Verbändereport AUSGABE 1 / 2014

Neue Verbandsklageformen

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Verbraucherverbände sollen auch auf Schadensersatz klagen dürfen Bislang konnten anerkannte Verbände im Wesentlichen nur Unterlassungs- oder – bei fehlerhaften AGB – Widerrufsklagen erheben. Nur unter bestimmten Voraussetzungen sind nach dem UWG auch Gewinnabschöpfungsansprüche gegeben, die von den nach § 3 Unterlassungsklagengesetz (UKlG) anerkannten Verbänden eingeklagt werden können. Das soll sich in Zukunft ändern.

Nach einer Empfehlung der EU-Kommission sollen die verbandlichen Klagebefugnisse europaweit weiter ausgebaut und abgesichert werden. Erstaunlicherweise sollen der Empfehlung zufolge auch Behörden in Vertretung von Verbrauchern Schadensersatz- und Unterlassungsklagen erheben dürfen. Dies geht aus der wie stets sprachlich etwas gestelzten „Empfehlung zu den gemeinsamen Grundsätzen für kollektive Unterlassungs- und Schadensersatzverfahren in den Mitgliedstaaten bei Verletzung von durch Unionsrecht garantierten Rechten“ vom 11. Juni 2013 (2013/396/EU) hervor. Bislang sind Vertretungsklagen auf Schadensersatz durch Verbraucherverbände in Deutschland und den meisten EU-Staaten ausgeschlossen.

Nach Art. 288 AEUV ist eine Empfehlung der EU-Kommission zwar nicht verbindlich, gleichwohl besagt die Empfehlung in Nr. 38 und in Erwägungsgrund Nr. 10, dass die Mitgliedsstaaten die darin enthaltenen Grundsätze spätestens bis zum 26. Juli 2015 in ihre innerstaatlichen Systeme des kollektiven Rechtsschutzes integrieren und darüber berichten sollen. Das klingt schon deutlich nach Vollzugsmeldung. Die Erfahrung zeigt, dass bei Nichtbefolgung von Empfehlungen die Kommission dann zur regulatorischen Axt greift.

Der Anwendungsbereich der neuen Empfehlung ist weitreichend: Er umfasst gemäß den Erwägungsgründen nicht nur alle Bereiche des Verbraucherschutzes, das Kartell- und Wettbewerbsrecht, den Umweltschutz, den Schutz personenbezogener Daten, Finanzdienstleistungen und den Anlegerschutz, sondern darüber hinaus alle anderen Bereiche, in denen es gegenüber Verbrauchern „zur Verletzung von durch Unionsrecht garantierten Rechten“ kommen kann. Das reicht beispielsweise vom Reisevertragsrecht über die Fluggastrechte und Verträge über Verbrauchergüter bis hin zum Lebensmittelrecht. Kartellrechtliche Schadensersatzklagen sind in Deutschland nur den Kammern und Wirtschaftsverbänden vorbehalten. Nach der Empfehlung sind auch kartellrechtliche Schadensersatzklagen durch Verbraucherverbände nicht mehr ausgeschlossen.

Politischer Zündstoff

Die Empfehlung enthält politischen und juristischen Zündstoff. Denn zunächst wird in den Erwägungsgründen die fragwürdige Behauptung aufgestellt, dass es zu den „Kernaufgaben der öffentlichen Rechtsverfolgung“ gehöre, die Verletzung von Verbraucheransprüchen zu verhüten und zu ahnden und dass die zivilrechtliche Geltendmachung solcher Verstöße „nur ergänzender Natur“ sei. Dies ist blanker Unsinn, weil der Ausgleich von Verbraucheransprüchen in den Mitgliedstaaten der EU dem Zivilrecht zugewiesen ist. Hierzu hat die EU auch zahlreiche Richtlinien erlassen. Das räumt die Kommission in ihren Erwägungsgründen selbst ein, scheint es aber unterwegs wieder vergessen zu haben. Auch der EuGH hat in der „Parmesan“-Entscheidung den vom UWG verfolgten Zivilrechtsweg ausdrücklich als EU-konform anerkannt. So werden Reisemängel, Sachmängel, Produktfehler, Flugverspätungen, fehlerhafte AGB und Ähnliches nicht von der Staatsanwaltschaft oder von Behörden verfolgt und sanktioniert, sondern sind Gegenstand des Zivilrechts, was Verbraucherschützern aber schon immer ein Dorn im Auge war. Bahnt sich also mit der „Empfehlung zum kollektiven Rechtsschutz“ so etwas wie eine „öffentlich-rechtliche Zivilrecht-Verwaltungswirtschaft“ an?

Klagebefugte Vertreterorganisationen

Indizien dafür liefert die Kommissionsempfehlung selbst. So sollen in Zukunft auch Behörden und andere adhoc zugelassene Organisationen zur Klageerhebung befugt sein. Die Kommissionsempfehlung besagt hierzu, dass eine „Vertretungsklage“ von einer Vertreterorganisation, einer ad hoc zugelassenen Einrichtung oder einer Behörde im Namen und für Rechnung von zwei oder von mehr als zwei natürlichen oder juristischen Personen erhoben werden kann, wenn die vertretenen Personen geltend machen, bei einem Massenschadensereignis geschädigt worden zu sein oder der Gefahr einer Schädigung ausgesetzt gewesen zu sein.

Als Vertreterorganisationen sollen nach dem deutschen Wortlaut nur „gemeinnützige“ Organisationen zugelassen werden. Der Vergleich mit den anderen Sprachfassungen zeigt aber, dass es sich insoweit um einen Übersetzungsfehler handelt, als alle nicht erwerbswirtschaftlichen („ideellen“) Vereine gemeint sind (im Originaltext: non-profit making entities, entités à but non lucratif).

Ferner dürfen die Vertreterorganisationen (zu denen notabene nach Nr. 7 der Empfehlung auch Behörden zählen) bei grenzüberschreitenden Schadenslagen in jedem EU-Staat tätig werden. Nr. 17 der Empfehlung bestimmt hierzu: „Wenn natürliche oder juristische Personen aus mehreren Mitgliedstaaten von einer Streitsache betroffen sind, sollten die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass eine Kollektivklage an einem Gerichtsstand nicht durch innerstaatliche Vorschriften über die Zulässigkeit oder über die Klagebefugnis ausländischer Klägergruppen oder von Vertreterorganisationen aus anderen Rechtsordnungen verhindert wird.“ Klagt dann demnächst die Verbandsgemeinde Bitburg-Prüm in Apulien, weil dort neben Touristen aus anderen EU-Ländern auch Gemeindebürger den versprochenen Pool in der Hotelanlage vermisst haben?

Denn erstaunlicherweise soll ein „Massenschadensereignis“ bereits dann vorliegen, wenn mindestens zwei (!) Verbraucher durch dasselbe oder ein ähnliches Ereignis durch den oder die Beklagten geschädigt worden sind. Nr. 3 b) der Empfehlung enthält hierzu die Definition: „Massenschadensereignis“ ist ein Ereignis, bei dem zwei oder mehr als zwei natürliche oder juristische Personen geltend machen, durch dasselbe rechtswidrige Verhalten oder durch ähnliche rechtswidrige Verhaltensweisen einer oder mehrerer natürlicher oder juristischer Personen geschädigt worden zu sein.“ Eine solche Definition ist mit „aleatorischer Begriffsbildung“ noch höflich umschrieben, George Orwell nannte eine solche Verdrehung „new speak“.

Vertretungsklagen und Folgeklagen

„Vertretungsklagen“ sind nach der Empfehlung Klagen, die von einer Vertreterorganisation oder einer Behörde „im Namen und für Rechnung von zwei oder von mehr als zwei natürlichen oder juristischen Personen“ erhoben werden. Die angeblich Geschädigten sind nicht selbst Parteien des Verfahrens („wobei diese Personen nicht Partei des Verfahrens sind“), was immer dies prozessual bedeuten mag, da sie nach der Empfehlung offenbar für die Kosten des Verfahrens einzustehen haben. Unter einer „kollektiven Folgenklage“ versteht die Empfehlung eine Klage, die nach der rechtskräftigen Entscheidung einer Behörde erhoben wird, welche die Verletzung von Unionsrecht festgestellt hat. Nach dem Wortlaut der Empfehlung ist also nicht ausgeschlossen, dass dieselbe Behörde oder eine andere Behörde dann auch noch zugunsten der Verbraucher Schadensersatz einklagt. Werden Vertretungsprozesse geführt, muss eine Offenlegung der Quellen erfolgen, aus denen der Prozess finanziert wird.

Bündelung von Bagatellschäden

Mit diesen Prozessinstrumenten soll insbesondere die Geltendmachung von „Streu“- oder „Bagatellschäden“ ermöglicht werden, also von Schäden, die sich bei dem einzelnen Verbraucher nur geringfügig bemerkbar machen (Beispiel: in einem Joghurt waren trotz Abbildung keine Himbeeren, sondern nur ein Himbeer-aroma vorhanden). Der „Schaden“ beim einzelnen Verbraucher liegt in solchen Fällen oft im Centbereich. Indem Kollektivklagen die Bündelung solcher „Streuschäden“ ermöglichen, also theoretisch den der Verbraucherschaft insgesamt entstandenen Schaden zusammenfassen, können stattliche Klagesummen zusammenkommen, wenn sich alle oder viele Käufer eines solchen Produkts der Klage anschließen. Zumal ein solcher Schaden auch für den gesamten nicht verjährten Zeitraum geltend gemacht werden kann.

Opt-in und opt-out

Bei den vorstehenden Klagen müssen die betroffenen Verbraucher ausdrücklich ihren Beitritt erklären, um am Verfahren teilnehmen zu können („opt-in“). Sie können auch später beitreten und nach den Regeln der Klagerücknahme auch wieder aus dem Verfahren ausscheiden („opt-out“), ohne dass sie hierdurch das Recht zu einer Individualklage verlieren.

Informationspflichten

Wenn eine Organisation oder Behörde eine Vertretungsklage erheben will, müssen die Mitgliedsstaaten dafür sorgen, dass alle anderen potenziell Betroffenen davon Kenntnis erhalten. Ferner sind die Betroffenen über den behaupteten Rechtsverstoß zu unterrichten. Umgekehrt wird der klagenden Organisation ein Rechtsanspruch auf Information über eventuell anhängige Parallelverfahren eingeräumt (Nr. 10). Wie die Betroffeneninformation geschehen soll, ist nicht festgelegt. Ebenso nicht, ob die hierfür entstehenden Kosten von der unterlegenen Partei zu tragen sind. Denn diese Unterrichtungspflichten sind nicht mit dem in Nr. 35 der Empfehlung genannten öffentlichen Register identisch. Danach sollen elektronische und leicht zugängliche Register gebührenfrei jede interessierte Seite darüber unterrichten, welche Klagen anhängig sind oder waren.

Keine Strafschäden und keine Ausforschungsbeweise

Ausdrücklich untersagt werden soll die Geltendmachung sogenannter Strafschäden, wie sie aus den USA als „punitive damages“ bekannt sind und die dortigen Schadensersatzklagen oft in astronomische Höhe treiben. Solche Strafschäden sollen nicht nur den eingetretenen Schaden ausgleichen, sondern gleichzeitig den Schädiger finanziell bestrafen. Während sich die Erwägungsgründe noch gegen Ausforschungsbeweise aussprechen, wie sie im US-amerikanischen Recht als „pretrial discovery procedure“ bekannt ist, findet diese Absicht in der Empfehlung selbst keinen Niederschlag mehr. Merkwürdig ist auch der Kommissionswunsch, dass die „Beteiligung von Geschworenen an der Urteilsfindung“ vermieden werden sollte. Ob damit auch ehrenamtliche Richter für Handelssachen oder an den Arbeitsgerichten gemeint sind, bei denen Unterlassungs- und Schadensersatzklagen unter Umständen auch landen können, bleibt dunkel. Jedenfalls besitzt die Kommission für die Gerichtsverfassung auch nicht den Schimmer einer eigenen Zuständigkeit.

Verteilungsverfahren? – Fehlanzeige

Am erstaunlichsten an dieser Kommissionsempfehlung bleibt indes, dass sie kein Wort darüber verliert, an wen und wie im Falle eines Prozesserfolgs die eingeklagte Schadensersatzsumme verteilt werden soll. Die Regeln des BGB zur Gesamt- oder Teilgläubigerschaft und zur Gläubigergemeinschaft sind hierzu jedenfalls nicht ausreichend. Das lässt alle Optionen offen und weckt hier und da schon Vorfreude. 

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Autor/in

Helmut Martell

ist Rechtsanwalt. Helmut Martell war Gründungsvorsitzender der DGVM und zwanzig Jahre ihr Stellvertretender Vorsitzender. Von 1997 bis 2014 fungierte er als Herausgeber des Verbändereport.

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