicht werden konnte. Das ist das Dilemma aller Nichtregierungsorganisationen (NGOs): Ohne Hauptamtlichkeit bleiben sie klein und fragil, mit bezahlten Kräften hingegen können sie sich in unerwünschte Abhängigkeiten oder massive Krisen manövrieren. Auch wer auf reine Ehrenamtlichkeit setzt, braucht trotzdem eine mindestens teilfinanzierte Struktur.

Erfolg muss vorfinanziert werden, tritt er aber nicht ein wie erwartet, verschärfen sich die Finanzprobleme. Stiftungen, aber auch zunehmend der Staat wollen zeitlich und inhaltlich limitierte Aktionen, Kritiker sprechen hier von einer „Projektitis-Seuche“. Davon blieb die Aktion Gemeinsinn verschont. Allerdings verwandelt sich ihr Vorzug des breiten thematischen Anspruchs „Gemeinsinn fördern“ in Konkurrenz zu den vielen Ein-Thema-NGOs zum Nachteil, insbesondere dann, wenn mehrere Themen gleichzeitig promoviert werden. Das zeigt sich vor allem bei der Suche nach Unterstützern und Allianzpartnern. Viele potenzielle Partner sind qua Gründungsauftrag auf bestimmte Themen festgelegt, kommen also bei der geschilderten Ausrichtung nur als Partner auf Zeit infrage. Auch wollen Geldgeber zumeist das Thema ihrer Förderung selbst bestimmen, und oft muss der Nachweis erbracht werden, dass man über das Förderthema zwar bereits nachgedacht, aber noch keineswegs gearbeitet hat. Und schließlich ist beim Produkt „Kommunikation“ der Effizienznachweis schwierig, vor allem auch, weil bei Pro-bono-Schaltungen keine Mediaplanung möglich ist. Erkenntnisse der Produktwerbung lassen sich also zwar prinzipiell, aber eben nicht im konkreten Fall übertragen. Das alles erschwert die Suche nach finanziellem Support.

Auch ist, was den Bedarf angeht, das Stichwort „pro bono“ irreführend, denn es suggeriert, dass die Pro-bono-Partner gar kein Geld benötigen. Das ist falsch. Hier muss von Fall zu Fall verhandelt werden. Wer zur Pro-bono-Leistung bereit ist, gibt zwar seine Leistung kostenlos, will aber im Normalfall nicht dazu noch „ex pocket“-Ausgaben tragen. Agenturen beispielsweise sind erfreulicherweise immer wieder bereit, ihr Know-how kostenlos zur Verfügung zu stellen, denn sie erhalten dafür zumeist ein spannendes geistiges Trainingsgelände für Kreative und in den Ansprechpartnern der Aktion Gemeinsinn fordernde Coaches. Das Wissen, das sich Agenturen auf diese Weise eröffnen, kann ihnen bei bezahlten Aufträgen nützen. Die Aktion-Gemeinsinn-Kampagnen können der Reputation der Agentur gut tun, u. a. auch mithilfe von Wettbewerben, die die Branche in großer Zahl kennt. Insoweit ist es ein Geben und Nehmen zwischen den Partnern. Aber was ist mit den Kosten, die bei Kampagnenerstellung darüber hinaus anfallen wie z. B. Bildrechten, Druckkosten etc.? Andere Pro-bono-Partner sind die Verlage der Zeitungen und Zeitschriften und Plakatträger. Was bekommen sie für ihre gute Tat? Und warum sollen sie der Aktion Gemeinsinn diese Möglichkeit geben? Hier kommen wir unvermeidlich an das Thema Strukturwandel der kommerziellen Kommunikation und zu der Frage, ob die Aktion Gemeinsinn nicht inzwischen ihren Auftrag erfüllt hat. Dass Zeitungen und Zeitschriften immer mehr Leser und Anzeigenkunden verloren haben und verlieren, ist weithin bekannt. Als Interessent von Pro-bono-Anzeigen hat die Aktion Gemeinsinn zudem schon lange ihre Alleinstellung verloren.

Es geht also im Kern darum, ob die Aktion Gemeinsinn eine Zukunft hat.

Sie ist nun 56 Jahre alt. Sie hat in dieser Zeit mit ups and downs erfolgreich gearbeitet, zuletzt mit abnehmenden Abdruckerfolgen. Die Finanzierung wurde immer schwieriger. Die Aktion Gemeinsinn trägt einen Teil ihres Finanzbedarfs zwar durch Mitgliederbeiträge, aber das alles reicht nicht wirklich. Der Versuch, sich durch die Gründung einer Unterstützungsstiftung den Grundbedarf zu erwirtschaften, scheiterte. In ihren Gremien ist das Durchschnittsalter gewachsen. Ehrenamtliches Engagement wird später aufgegeben als bezahlte Arbeit und  verglimmende Kontakte zu den aktuellen Entscheidungsträgern vermindern die Andockstationen.

