Verbändereport AUSGABE 1 / 2021

Interessenvertretung im europäischen Mehr-Ebenen-System: Trends und Probleme (Teil II)

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Verteilte Kompetenzen, überlappende Zuständigkeiten und grenzüberschreitende Probleme stellen die professionelle Interessenvertretung vor neue und anspruchsvollere Aufgaben. Welche Logik das europäische Mehr-Ebenen-Lobbying beherrscht und welche Konsequenzen sich daraus ableiten lassen, untersucht der Passauer Politikwissenschaftler und Mitglied des Wissenschaftlichen DGVM-Kuratoriums Dr. Martin Sebaldt. Verbändereport setzt den in Heft 8/2001 begonnenen Beitrag von Sebaldt in diesem Heft fort.

I.    Einführung

 

II.   Interessenvertretung jenseits des Nationalstaats:

      Die inhaltlichen und strukturellen Rahmenbedingungen

      1. Die inhaltliche Dimension: Globalisierung von Interessen und ihre Ursachen

      2. Die strukturell-prozessuale Dimension: Politik als Mehrebenenspiel

 

III. Interessenvertretung im europäischen Mehrebenensystem:

      Logik und Konsequenzen

      1. Die Architektur der EU seit dem Maastrichter Vertrag

      2. Das Feld der Gemeinschaftspolitiken                      

 

     (in VR 8/2001 erschienen)

 

      3. Das Spektrum europäischer Interessenorganisationen:
    ein quantifizierender Überblick

      4. Interessenvertretung im europäischen Mehrebenensystem: Allgemeine Charakteristika

      5. Politikfeldspezifische Unterschiede

 

IV. Fazit

 

 

3.        Das Spektrum europäischer Interessen-organisationen: ein quantifizierender Überblick
Über die Jahrzehnte hinweg hat dies zu einem kontinuierlichen Ausbau des Systems europäischer Verbände geführt, das nunmehr die jeweiligen nationalen Interessengruppenlandschaften zu überwölben begann und zugleich systematisch mit ihnen vernetzt wurde: Bevölkerten Mitte der fünfziger Jahre noch weniger als 100 Verbände die europäische Szenerie, so waren es vierzig Jahre später an der "Lobbyliste" der EU-Kommission des Jahres 1995 gemessen bereits nicht weniger als 632!

 

Tabelle 2: Die Entwicklung der europäischen Verbandslandschaft (nach Gründungsdaten der 1995 bei der Kommission registrierten Verbände)

 

 

Zeitraum

 

Entwicklung der EU

 

Zahl der Verbände

(Ende Zeitraum)

 

 

Beispiel Neugründung

 

bis 1955

EGKS 1951

95

Verbindungsausschuss der europäischen metallverarbeitenden Industrien (* 1947)

1956-60

EWG, EURATOM 1957

193

Europäische Union der Industriellen Schlachtereien (* 1958)

1961-65

 

252

Vereinigung europäischer Journalisten (* 1962)

1966-70

EG 1967

303

Europäische Vereinigung der Briefumschlagfabrikanten (* 1969)

1971-75

 

362

Europäische Vereinigung der Verbände von Leasing-Gesellschaften (* 1972)

1976-80

EWS 1979

417

Europäischer Verband der Schulen und Kollegien für Optometrie

(* 1979)

1981-85

 

456

Europäische Gesellschaft von Katarakt- und Refraktionsärzten

(* 1981)

1986-90

EEA 1986

555

Klima-Netzwerk Europa (* 1989)

1991-95

Maastricht 1992

632

Europ. Allianz der Werbeselbstdisziplin (*1992)

Quelle: Europäische Kommission: Verzeichnis der Interessenverbände, Luxemburg, 1996

 

Dabei verwundert es nicht, dass Verbände der Schwerindustrie, des Bergbaus, der Atom- und Energiewirtschaft sowie der Lebensmittelindustrie und der Agrarwirtschaft unter den Pionierorganisationen gehäuft zu finden sind: Denn mit der Gründung der EGKS 1951 oder der EURATOM und der EWG 1957 wurden gerade diese Politikfelder bereits zu einem recht frühen Zeitpunkt voll vergemeinschaftet, was die Kompetenzlage vergleichsweise eindeutig gestaltete.

 

Die folgenden Jahrzehnte sahen dann das weitere Aufwachsen einer heterogenen europäischen Verbandsszenerie, die nun auch die übrigen Politikfelder erfasste. Die schrittweise Ausweitung des Gestaltungsbereichs der EG begann schon durch Vertragsrevisionen in den siebziger Jahren, schritt aber vor allen Dingen seit der Verabschiedung der "Einheitlichen Europäischen Akte" 1986 beschleunigt voran, um in die schon geschilderte Vertragsarchitektur von Maastricht zu münden.

 

Entwicklung der Brüsseler Lobbyistenszene seit Maastricht

Insoweit entstanden europäische Medizinerverbände nun ebenso wie Fachorganisationen der Werbewirtschaft, supranationale europäische Umweltinitiativen oder hochspezialisierte wirtschaftliche Branchenverbände. Entsprechende Beispiele finden sich in Tabelle 2.

 

Die Gesamtszenerie europäischer Interessenvertretungen erfasst eine derartige Übersicht allerdings nur fragmentarisch, denn auch nichtverbandliche Formen des Lobbyings begannen sich auf europäischer Ebene zu entfalten. Die Brüsseler Szenerie entwickelte sich damit zu einem engmaschigen Geflecht unterschiedlichster Interessennetzwerke, das für Wissenschaftler wie Praktiker kaum noch überschaubar ist. Groben Schätzungen zufolge hat man insgesamt nicht weniger als 1.500 europäische Interessenorganisationen zu veranschlagen, wobei die Europäische Kommission selbst diese Zahlen noch für weit untertrieben hält und 3.000 Vereinigungen mit insgesamt rund 10.000 Lobbyisten schätzt.

 

Tabelle 3: Europäische Interessenorganisationen: Quantifizierender Überblick (Schätzungen)

 

 

Organisationstyp

 

 

Zahl

 

Gesamt

 

1.500

davon:

 

 

Büros multinationaler Konzerne

 

200

 

Public-Affairs-Agenturen

(Consultants, Rechtsanwälte)

 

400

 

Europäische Verbände

 

900

 

davon:

1995 bei der Kommission registriert

 

632

Quellen:

Platzer, Hans-Wolfgang: Interessenverbände und europäischer Lobbyismus, in: Weidenfeld, Werner (Hrsg.), Europa-Handbuch, Bonn, 1999, S. 410-423;

Europäische Kommission: Verzeichnis der Interessenverbände, Luxemburg, 1996;

Plaschka, Klaus: Politische Interessenvertretung im neuen Stil: Public Affairs Lobbying bei der Europäischen Union, Diplomarbeit, Juli 1998.

 

Legt man einmal die von wissenschaftlicher Seite angenommene Gesamtzahl von 1.500 zugrunde, lässt sich unter Rückgriff auf verschiedene Quelle eine grobe Gesamtcharakterisierung der lobbyistischen Szenerie vornehmen, die auch die verschiedenen Typen von Interessenvertretungen erschließt. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass über ein Drittel der Organisationen nichtverbandlicher Natur ist: Allein rund 200 Brüsseler Büros multinationaler Konzerne sind in Rechnung zu stellen, welche die Interessen ihrer Unternehmen direkt und oft auch in offener Konkurrenz zu den jeweiligen Branchenverbänden vertreten.

 

Hinzu kommen rund 400 Public-Affairs-Agenturen, die sowohl in der Form von Consultancies oder von spezialisierten Rechtsanwaltskanzleien anzutreffen sind. Sie praktizieren Interessenvertretung auf vertraglich-kommerzieller Basis und werden häufig auch von kleineren nationalen Verbänden in Anspruch genommen, welche sich eine eigene Brüsseler Repräsentanz aus finanziellen Gründen nicht leisten können oder dies nicht müssen, da sie nur punktuell und zeitlich beschränkt Einfluss auszuüben haben.

 

Die restlichen Organisationen sind Verbände unterschiedlichsten Zuschnitts, wobei die Schätzung von 900 Vereinigungen auch darauf verweist, dass in der Lobbyliste der Kommission - ähnlich wie etwa in Deutschland - nicht alle europäischen Verbände erfasst sind, sondern nur ein Teil. In zunehmendem Maße beginnt dabei die europäische Organisationslandschaft den jeweiligen nationalen Gefügen zu ähneln und deren grundsätzliche Strukturprobleme nun auch in Brüssel zu duplizieren. Schaubild 5 versucht dabei eine Typisierung.

 

Schaubild 5 : Die Typen verbandlicher Interessenvertretung bei der EU

 

 

Typ verbandlicher Interessenvertretung

 

 

Beispiel

Europäischer Spitzenverband

 

Union der Industrie- und Arbeitgeberverbände Europas (UNICE)

 

Europäischer Fachverband

Föderation der Europäischen Schneidwaren-, Besteck-, Tafelgeräte- und Küchengeschirrindustrie (FEC)

 

Europäische Repräsentanz nationaler Spitzenverbände

 

BDI-Vertretung bei der Europäischen Union

 

Europäische Repräsentanz nationaler Fachverbände

 

Geschäftsstelle Brüssel des Bundesverbandes der Deutschen Spirituosenindustrie

 

 

 

Bei den genuin europäischen Organisationen, die der eben angesprochenen quantifizierenden Schätzung von 900 zugrunde liegen, sind sowohl europäische Spitzenverbände nach dem Muster der UNICE oder des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) vorzufinden, wie auch hochspezialisierte Fachvereinigungen, wie die in Schaubild 5 schon beispielhaft aufgeführte "Föderation der Europäischen Schneidwaren-, Besteck-, Tafelgeräte- und Küchengeschirrindustrie" (FEC). Erstere sind damit ein europäisches Äquivalent für den BDI oder den DGB, zweitere die europäischen Vertretungen für die nationalen Fachverbände.

 

Daraus erwachsen natürlich unterschiedliche Optionen der Interessenvertretung, die auch auf nationaler Ebene so existieren: Zum einen ist es jeder nationalen Fachorganisation selbst möglich, Lobbying "auf eigene Rechnung" zu betreiben, also die Interessen der Briefumschlagfabrikanten separat über die eigene europäische Repräsentanz zur Geltung zu bringen. Zum anderen steht die Möglichkeit zu Gebote, hierfür den eigenen nationalen Spitzenverband zu nutzen, so man als Fachverband zu seinen Mitgliedern zählt. Der BDI wiederum kann sich dann der UNICE als europäisches Sprachrohr bedienen - muss dies aber nicht, denn selbstverständlich ist auch er mit einer eigenen Vertretung in Brüssel präsent.

 

One-Company-Lobbying
Das verweist schon auf einen weiteren Typus verbandlicher Interessenvertretung bei der EU, der von erheblicher Bedeutung ist: die europäische Repräsentanz nationaler Dachverbände. Zwar legen die Gemeinschaftsorgane Wert darauf, formell nur mit europäischen Verbänden zu kommunizieren; jedoch ist es ein offenes Geheimnis, dass sich eine nationale Organisation im Bedarfsfall mit dem Hut ihres europäischen Verbandes ausstattet, um diese formale Hürde zu überwinden. Gleiches gilt natürlich sinngemäß für die nationalen Fachverbände. So sind etwa die Organisationen der deutschen Ernährungsindustrie schon längst mit eigenen Büros in Brüssel präsent und können dasselbe lobbyistische Muster nun auch auf fachspezifischer Ebene praktizieren.

 

 

4. Interessenvertretung im europäischen Mehrebenensystem: Allgemeine Charakteristika
Organisierte Interessenvertretung bei der EU folgt bestimmten Mustern, die durch die Kompetenzverteilung der Gemeinschaftsorgane vorbestimmt sind. Im vergemeinschafteten Bereich der Säule I ist jedes von ihnen mit gewichtigen Mitgestaltungsrechten ausgestattet, die eine breite Streuung der lobbyistischen Aktivitäten unabdingbar machen: Die Kommission besitzt das vertraglich verbriefte exklusive Initiativrecht für die europäische "Gesetzgebung", indem nur sie allein zur Vorlage von Verordnungs- und Richtlinienentwürfen befugt ist; das Parlament besitzt je nach Gemeinschaftspolitik mehr oder minder große Beteiligungsrechte, welche gerade im letzten Jahrzehnt erheblich an Gewicht gewonnen haben; der Rat besitzt das exklusive Beschlussrecht, indem nur durch sein zustimmendes Votum ein Rechtsetzungsverfahren zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht werden kann.

 

Schaubild 6: Strukturmuster und Entscheidungslogik der EU

 

 

Kommission

(Initiativrecht)

 

 

Parlament

(Beteiligungsrechte)


 

Rat

(Beschlussrecht)

 

Kommissar

 

 

 

Minister

 

Kabinett

 

 

 

Ständiger Vertreter

 

Generaldirektion

 

 

Ausschuss

 

Generaldirektion

 

Direktion

 

 

Unterausschuss

 

Direktion

 

Abteilung

 

 

 

Abteilung

 

Referent

 

 

Berichterstatter

 

Referent

 

Und doch variiert die faktische Bedeutung der einzelnen Organe in diesem komplexen Entscheidungsgang, und auch organintern existieren bestimmte Geschäftsverteilungsmuster, was beides zur Vorprägung eines idealtypischen europäischen Lobbyparcours geführt hat:

 

„Im Regelfall ist die mit Initiativrecht ausgestattete Kommission auch erster und wichtigster Anlaufpunkt der Interessenvertreter, da in ihrer Verwaltung die jeweiligen Referentenentwürfe entstehen,..“

 

Im Regelfall ist die mit dem Initiativrecht ausgestattete Kommission auch erster und wichtigster Anlaufpunkt der Interessenvertreter, da in ihrer Verwaltung die jeweiligen Referentenentwürfe entstehen, welche die Grundlage der späteren Kommissionsvorlagen bilden. Darin durchaus mit nationalen Ministerialbürokratien vergleichbar, werden in den Abteilungen der einzelnen Generaldirektionen von den jeweils federführenden Beamten die Vorlagen erstellt, und wie im nationalen Rahmen ist dieses Arbeitsstadium auch hier für den Lobbyisten das weitaus wichtigste: In dieser Phase sind Inhalte und Personen noch am leichtesten zu beeinflussen, da Konzepte und individuelle Meinungen erst noch reifen müssen.

 

Das impliziert ein profundes Wissen über die Geschäftsverteilungspläne der Kommission und die jeweils zu beachtenden Zuständigkeiten: Jeweils nur wenige Referenten einer bestimmten Generaldirektion sind für eine Materie zuständig, und sie gilt es projektbezogen zu finden. Die Mitarbeit in Ausschüssen, die von der Kommission in großer Zahl zur formellen Einbindung von Interessenvertretern in den Entscheidungsprozeß gebildet wurden, kann hier flankierend wirken, aber nicht den unmittelbaren Arbeitskontakt zum Referenten ersetzen.

 

Zudem kann es gerade bei politisch gewichtigeren Projekten von Bedeutung sein, den jeweils zuständigen Kommissar oder das inhaltlich federführende Mitglied seines Kabinetts zu kontaktieren, da hier über das Schicksal von Anregungen aus der eigenen Generaldirektion eine Vorentscheidung fällt: Hier wird darüber befunden, ob eine Initiative zur Beschlussvorlage für das Kollegium der Kommissare ausgearbeitet wird oder nicht.

 

Auch das Europäische Parlament ist durch hochgradig arbeitsteilige Strukturen gekennzeichnet, und auch hier ist für einen Lobbyisten die frühzeitige Kontaktierung der jeweils zuständigen Ausschussberichterstatter oder der Fraktionsexperten der Schlüssel zum Erfolg. Wie weiter unten noch zu zeigen sein wird, gibt es hier gewichtige Unterschiede zwischen den Politikfeldern, die aus den variierenden parlamentarischen Mitgestaltungsrechten resultieren. Generell gilt aber auch hier die Maxime: Suche nach den Experten und beachte Geschäftsverteilungspläne, um parlamentarisches Lobbying erfolgreich zu praktizieren.

 

Schließlich darf auch der bürokratische Unterbau des Rates nicht vergessen werden, bereitet er doch die Beschlussvorlagen für die jeweiligen Fachministerrunden vor, und auch hier erfolgt dies arbeitsteilig: Unter Federführung des Ausschusses der Ständigen Vertreter (COREPER) der Mitgliedstaaten, die aufgrund ihrer permanenten Präsenz in Brüssel ebenfalls wichtige Anlaufpunkte für Lobbyisten sind, werden die von der Kommission entworfenen und vom Parlament gegebenenfalls abgeänderten Vorlagen in den Generaldirektionen für die abschließende Beschlussfassung vorbereitet. In dieser späten Phase sind inhaltliche Änderungen jedoch kaum mehr durchsetzbar; eher schon kann hier ein Versuch lohnen, die Absegnung fertiger Vorlagen zu verhindern oder zumindest zu verzögern.

 

Ist eine Verordnung oder eine Richtlinie einmal beschlossen, ist die Arbeit eines Interessenvertreters jedoch längst noch nicht abgeschlossen, denn die Einflussnahme auf die administrativen Durchführungsbestimmungen der Kommission eröffnet immer noch die Chance inhaltlicher oder prozessualer Modifikationen: Die mit der Kommission zusammenarbeitenden Durchführungsausschüsse (Komitologie), besetzt mit europäischen und nationalen Fachbeamten, haben hierüber zu befinden, und einmal mehr machen sich für den Interessenvertreter hier gute Kontakte zur Fachbeamtenschaft bezahlt. Da in diesem Stadium auch die nationalen Referenten ins Spiel kommen, ist hier die lobbyistische Konzertierung der verschiedenen politischen Entscheidungsebenen von besonderer Bedeutung.

 

 

Agieren in Netzwerken
Aus alldem resultieren organübergreifende Netzwerke der jeweils zuständigen Fachreferenten, in welche die betroffenen Interessenvertreter integriert sein müssen, um einen angemessenen lobbyistischen Wirkungsgrad zu erzielen: Regelmäßig erfolgt ein intensiver Gedankenaustausch zwischen den federführenden Kommissionsbeamten, zuständigen parlamentarischen Berichterstattern und mit der Materie befassten Ratsbeamten und Referenten der nationalen Ministerien, und dies aufgrund gegenseitiger fachlicher Wertschätzung und dem Wissen um die Kompetenz des Kontaktpartners in nüchtern-sachlicher Atmosphäre. Eine dauerhafte Einbindung in diese Willensbildungs- und Entscheidungsgefüge ist der Schlüssel zum Erfolg.

 

5. Politikfeldspezifische Unterschiede
Gleichwohl existieren gewichtige politikfeldspezifische Unterschiede, welche diese grundsätzliche Entscheidungslogik innerhalb der Säule I in erheblichem Maße verändern können. Von zentraler Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die ganz unterschiedlich gearteten parlamentarischen Mitwirkungsrechte, die selbst für Kenner der europäischen Szenerie schwer zu durchschauen sind.

 

Schaubild 7: Mitwirkungsbefugnisse des EP im Bereich der Gemeinschaftspolitiken nach den Verträgen von Maastricht 1992 und Amsterdam 1997 im Vergleich

 

 

Gemeinschaftspolitik

 

 

Mitwirkungsrechte des EP

 

Maastricht

Amsterdam

I. Freier Warenverkehr

Keine

Keine

II. Landwirtschaft

Anhörung

Anhörung

III. Freizügigkeit, freier Dienstleistungs- und Kapitalverkehr

 

 

1. Arbeitskräfte

Mitentscheidung

Mitentscheidung

2. Niederlassungsrecht

Mitentscheidung

Mitentscheidung

3. Dienstleistungen

Anhörung

Anhörung

4. Kapital- und Zahlungsverkehr

Keine/ Unterrichtung

Keine/ Unterrichtung

IV. Visa, Asyl, Einwanderung und andere den freien Personenverkehr betr. Politiken

---

Anhörung

V. Verkehr

Anhörung/ Zusammenarbeit

Anhörung/ Mitentscheidung

VI. Wettbewerb, Steuerfragen, Angleichung von Rechtsvorschriften

 

 

1. Wettbewerbsregeln

Anhörung

Anhörung

2. Steuerfragen

Anhörung

Anhörung

3. Angleichung der Rechtsvorschriften

Anhörung/ Mitentscheidung

Anhörung/ Mitentscheidung

VII. Wirtschafts- und Währungspolitik

 

 

1. Wirtschaftspolitik

Unterrichtung/ Zusammenarbeit

Unterrichtung/ Zusammenarbeit

2. Währungspolitik

Keine/ Unterrichtung/ Zus.arbeit/ Zustimmung

Keine/ Unterrichtung/ Zus.arbeit/ Zustimmung

3. Institutionelle Bestimmungen

Unterrichtung

Unterrichtung

VIII. Beschäftigung

---

Anhörung/ Mitentscheidung

IX. Gemeinsame Handelspolitik

Keine

Keine/ Anhörung

X. Zusammenarbeit im Zollwesen

---

Mitentscheidung

XI. Sozialpolitik, allg. und berufliche Bildung und Jugend

 

 

1. Sozialvorschriften

Zusammenarbeit

Mitentscheidung

2. Europäischer Sozialfonds

Zusammenarbeit

Mitentscheidung

3. Allg. und berufliche Bildung der Jugend

Zusammenarbeit/ Mitentscheidung

Mitentscheidung

XII. Kultur

Mitentscheidung

Mitentscheidung

XIII. Gesundheitswesen

Mitentscheidung

Mitentscheidung

XIV. Verbraucherschutz

Mitentscheidung

Mitentscheidung

XV. Transeuropäische Netze

Zus.arbeit/ Mitentscheidung

Mitentscheidung

XVI. Industrie

Anhörung

Anhörung

XVII. Wirtschaftlicher und soz. Zusammenhalt

Anhörung/Zusammenarbeit/ Zustimmung

Anhörung/ Zustimmung/

Mitentscheidung

XVIII. Forschung und technolog. Entwicklung

Anhörung/ Mitentscheidung

Anhörung/ Mitentscheidung

XIX. Umwelt

Anhörung/ Zus.arbeit / Mitentscheidung

Anhörung/ Mitentscheidung

XX. Entwicklungszusammenarbeit

Zusammenarbeit

Mitentscheidung

 

 

 

Quelle: Eigene Zusammenstellung nach den offiziellen Vertragstexten von 1992/95 und 1997 (Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG) vom 07.02.92 in der Fassung vom 01.01.95; Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG) in der Fassung vom 02.10.97)

 

 

EU-Parlament: Partizipation durch Kodezison
Grundsätzlich eröffnen die Verträge dem Parlament ein heterogenes und unausgewogenes Spektrum von Partizipationschancen, welche von der bloßen Unterrichtung über Ratsentscheidungen ex post über das formelle Recht auf vorherige Anhörung bis hin zum effektiven Mitentscheidungsrecht reichen können:

 

Im letzten Fall, dem Kodezisions- oder Mitentscheidungsverfahren, besitzen die Parlamentarier ein absolutes Vetorecht gegenüber missliebigen Kommissionsvorlagen und damit auch effektive Mitgestaltungspotentiale. Dasselbe gilt auch für das Zustimmungsverfahren, das allerdings nur mehr in bestimmten Ausnahmefällen zur Anwendung kommt.

 

Das Zusammenarbeitsverfahren schließlich, seit Amsterdam in den meisten Fällen durch das Mitentscheidungsverfahren ersetzt, verschafft dem Parlament lediglich ein suspensives Vetorecht: ablehnende Voten können vom Rat überstimmt werden. Vom politischen Wirkungsgrad her gesehen liegt es also zwischen den Unterrichtungs- und Anhörungsrechten einerseits und dem Kodezisionsrecht andererseits.

 

Die verfahrenstechnischen Einzelheiten brauchen hier nicht zu interessieren, wohl aber die daraus resultierenden politisch-prozessualen Konsequenzen: Denn je nach Politikfeld, wie Schaubild 7 im einzelnen zu entnehmen ist, variieren die parlamentarischen Mitgestaltungsrechte ganz erheblich, und je nachdem ist die parlamentarische Bühne für europäische Interessenvertreter von mehr oder minder großer Relevanz: Spielt das EP im voll vergemeinschafteten Agrarsektor, der immer noch den Löwenanteil des Etats der EU beansprucht, durch seine bloßen Anhörungsrechte immer noch eine sekundäre Rolle, so ergibt sich im kultur-, gesundheits- und verbraucherpolitischen Bereich ein ganz anderes Bild, insoweit hier effektive parlamentarische Mitentscheidungsrechte verankert sind. Das zeigt aber auch, dass grosso modo die Parlamentsrechte in umgekehrtem Verhältnis zum faktischen Gewicht des jeweiligen Politikfeldes stehen: Je bedeutender und je größer der Vergemeinschaftungsgrad, desto geringer die formellen parlamentarischen Rechte, und vice versa.

 

Und doch wäre eine derartige, an den formalen Kompetenzen orientierte Betrachtungsweise wiederum zu eng, denn verschiedene Faktoren führen dazu dass, die zunächst klar erscheinenden Kompetenztrennlinien wieder verschwimmen. Denn zum einen ist in Rechnung zu stellen, dass dem Parlament durch sein schon seit den siebziger Jahren bestehendes Haushaltsbeschlussrecht und die Kompetenz zur Veränderung der sog. nichtobligatorischen Haushaltstitel ein genereller Einfluss auf jegliche fachpolitische Entscheidungen eröffnet wird, insoweit heute die meisten Verordnungs- und Richtlinienvorlagen nicht mehr kostenneutral sind, sondern die Veränderung der entsprechenden Haushaltstitel erforderlich machen.

 

Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass die intensive innerfraktionelle Kooperation zwischen den Parlamentariern der verschiedenen Ausschüsse die Entwicklung von Koppelgeschäften befördert, die Kommission und Rat die Berücksichtigung parlamentarischer Änderungswünsche auch in Politikbereichen abnötigen, für welche dies vertraglich gar nicht vorgesehen ist. In biblischer Diktion: Gebet uns Einfluss auf agrarpolitische Entscheidungen, und wir werden unseren Widerstand gegen Eure umwelt- und gesundheitspolitischen Vorlagen überdenken.

 

Schließlich ist zu beachten, dass sich die Abgeordneten durch häufig langjährige Mitgliedschaft im Parlament und dabei erworbene sachpolitische Kompetenz bei Kommissionsbeamten und Ratsbürokratie großen Respekt erworben haben, was regelmäßig zu einer Berücksichtigung parlamentarischer Argumente "auf dem kleinen Dienstweg" führt. Auch deshalb ist das politische Gewicht gerade alter parlamentarischer Hasen oft wesentlich größer als zunächst erwartet.

 

Summa summarum: Die (steinige) Lektüre der Vertragstexte und das Wissen um die formalen Kompetenzen des Europäischen Parlaments bedeuten für den erfolgreichen Lobbyisten bestenfalls die halbe Miete: Das Wissen um das durch Haushaltsrechte und Koppelgeschäfte resultierende faktische parlamentarische Gewicht ist mindestens genauso wichtig, um am Ende zu einer realistischen und angemessenen Einschätzung des Stellenwerts parlamentarischen Lobbyings zu gelangen.

 

IV.       Fazit
Die Interessenvertretung im politischen Mehrebenensystem der Europäischen Union ist von ganz anderer Natur und Komplexität als auf nationaler Ebene. Schlaglichtartig seien noch einmal die Struktur- und Entscheidungsprobleme aufgelistet, welchen sich die Lobbyisten in Brüssel gegenübersehen:

 

Nicht alle Politikfelder sind bereits vergemeinschaftet; die wesentlichen Bereiche von Außen- und Sicherheitspolitik sowie der Innen- und Justizpolitik unterliegen nach wie vor dem traditionellen Entscheidungsmodus intergouvernementaler Zusammenarbeit ohne rechtlich verpflichtende Einbindung der Gemeinschaftsorgane;

 

Auch in der Säule I der EU variiert der Vergemeinschaftungsgrad der einzelnen Politikfelder ganz erheblich: voll vergemeinschafteten, wie der Agrarpolitik, stehen solche mit mehr oder minder großer ergänzender europäischer Zuständigkeit gegenüber, in welchen nach dem Grundsatz des Subsidiaritätsprinzips über die Notwendigkeit einer einheitlichen Regelung durch die EU befunden wird;

 

Je nach Politikfeld sind die Mitwirkungsrechte des Europäischen Parlaments unterschiedlich stark, was die Entstehung einheitlicher und invarianter Willensbildungs- und Entscheidungsmuster zwischen Kommission, Parlament und Rat verhindert hat. Es entscheidet sich also erst im Einzelfall, in welchem Ausmaße die parlamentarischen Gremien in die politischen Netzwerke eingebunden werden;

 

Hinzu kommt noch, dass diese drei Strukturprobleme nicht statischer, sondern dynamischer Natur sind und damit noch schwerer zu überschauen sind: Zum einen ist auch in Zukunft mit einer fortschreitenden Vergemeinschaftung von Politikfeldern zu rechnen, wie die Verschiebung von Teilen der Innen- und Rechtspolitik aus der Säule III in die Säule I durch den Vertrag von Amsterdam gezeigt hat; zum anderen ist auch bei den Gemeinschaftspolitiken mit ergänzender Zuständigkeit durch eine inhaltliche Neubewertung des Subsidiaritätsgrundsatzes jederzeit eine Änderung der faktischen Reichweite dieser Regelungskompetenz möglich;

 

Schließlich ist auch das dynamische Machtpotential des Europäischen Parlaments in Rechnung zu stellen, das sich durch geschickte politikfeldübergreifende Koppelgeschafte effektive Mitentscheidungsbefugnisse auch dort erkämpfen kann, wo sie vertraglich gar nicht vorgesehen sind.

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