Verbändereport AUSGABE 6 / 2010

Auch Verbände werden älter

Plädoyer für eine vorsichtige Enthomogenisierung

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Wir sind mittendrin im demografischen Wandel. Wir werden so alt wie noch nie und der Anteil der Älteren steigt wie noch nie. Menschheitsgeschichtlich ist die Lage also beispiellos. Beispiellos chancenreich oder beispiellos chancenlos? In den „Empfehlungen der Akademiegruppe Altern in Deutschland“ heißt es: „Eine greisenhafte Erstarrung unserer Gesellschaft zeichnet sich ebenso wenig ab wie der oft beschworene Krieg der Generationen. Allerdings besteht Handlungsbedarf. Der demografische Wandel erhöht den ohnehin vorhandenen Veränderungsdruck auf die Einzelnen und die Kultur, auf Gesellschaft und Politik.“ (Kocka, Staudinger 2009:23)

Diese Position mache ich mir zu Eigen. Aus ihr folgt, dass es notwendig ist, den besonderen demografisch bedingten Veränderungsdruck in allen gesellschaftlichen Subsystemen zu bestimmen und Handlungsalternativen aufzuzeigen.

Bezogen auf Arbeit konstatierte Sylvia Kade schon vor einigen Jahren in ihrer empirischen Untersuchung „Alternde Institutionen – Wissenstransfer im Generationswechsel“: „Arbeit wird qualifizierter, weiblicher, diskontinuierlicher und älter.“ (Kade 2004:22) Sie sieht keine generelle Überalterung der Betriebe, sondern eine Polarisierung in alterszentrierte und jugendzentrierte Betriebe, während altersgemischte in der Minderheit seien. (ebd.)

Wie sieht es mit dem Veränderungsdruck bei den Betrieben speziell unter demografischen Vorzeichen aus? Verbände sind ein Sonderfall. Sie sind Teil des Subsystems Politik, arbeiten aber für das Subsystem Wirtschaft. Sie verbinden beide Bereiche. Sind die Belegschaften, in Kades Dreiteilung, alterszentriert, jugendzentriert oder altersgemischt? Welchem Leitbild wird bei der Einstellungspolitik gefolgt? Vereinfacht gesprochen geht es um Homogenität oder Heterogenität. Man kann auf strategischem oder zufälligem Weg einem der beiden Pfade folgen. Alter ist aber nur eine Determinante, wenn auch eine mit steigender Bedeutung.

Steuerbar ist der Grad von Homogenität oder Heterogenität an der Nichtstreuung oder Streuung nach Alter, Herkunft, Bildungsabschluss, Berufsspezialisierung und Werteübereinstimmung. Der Grad von Homogenität oder Heterogenität in einer Belegschaft lässt sich an der Übereinstimmung oder Unterschiedlichkeit in Sprache und Kleidung, an der Kontaktintensität im informellen Bereich und am Grad des Miteinanders in Freizeit und Freundschaft ablesen.

Wie eine GWA-Umfrage unter Mitgliedern kürzlich zutage förderte (GWA-HRM-Studie 2009, GWA-Presseerklärung vom 12. Januar 2010), schwitzen die Werbe- und Kommunikationsagenturen die Altersthematik aus und sind somit mit ihren Belegschaften (Durchschnittsalter 34) homogen jugendzentriert. Dazu passt, dass Agenturmitarbeiter überwiegend unverheiratet (68 Prozent) und kinderlos (76 Prozent) sind. Die lange für Agenturen typische Heterogenität nach Bildungsgrad – man konnte in dieser Branche mit jedem Bildungsgrad ein- und aufsteigen und es gab immer wieder Seiteneinsteiger mit breit gefächerten Bildungsabschlüssen – nimmt mit zunehmender Akademisierung immer mehr ab.

Eine Dualität an Berufsspezialisierung ist allerdings durch das Produkt „Werbung“ erzwungen. Man braucht den Kreativen und den Berater, Letzterer zumeist Ökonom, und beide müssen eng, am besten zwillingshaft, zusammenarbeiten. Das ist ein Bruch in der Homogenität; die Teambildung erfordert besondere Anstrengung. Die Homogenität bei den anderen Faktoren hilft. Man kann kritisch fragen, ob die beschriebene Zusammensetzung der Agenturteams ausreichend heterogen ist, um mit der gestiegenen und weiter steigenden Komplexität der Anforderungen (Digitalisierung, Globalisierung, Alterung) im Einklang zu bleiben. Ich meine, dass die Agenturen insbesondere den Zusatzschub durch das Altern der Gesellschaft bisher weder konzeptionell noch in den personellen Konsequenzen ausreichend berücksichtigt haben. Dass einzelne Agenturen, die sich zum Beispiel in der Altersheterogenität unterscheiden, sich in ihrer Selbstvermarktung noch nicht unterscheidbar gemacht haben, verwundert.

Demografielotsen

Müssen sich die Unternehmen in Deutschland vorhalten lassen, mit altershomogener Ausrichtung, sei es als junge, sei es als alte Belegschaft, einen Fehler zu machen? Es wird zu zeigen sein, dass eine solche pauschale Feststellung zu schlicht ist. Richtig aber ist, dass Personalverantwortliche analysieren sollten, wie homogen oder heterogen die Belegschaft aktuell zusammengesetzt ist. Das gilt insbesondere für die Determinante Alterszusammensetzung. Ein Verband, in dem die Mitarbeiter nach fünf Jahren möglichst wechseln sollen, so Bitkom-Hauptgeschäftsführer Dr. Bernhard Rohleder beim 12. Verbändekongress in seiner Verbandspräsentation, dürfte eine seltene Ausnahme sein. Ob diese Vorgabe überhaupt umgesetzt werden kann, ist zudem offen. Aber kennt man in jedem Verband die Zusammensetzung der Belegschaft heute und in zehn oder zwanzig Jahren, wenn man in die Entwicklung nicht steuernd eingreift? Genau um den Anstoß für solche Analysen bemühen sich agile Tarifparteien.

So gibt es einen Tarifvertrag in der Chemieindustrie aus 2008, der die Betriebsparteien zur Bestandsaufnahme, begleitet durch Demografielotsen, und zur Weiterbildung animiert. In der Produktion gibt es Sektoren, in denen das Arbeiten in höherem Alter aufgrund der Belastungen zum jetzigen Zeitpunkt gänzlich unmöglich scheint. Beim 12. Verbändekongress stellte der Sieger des diesjährigen DGVM Innovation Awards, HessenChemie, eine solche Aktivität als Verbandsservice vor.

Was den Faktor Alter angeht, so lässt sich durch Befragungen des Mainzer Marktforschungsinstituts Forum eine Aussage empirisch erhärten, die dem Betriebspraktiker ohnehin plausibel erscheint: Gemeinsames Altwerden einer Belegschaft belastet Unternehmensklima und Unternehmenserfolg. Wenn nicht gegengesteuert wird, wächst bei den 50- bis 60-Jährigen die Anzahl der Dienst-nach-Vorschrift-Schieber und inneren Aussteiger. Wer also heute eine weitgehend homogene Belegschaft in den 40ern hat, sollte sich überlegen, was er oder sie tun sollte, damit daraus nicht in zehn oder 15 Jahren ein Grantelhaufen mit deutlich schlechteren Ergebnissen wird.

Schwieriger ist die Frage nach der grundsätzlich richtigen Zusammensetzung eines Teams. Ich behaupte – und kann auf Erfahrung und Anschauung verweisen, nicht auf gesicherte Empirie –, dass in den Verbänden der Typus homogen/distanziert vorherrscht. Distanz lässt sich auch an der vorherrschenden Aufteilung der Büros ablesen: jeder in sein Kabäuschen, lange Flure, viele Abteilungen sind vorherrschend. Ist diese Mischung aus Homogenität und Distanz nun falsch?

Die Literatur lässt uns zu dieser Frage nicht völlig im Stich. Selbst wenn man von allen denkbaren Homogenitäts-/Heterogenitätsdeterminanten nur das Alter im Forscherblick betrachtet, bleibt die Forschung komplex und geraten die Aussagen mitunter an den Rand der Banalität. So beispielsweise, wenn in einem der Beiträge festgestellt wird, dass die Wiedereinstellung älterer Mitarbeiter selten gelingt und daran der Rat geknüpft wird, als älterer Arbeitnehmer möglichst sich nicht kündigen zu lassen. Hingewiesen wird darauf, „dass die Betriebsproduktivität nicht einfach nur die Summe der Produktivitäten eines jeden einzelnen Individuums darstellt; sie kann mehr oder auch weniger sein“. (Veen/Backes-Gellner 2009:33)

Wer meint, der Multikultispruch „Je heterogener, desto scheener“ ließe sich durch Forschung belegen, muss enttäuscht werden. „Mit zunehmender Heterogenität steigen die Nachteile und Probleme überproportional an. Die Kostenkurve steigt steiler mit zunehmender Heterogenität.“ (ebd:33). Es handelt sich vor allem um Kommunikationskosten und deren Folgen. (ebd:35)

Demgegenüber stehen positive Komplementaritäts- und Kompositionseffekte. (ebd:37) Darunter ist Folgendes zu verstehen. Wenn durch Zusammenarbeit eines Teams mehr herauskommt als durch die Addition von Einzelergebnissen, spricht man von Komplementaritätseffekten. Von Kompositionseffekten spricht man, wenn durch eine bestimmte Belegschaftszusammensetzung unterschiedliche betriebliche Aufgaben von Mitarbeitern mit jeweils unterschiedlichen und genau passenden Kompetenzen bearbeitet werden können. (ebd. S. 38)

Wann hat Heterogenität ­positive Effekte?

Höhere Heterogenität zahlt sich aus, so die Forscher, wenn das Unternehmen schwerpunktmäßig mit innovativen Kreativaufgaben mit hohem Problemlösungsanteil und geringer Standardisierung zu tun hat. (ebd. 41)

Zusammenfassend kommen Veen/Backes-Gellner zum Ergebnis, dass steigende Altersheterogenität für sich genommen negative Produktivitätseffekte in der Größenordnung drei bis fünf Prozent bringt, andererseits aber zunehmende Heterogenität auf kreativen und innovativen Arbeitsplätzen einen positiven Zusatzeffekt in der Größenordnung 3,5 bis 6,5 Prozent bringt, also die negativen Effekte überkompensiert werden. (ebd:56)

Drei Hinweise für Verbands­handeln

Auch wenn diese Erörterungen uns keinen Spickzettel für die Frage der besten Zusammenstellung von Verbandsteams liefern können, so lassen sich daraus dennoch drei Hinweise für Verbandshandeln ableiten.

Erstens: Niemand kann das Thema zu seinem Vorteil ignorieren. Eine Belegschaft, die homogen altert, kommt in Probleme. „Die Produktivität Älterer schwindet, wenn die Generation unter sich bleibt.“ (Kade 2004:14) Wer das nicht will, muss rechtzeitig handeln.

Zweitens: Für viele Verbände dürfte der Hinweis der Forschung auf die nicht unerheblichen Kommunikationsnotwendigkeiten bei steigender Heterogenität schon jetzt mit Blick auf das ja sehr spezielle, delikate und gleichermaßen chancen- wie risikobehaftete Zusammenwirken von Ehren- und Hauptamt interessant sein.

Drittens: Verbände gelten als gewissermaßen traditionell schwach in Team- und Projektarbeit und als innovationsarm. Könnte mehr Heterogenität, bezogen auf alle Faktoren, den Verband in Klima, Arbeitsergebnis und Wahrnehmung positiv verändern?

Zu den beiden letzten Punkten einige Anmerkungen. Wenn Haupt- und Ehrenamt zusammen alt werden, ergeben sich die gleichen Fragen und Belastungen wie bei homogen alternder Belegschaft. Wenn die beiden Leitfiguren eines Verbandes, also Präsident oder Geschäftsführer, verschiedenen Generationen angehören, ist dies selten konfliktlos. Die Schwierigkeit von Geschäftsführern, dem Ehrenamt nicht besserwisserisch gegenüberzutreten, vergrößert sich bei eigener wachsender Erfahrung. Der Geschäftsführer soll den Präsidenten vor Fehlern bewahren, darf es ihm aber nicht sagen. Das kann sich zum unlösbaren Problem auswachsen.

Zwischen dem Professionalisierungsgrad von Ehren- und Hauptamt klafft eine Lücke. Dies zeigt sich daran, dass Ehrenamtsarbeit selten in gleicher Aufgabenklärung und -abgrenzung geschieht wie die hauptamtliche und dass Verbandsvorstände zwischen einem Selbstverständnis als Aufsichtsrat und einem als Obergeschäftsführung chargieren können und Hauptamt zumeist kein eigenes Organ ist, sodass der Titel „Geschäftsführer“ mehr verspricht als hält. Eine zukunftsfähige Ausrichtung der Verbände sieht anders aus.

Langweiligkeit, Konzeptions­losigkeit und Beißhemmung

Wenn man die Ergebnisse des DGVM Mitgliederfokus (Dank an Stefan Eser von der Forum! Marktforschung) auswertet, könnte man den Schluss ziehen, dass Mitglieder ihrem Verband einen starken Innovationskurs überhaupt nicht honorieren würden. Den Verbänden wird in diesen und anderen Umfragen stets eine Riesenseriosität zugestanden, deren Kehrseite mit Begriffen wie Langweiligkeit, Konzeptionslosigkeit und Beißhemmung („zahnloser Tiger“) beschrieben wird.

Es ist dabei unerheblich, ob das Führungspersonal eines Verbandes diese Zuschreibungen als gerecht oder ungerecht, richtig oder falsch einschätzt; sie sind als wirksame Realität tief verankerte Vorstellungen in den Köpfen der Beurteiler. Das Verbändebild ist das pure Gegenteil von dem, das über die etwas anderen Interessengruppierungen, die NGOs, vorherrscht. Auch darin zeigt sich, dass die Perzeption die Wirklichkeit dominiert. Denn Verbände sind NGOs. Was wir im gängigen Sprachgebrauch als eine NGO bezeichnen, hängt zuallermeist anders als die Verbände am staatlichen Zuschusstropf und vertritt die Interessen kampagnenfest und zumeist nach außen hin damit weniger kompromissbereit. Allein diese Unterschiede sichern NGOs, verglichen mit Verbänden, paradoxerweise eine bessere Reputation und ihren Vertretern einen besseren Resonanzboden im öffentlichen Bereich.

Weil man Verbänden eo ipso als überragendes Merkmal Seriosität zutraut mit den genannten Facetten, wird für die Abweichung Innovation keine Belohnung in Aussicht gestellt. Ein strammer Veränderungskurs in Richtung „Innovation“ birgt durchaus erhebliche Risiken. Er sollte nicht einfach vom Zaun gebrochen werden. Erst wenn durch eine Umpositionierung die Marke Verband um Werte wie Internationalität, Modernität, Veränderungsbereitschaft, Offenheit etc. aufgeladen wird, lassen sich die Konsequenzen auf allen Feldern verbandlichen Handelns ziehen. Und selbst dann empfiehlt es sich, nicht den neuen Anspruch der -neuen Wirklichkeit vorwegzuschicken. Es ist empfehlenswert, erst die Weichen zu stellen und erst dann mit dem neuen Kurs zu werben. Nur langes abweichendes Handeln lässt das tief eingebrannte Bild nach und nach verblassen und dann verändern.

Wer sich zu einem solchen Weg entscheidet, der die Verbände näher an das Leitbild der NGOs heranführt, der kann auch im Verband auf Wachstum setzen. Und damit Bindung schaffen. Verbände können nicht nur von NGOs lernen, sondern auch von freien, aber auch einigen gebundenen Kirchengemeinden (vergl. z. B. www.andreasgemeinde.de). Es geht um Wachstum, das von einer aktivierten Mitgliedschaft getragen wird. Voraussetzung ist weitgehender Kontrollverzicht der Führung. Das ist insbesondere für die Hauptamtlichen, ob nun in der verfassten Kirche oder in den Verbänden, eine Zumutung, die angenommen werden muss. Bei einer breit und tief verankerten Vi-sion in der Mitglied- und Anhängerschaft ist ein solcher Kontrollverzicht der Führung aber möglich, ohne dass die dann erhebliche Zunahme an Heterogenität bestandsgefährdendes Ausmaß erlangt. Gemessen an bis dahin geltenden Maßstäben sollte Wachstum dann auch als Wildwachstum wünschenswert sein. Dieses vollzieht sich nicht in Wahlgremien, sondern in Projekten. Die Profis, es können auch aufgaben- und erfolgsbezogen honorierte Projektleiter sein, verstehen ihre Aufgabe in der Aktivierung von Mitgliederengagement auf allen Ebenen, nicht in deren Anleitung. Sie demotivieren nicht, sie motivieren. Der Vorstand verzichtet auf Berufungsrechte und Kontrolle, er wird damit nicht zum Flaschenhals und Bremser der Entwicklung. Die Öffentlichkeitsarbeit einschließlich Webarbeit erfolgt dezentral.

In einem solchen evolutionären Konzept von Verbandsarbeit könnte der Verband durch Enthomogenisierung eine veränderte Wahrnehmung bei Mitgliedern und Einflussgruppen erfahren. Es wäre ein zudem reizvolles und aussichtsreiches Unterfangen, auf diesem Weg auch die bislang weitgehend ungenutzten Reserven ausscheidender Mitarbeiter aus Mitgliedsunternehmen in und für die Branche zu binden und zu nutzen, nicht zuletzt als Projektleiter.

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Autor/in

Henning von Vieregge

ist u. a. Buch- und Hörbuchautor, Blogger (www.vonvieregge.de), Lehrbeauftragter an der Universität Mainz sowie Verbändecoach. Von Vieregge war viele Jahre Hauptgeschäftsführer des Gesamtverbandes der Kommunikationsagenturen (GWA).

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