Man kann aus etwas abgehobener Sicht freilich auch das Krisenszenario hinter sich lassen und mit dann angebrachter Feierlichkeit die Situation so beschreiben: Die Aktion Gemeinsinn hat ihren Auftrag, die massenmedialen Möglichkeiten für soziale Zwecke im Zusammenspiel von Gesellschaft, Werbung und Medien einzusetzen und damit gewissermaßen salonfähig zu machen, erfüllt. Die Aktion Gemeinsinn hat über einen langen Zeitraum hinweg bedeutsame und aktuelle Themen auf ihre Weise angepackt. Forderungen wurden in Form von Anzeigen, Plakaten, Broschüren und Tagungen in die Öffentlichkeit getragen. An prominentem Support fehlte es nie; mehrere Bundespräsidenten waren Schirmherren der Aktion. Von Joachim Gauck kam kürzlich ein starker Unterstützungsbrief. Die Aktion ist nicht am Ende, aber sie kann mit gutem Gewissen ihre Tätigkeit beenden. Das wäre kein triumphaler, aber ein stolzer Abgang.

Verhindert würde ein Leidensweg in die pure Wirkungslosigkeit. Denn bei realistischer Einschätzung der Zukunft kommt man nicht um die Feststellung herum, dass das bisherige Grundmuster ihres Agierens inzwischen und zunehmend auf massive Schwierigkeiten stößt. Der immer schmalere Pro-bono-Anzeigenmarkt ist weitgehend ausgetrocknet und unserem Beispiel sind viele NGOs gefolgt, sodass wir in unseren Wirkungsmöglichkeiten in die Zange von notwendig mehr Aufwand bei geringeren Erfolgsaussichten geraten sind. Die Absicht bei Gründung, durch die erfolgreichen Beispiele sozialer Werbung bezahlten Kampagnen den Weg zu ebnen, macht uns nun zu schaffen. Dann nützen uns auch die exzellente Qualität der Themenrecherche und -aufarbeitung und starke Anzeigenmotive nicht wirklich. Die gute Arbeit bleibt, gemessen am Aufwand, zu wirkungsarm.

Deswegen hat der Vorstand Ende 2012 beschlossen, dass die Aktion Gemeinsinn ihrem Auftrag auf dem Gebiet der klassischen Werbung  nicht länger nachkommt. Es werden keine neuen printbezogenen Kampagnen aufgesetzt. Die aktuellen werden beworben, das Begleitmaterial ist weiterhin abrufbar, an der Verbesserung des Webauftritts wird weiterhin gefeilt.

Und was nun?

Der zum gleichen Zeitpunkt Ende 2012 neu gewählte Vorstand hat sich nur für ein Jahr wählen lassen. Er will zwei Fragen im Jahreszeitraum klären: Gibt es jenseits der bis dato geltenden Auftragslage der Aktion Gemeinsinn Perspektiven, die inhaltlich, personell und finanziell die Überlegung einer Fortsetzung in neuem Licht erscheinen lassen? Was soll mit dem hoch angesehenen Markennamen „Aktion Gemeinsinn“ geschehen?

Wir laden zum gemeinsamen Nachdenken ein. Fünf Suchbewegungen lassen sich unterscheiden: instrumentell, zielgruppen-, orts-, inhalts- oder allianzbezogen:

Erstens: Gibt es eine Chance jenseits von Printmedien? Es ist nicht ohne bittere Ironie, dass das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem, das seine Legitimierung aus seinem Gemeinwohlbezug ableitet, im Kleingedruckten Werbung für Gemeinsinn ausschließt. Was jedoch erlaubt ist, ist Wahlwerbung. Die Logik ist verquer. Wenn sich an dieser Situation nichts ändern lässt, bleibt die Frage nach einer Aufgabe innerhalb der digitalen Kommunikation. Darüber ist nachzudenken. Und zu recherchieren. Der erste Blick zeigt: Es gibt eher zu viel als zu wenig Gemeinsinniges im Netz. Eine traditionsreiche Organisation hat in ihren Reihen keine digital natives. Altersgemixte ehrenamtliche Teamarbeit wäre neu zu erproben. Jedoch ohne eine starke visionäre Idee, vergleichbar der Gründungsidee, ist auf diesem Feld nichts zu gewinnen.

