Verbändereport AUSGABE 5 / 2003

Erfolgs- und Misserfolgskriterien für die europäische Interessenvertretung

Die Studie des Trade Association Forums unter dem Titel „Die Effizienz von Wirtschaftsverbänden auf europäischer Ebene“

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Die Erfolgsbewertung von Verbänden ist selbst für erfahrene Verbandspragmatiker oft ein Buch mit sieben Siegeln. Daher dürfte eine Studie des Trade Association Forums unter dem Titel „Die Effizienz von Wirtschaftsverbänden auf europäischer Ebene“ (Trade Association Effectivness at the European Level) aller Beachtung geneigter Leser wert sein.

Die Studie wurde von der Boleat Consulting in Zusammenarbeit mit zahlreichen Repräsentanten der britischen Wirtschaftsverbände und Firmen erarbeitet und Mitte vergangenen Jahres vorgestellt. Sie befasst sich im Wesentlichen mit der Effizienz der europäischen Interessenvertretung aus der Sicht britischer Verbände; viele Einsichten lassen sich aber ohne weiteres auch auf Deutschland übertragen. Der folgende Beitrag verbindet wesentliche Befunde der Studie mit eigenen Beobachtungen und Überlegungen des Verfassers.

Charakteristika ineffizienter europäischer Verbände
Die Studie gelangt zu 19 Schlüsselfaktoren, die für ineffiziente europäische Verbände typisch sind. Diese Faktoren sind im nachfolgenden Kasten zusammengestellt.

Ineffizienzkriterien europäischer Verbände:

  1. Sitz der Geschäftsstelle außerhalb von Brüssel
  2. Langjähriger Geschäftsführer, der den Verband über Jahrzehnte in der gleichen Weise führt
  3. Mitarbeiter, die allein wegen ihrer technischen und sprachlichen Fähigkeiten als wertvoll gelten ohne Rücksicht auf ihre analytischen oder Interessenvertretungs-Fähigkeiten
  4. Simultanübersetzungen während der Sitzungen der Verbandsgremien
  5. Umfangreiche Jahresberichte mit veralteten statistischen Daten, die in drei Sprachen vorgelegt werden
  6. ürokratische Strukturen mit Ausschüssen, deren Sitzungstermine auf Monate im voraus festgelegt werden, und die ausschließlich in Richtung Vorstand berichten
  7. Vorstandssitzungen und Jahresversammlungen werden durch mündliche Berichte gekennzeichnet, die vom Geschäftsführer und dem Ausschussvorsitzenden erstattet werden
  8. Sitzungsorte, die nicht durch Direktflüge von den nationalen Hauptstädten erreichbar sind
  9. Langjährige Vertreter der nationalen Delegationen, die auf nationaler Ebene keine Führungspositionen mehr inne haben
  10. Präsidenten, die keine Führungsaufgaben in der Branche mehr wahrnehmen
  11. Schlichte Fortschreibung der Budgets und Beiträge
  12. Eifersüchtiger Widerstand gegen nationale Wirtschaftsverbände, die in Brüssel Interessen vertreten
  13. Keine zeitnahe Kommunikation mit den Mitgliedern, in dem beispielsweise Quartalsbulletins benutzt werden oder Kommissionsdokumente ohne notwendige Erläuterungen weitergereicht werden
  14. Kein klarer Aufgabenkatalog und kein Strategieplan
  15. Kultur der Geheimniskrämerei
  16. Der Generalsekretär ist das einzige Mitglied des Generalsekretariats, das nach außen hin und gegenüber den Mitgliedern in Erscheinung tritt
  17. Eine miserable Website
  18. Abneigung, sich mit Parlamentariern des EP, Großunternehmen des Sektors sowie Verbraucher- und anderen Interessengruppen auseinanderzusetzen
  19. Fehlendes Interesse gegenüber den Beitrittsstaaten

(aus: Trade Associations Effectiveness at the European Level)

Typische Fehler europäischer Branchenverbände
Doch es sind nicht nur die oben aufgeführten strukturellen Defizite, die zur Ineffizienz führen. Hinzu kommen prozedurale Mängel. So einigt man sich in EU-Verbänden oft auf den kleinsten gemeinsamen Nenner – eine ziemlich wertlose Taktik, vor allem dann, wenn die EU-Verbände von nationalen Verbänden überholt werden, die engagiert eine eigenständige Interessenpolitik bei den europäischen Institutionen betreiben. Dann können EU-Verbände nur zweiter Sieger bleiben.

Helfen könnte hier die explizit formulierte Erkenntnis, wo die unterschiedlichen Auffassungen liegen und weshalb sie bestehen. Stattdessen wird noch zu oft nach dem Rezept der ‚Konsenssoße’ (Hans Olaf Henkel) gekocht. Wenn aber bereits europäische Branchenverbände Schwierigkeiten haben, zu einer konzertierten europäischen Auffassung zu gelangen, wie soll dies erst dann der Kommission, dem Rat und Parlament gelingen, die noch allen möglichen anderen Einflüsterungen unterliegen?

„Es wird auf EU-Ebene noch zu oft nach dem Rezept
der ‚Konsenssoße’ gekocht
.“

Aber selbst wenn eine innereuropäische Verbandsverständigung gelingt, ist dies zunehmend zu kurz gegriffen, weil internationale Rücksichtnahmen den politischen Entscheidungsprozess beeinflussen. Als Stichwort seien hier nur kurz die Verpflichtungen erwähnt, die gegenüber der WTO eingegangen worden sind.

"Global thinking“ ist für viele europäische Verbände
noch ein Fremdwort, für einige ein Lippenbekenntnis
und nur für wenige überzeugende Praxis.

Für den Misserfolg europäischer Wirtschaftsverbände entscheidet oft auch der fehlerhafte Umgang mit den verbandliche ‚key accounts’. Darunter sind die absoluten Großunternehmen der Branche zu verstehen. Diese betreiben oft eine rigorose Interessenvertretung außerhalb der Verbände, zumal sie über exzellente Verbindungen zum politischen Führungspersonal der EU verfügen. Verbände müssen daher alles daran setzen, entweder diese „key accounts“ stärker einbinden oder sich konsequenterweise als ‚mittelständisches Gegengewicht’ zu positionieren. Eine unreflektierte Schaukelpolitik zwischen beiden Extrema führte zur Verbandserosion.

Erfolgskriterien europäischer Branchenverbände
Die Studie belässt es indes nicht nur bei der Identifizierung struktureller und prozeduraler Schwächen europäischer Verbände, sondern ermittelt anhand von Praxisbeispielen im Sinne des „bench markings“ auch die Erfolgskriterien.

So agiert die European Vending Association mit einem Jahresbudget von 550.000 Euro, das zu 90 Prozent von den Direktmitgliedern und nur zu 10 Prozent von den nationalen Verbänden aufgebracht wird, äußerst erfolgreich auf der europäischen Ebene.

Was sind die Charakteristika dieser Organisation?

  • Ein kleiner Vorstand aus sieben Personen, die alle Praktiker sind, trifft sich fünf bis sechs Mal pro Jahr in Brüssel. Lediglich eine Sitzung wird jeweils in Verbindung mit einer nationalen Jahrestagung verbunden.
  • Eine Geschäftsführerkonferenz, die aus den Geschäftsführern der nationalen Verbände besteht.
  • Dominanz von ad-hoc-Ausschüssen von Praktikern, die für bestimmte Projekte gebildet werden.
  • Ein Generalsekretariat von vier Mitarbeitern, die nicht wegen ihrer technischen Kenntnisse, sondern wegen ihrer kommunikativen Fähigkeiten ausgewählt worden sind.
  • Alle Sitzungen finden in Englisch statt; alle Dokumente werden nur in Englisch verfasst. Lediglich der Jahresbericht wird auch in französischer, deutscher und italienischer Version vorgelegt.
  • Kleiner Kreis von Ehrenamtlichen und ein Generalsekretär, der die Befugnis hat, den Verband auch tatsächlich zu führen.
  • Regelmäßige Fortbildung der Hauptamtlichen und ständige Kontakte der Hauptamtlichen mit den Mitgliedsfirmen.
  • Firmenvertreter bestimmen das Geschehen in den Ausschüssen und vertreten den Verband in anderen Organisationen mit Ausnahme derjenigen Angelegenheiten, die als politisch sensibel betrachtet werden.
  • Die Fortbildung der Hauptamtlichen findet im Wesentlichen in den Mitgliedsunternehmen statt.
  • Alle Hauptamtlichen besuchen die wichtigen Branchenmessen, um dort ihre Kontakte zu den Mitgliedsunternehmen zu vertiefen.
  • Die Sitzungen werden sorgfältig vorbereitet mit der Zielsetzung, dass die Teilnehmer hierdurch Vorteile erlangen.
  • Es werden regelmäßige Kontakte zu Parlamentariern des Europäischen Parlaments unterhalten, wobei der Generalsekretär regelmäßig durch Praktiker aus den Firmen begleitet wird.

Was tun?

  • Verbände ohne explizite Zielvorgaben, Strategien und Ressourcen („Durchwurstel-Verbände“) werden andere Verbände den Rang ablaufen.
  • Alle Beteiligten brauchen ein vertieftes Verständnis für die europäischen Abläufe und Regeln; das (Herrschafts-) Wissen der Hauptamtlichen ist nicht ausreichend.
  • „Single issue coalitions“ werden immer bedeutsamer und entscheiden über Erfolg und Misserfolg.
  • Einsprachigkeit (Englisch) beschleunigt und erleichtert das europäische Geschäft.

Erfolgsmessung anhand des Outputs
Die Studie unterstreicht zu Recht, dass die direkte Erfolgsmessung von EU-Interessenverbänden außerordentlich schwierig ist, weil hierzu bestimmt werden müsste, inwieweit die EU-Politik zugunsten der Mitglieder beeinflusst worden ist (‚output’). Ein brauchbarer Indikator kann jedoch der Zugang des Verbandes zu den EU-Entscheidern, insbesondere den Generaldirektoren und Direktoren der Kommission und den EP-Parlamentariern sein. „Wenn Verbände keinen direkten Zugang haben, dann deshalb, weil man annimmt, dass sie wenig zu bieten haben.“

Leichter lässt sich dagegen der verbandliche ‚input’ messen.

Erfolgsmessung anhand von Input-Faktoren
Die Boleat-Studie hält die folgenden Fragen für geeignet, eine Effizienzbeurteilung von EU-Verbänden durchzuführen.

Marktstellung

  • Verfügt der Verband über eine bedeutende Stellung auf dem betreffenden Marktsektor?
  • Besteht eine ausreichende Interessenhomogenität zwischen den Mitgliedern?
  • Überlappt sich die Zuständigkeit des Verbandes mit der anderer Verbände?
  • Falls ja: Bieten sich Fusionen oder sonstige Kooperationen an?

Mitgliedschaft

  • Verfügt der Verband über eine repräsentative Anzahl von Mitgliedern in den EU-Staaten und den Beitrittsländern?
  • Sind Großunternehmen ausreichend in die Verbandsarbeit eingebunden (um unnötiges Firmenlobbying zu vermeiden)?

Führungsstrukturen und –prozesse

  • Bestehen die Führungsgremien aus Persönlichkeiten, die höchste Führungsverantwortung in den Unternehmen haben?
  • Ist der Präsident Chef eines bedeutenden Unternehmens?
  • Sind Praktiker, die Hauptgeschäftsführer der nationalen Verbände und Vertreter der Großunternehmen in den Entscheidungsprozess eingebunden?
  • Können schnelle Entscheidungen getroffen werden?
    Gibt es Verfahrensregeln, die schnelle Entscheidungen begünstigen?

Hauptamtliche

  • Ist der Generalsekretär geeignet (Überzeugungsfähigkeit, analytisches Denken, ‚Networking’)?
  • Verfügen die Verbandsmitarbeiter über die nötigen persönlichen und fachlichen Fähigkeiten?

Strategie

  • Verfügt der Verband über eine explizite und allgemein akzeptierte Zielsetzung und Strategie?
  • Wird diese in regelmäßigen Abständen überprüft?

Policy Making

  • Verfügt der Verband über Verfahren, die eine schnelle Einbindung von Praktikern und eine schnelle Beschaffung von notwenigen Informationen erlauben?
  • Ist der Verband in der Lage, konkrete Vorhaben in den größeren politischen Kontext einzuordnen?
  • Arbeitet der Verband systematisch mit anderen Organisationen gleicher Interessenlage zusammen?

Interessenvertretung

  • Liefert der Verband den politischen Entscheidern die Informationen und Beweise, die benötigt werden?
  • Arbeitet der EU-Verband eng mit nationalen Verbänden zusammen, um seinen Einfluss beim Ministerrat und im EP geltend zu machen?
  • Präsentiert der Verband die unterschiedlichen Mitgliedermeinungen zu Fragen, bei denen keine Einigkeit erzielt werden konnte?

Informationsbeschaffung

  • Ist der Verband stets über alle Brüssler Entwicklungen auf dem Laufenden?
  • Verfügt der Verband hierzu über die nötigen Kontakte Kommission, MdEP, andere Verbände)?
  • Kann der Verband das regelmäßige Monitoring der Presse und der relevanten Websites bieten?

Kommunikation

  • Werden die nationalen Verbände gut informiert?
    Werden Protokolle, Stellungnahmen und ähnliche Papiere zeitnah versandt?
  • Wird der Versand von EU-Dokumenten und ähnlichen Papieren mit Erläuterungen versehen?
  • Werden Rückäußerungen rechtszeitig an die Mitglieder weitergeben?
  • Verfügt der EU-Verband über eine erstklassige Website?

Ressourcen und Kosten

  • Verfügt der Verband über die zur ordnungsgemäßen Aufgabenerfüllung notwenigen Ressourcen?
  • Nutzt der Verband weitere Möglichkeiten der Selbstfinanzierung (Veranstaltungen, Publikationen, Direktmitglieder)?

Transparenz

  • Verstehen alle Mitglieder und sonstige Betroffene, wie der Verband funktioniert?
  • Ist Außenstehenden – insbesondere den politischen Entscheidern – klar, was und wen der Verband repräsentiert?
  • Ist der Verband allen Interessierten zugänglich? (Praktisch bedeutet dies eine auffindbare Website (Eintrag in Suchmaschinen, Conecs Datenbank der EU-Kommission, www.european-associations.com etc.)

Verbandssitz

  • Ist der Verbandsitz Brüssel?
  • Falls nicht; Gibt es hierfür überzeugende Gründe?

Soweit die Checkliste zur Effizienzbeurteilung europäischer Verbände. Selbstverständlich kann dies nur eine Anregung sein, die je nach Einzelfall abzuändern oder zu ergänzen ist.

 

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