Zweitens: Bisher galt, dass alle Zielgruppen gleichermaßen angesprochen wurden. Könnte jedoch die Konzentration auf eine enger zu fassende Gruppe die Suche nach Auftrag und Allianzpartner erleichtern und die Effizienz der Kommunikation nachweisbarer machen? Ein Beispiel: Die Aktion Gemeinsinn kümmert sich um die Absolventen des Sozialen Jahres in all seinen Facetten mit dem Ziel, deren vermutliche Aufgeschlossenheit zu bürgerschaftlichem Engagement zu stärken. Die Aktion Gemeinsinn arbeitet hierbei mit den verschiedenen Trägern zusammen. Wäre das ein Weg?

Drittens: Was heißt „ortsbezogen“? Bisher war die Aktion Gemeinsinn bundesweit tätig. Der Klang des Namens hat zu ortsbezogenen Nachgründungen angeregt, und zwar ohne dass dies von der Aktion Gemeinsinn angeregt worden wäre. Und wenn daraus eine Bewegung würde? Politische und gesellschaftliche Instanzen bemühen sich, den Trend zu Zentralisierung dort umzudrehen, wo er zu Entleerung und Abwertung von Wohnquartieren und Verlusten an sozialem Kapital, das sich aus bürgerschaftlichem Engagement bildet, beiträgt. Differenzierung ist dann problematisch, wenn sie Akteure, die zusammenwirken sollten, auseinandertreibt. Viele bürgerschaftliche Engagements haben sich erfreulicherweise in den letzten Jahren gebildet. Jeder dritte Bürger tut etwas, viele an verschiedenen Stellen, für die Allgemeinheit, ohne dies in Rechnung zu stellen. Woran es aber mangelt, sind lokale Bündnisse. Hat die Marke Aktion Gemeinsinn die Kraft, diese Lücke zu füllen?

Viertens: Was heißt „inhaltsbezogen“? Die Aktion Gemeinsinn fühlte sich bisher allen Themen gleichermaßen zugewandt. Es wurde in den Gremien immer auf einen breiten Mix an Interessen und Fähigkeiten geachtet, sodass allein dadurch eine einseitige Interessenberücksichtigung, welcher Art auch immer, vermieden wurde. Andererseits ist es ein Gebot der Profilierung, nicht in die Beliebigkeit zu rutschen. Der Generalist muss sich gegen den Vorwurf wappnen, von allem gleichmäßig nichts zu verstehen. Die Konkurrenz der Nichtregierungsorganisationen ist dagegen teilweise äußerst spitz positioniert und damit merkbarer. Sollte die Aktion Gemeinsinn teilweise diesen Weg einschlagen, zum Beispiel durch eine Themenfestlegung für einen mittelfristigen Zeitraum? Beispiel: Die Aktion Gemeinsinn legt sich für fünf Jahre auf das Thema Integration ausländischer Mitbürger fest und geht als Kommunikationspartner mit einer Organisation zusammen, die in diesem Gebiet praktisch arbeitet. Wäre dies ein Weg?

Und schließlich, fünftens: Schon erstes Ventilieren hat gezeigt: Der Name Aktion Gemeinsinn hat Strahlkraft. Er ist allianzfähig, lässt potenzielle Partner aufhorchen. Die Aktion löst sich als eingetragener Verein mit Gremien und Satzung auf und überträgt den Namen an eine Institution, die damit arbeiten möchte. So geht der Name nicht unter. Mindestens das.

Aus allem folgt

Keine Institution, auch keine NGO, hat das ewige Leben in den Genen. Es muss auch kein Verlust sein, wenn eine Organisation wie die Aktion Gemeinsinn als Akteur der Zivilgesellschaft verschwindet. Manchmal ist es einfacher, eine neue Organisation zu gründen, als eine traditionelle umzugründen. Andererseits ist der Reputationswert eingeführter Namen auch in der Zivilgesellschaft durchaus wertvoll. Der Goodwill von Ehrenamtlichen ist klingende Münze, die man nicht leichtfertig aufgeben sollte. Das ist übrigens auch der Grund dafür, dass die Aktion Gemeinsinn in Bonn ihr neues Zuhause sucht. In Berlin hat sie bereits eine Auffangadresse. Entschieden ist damit noch nichts, aber die öffentliche Diskussion über die Zukunft der Aktion Gemeinsinn ist eröffnet. Auch dies ist für eine so traditionsreiche Organisation ein durchaus aufregender Lernschritt.           

Artikel teilen:
Autor/in

Henning von Vieregge

ist u. a. Buch- und Hörbuchautor, Blogger (www.vonvieregge.de), Lehrbeauftragter an der Universität Mainz sowie Verbändecoach. Von Vieregge war viele Jahre Hauptgeschäftsführer des Gesamtverbandes der Kommunikationsagenturen (GWA).

Das könnte Sie auch interessieren: