Zum 1. Mai 2004 ist die neue europäische Kartellverfahrensverordnung Nr. 1/2003 („VO 1/2003“) in Kraft getreten. Sie und die in ihr enthaltenen verfahrensrechtlichen Neuerungen markieren in vielerlei Hinsicht einen Wendepunkt in der Entwicklung des europäischen Kartellrechts. Diese vieldiskutierten Neuerungen der VO 1/2003 können und sollen an dieser Stelle nicht erörtert werden. Vielmehr ist Ziel dieses Beitrages, eine Prognose zu wagen, welche Konsequenzen und Risiken die neuen Vorschriften für Unternehmensverbände und deren Mitglieder im Lichte der jüngsten Entscheidungspraxis des Europäischen Gerichtshofes bringen könnten.
Aufgrund der Neuheit der Gesetzesmaterie fällt diese Prognose naturgemäß schwer. Es gibt jedoch einige Anhaltspunkte dafür, dass die Europäische Kommission („Kommission“) die Tätigkeit von Unternehmensverbänden in Zukunft kritischer würdigen und im Fall eines Kartellrechtsverstoßes insbesondere zu härteren Sanktionen als bisher greifen könnte.
Die Anwendbarkeit des Kartellverbots auf Unternehmensverbände und deren Mitglieder
Das in Artikel 81 Abs. 1 EG-Vertrag enthaltene europäische Kartellverbot verbietet alle Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, welche:
- den Handel zwischen den Mitgliedstatten zu beeinträchtigen geeignet sind und
- eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Marktes bezwecken oder bewirken.
Adressaten des Kartellverbots
Unternehmensverbände sind zum einen „Unternehmensvereinigungen“ im Sinne des Artikel 81 Abs. 1 EG-Vertrag und damit selbst und unmittelbar Adressaten des Kartellverbots. Fassen Unternehmensverbände Beschlüsse, die ihre Mitglieder in deren wettbewerblichen Verhaltensspielraum (z.B. bei der Preis- oder Konditionenbildung) beschränken, so verstoßen diese Beschlüsse – sofern nicht die Freistellungsvoraussetzungen des Artikel 81 Abs. 3 EG-Vertrag erfüllt sind - gegen das Kartellverbot. Die Verbandsbeschlüsse sind in diesem Fall nichtig (Artikel 81 Abs. 2 EG-Vertrag) und berechtigen die Kommission, gegen die betreffenden Unternehmensverbände Untersagungsverfügungen zu erlassen und ggf. Bußgelder zu verhängen.
Zum anderen sind die Verbandsmitglieder als Unternehmen Adressaten des Kartellverbots. Ihnen bietet die Mitgliedschaft in dem Verband einen Rahmen für eine vergleichsweise leichte und ungezwungene Kontaktaufnahme und Kommunikation mit Unternehmen derselben oder benachbarter Branche(n). Es liegt auf der Hand, dass insbesondere dieser Aspekt der Verbandstätigkeit einen gewissen Argwohn der Kartellbehörden gegenüber Unternehmensverbänden begründet, da ein zunächst nur loser Kontakt und eine anfänglich unbedenkliche Kommunikation zwischen Wettbewerbern bei Intensivierung im Extremfall zu einer Koordination des wettbewerblichen Verhaltens der beteiligten Unternehmen und damit zur Bildung eines verbotenen Kartells führen kann.
Kartellrechtlich kritische Tätigkeiten im Verbandsrahmen
Diese Elemente der Verbandstätigkeit, die womöglich dazu beigetragen haben, dass Kartellbehörden manche Unternehmensverbände als "latente Kartellherde" wahrnehmen, sind freilich nichts Neues. Sie waren vielmehr seit Einführung des Kartellverbots vielfach Anlass oder Grund für Ermittlungsmaßnahmen der Kommission und der nationalen Kartellbehörden gegen Unternehmensverbände und/oder deren Mitglieder und haben zu einer Vielzahl von Entscheidungen mit Verbandsbezug geführt. Auf Grundlage der mittlerweile gefestigten Entscheidungspraxis der Kommission lassen sich bestimmte Bereiche der Verbandstätigkeit identifizieren, die kartellrechtlich als besonders kritisch gelten müssen. Zu diesen Bereichen gehören beispielsweise:
- von Verbandsseite durchgeführte oder koordinierte Marktstatistiken oder Marktinformationsverfahren,
- Meinungs- und Erfahrungsaustausch zwischen Verbandsmitgliedern,
- Verbandsempfehlungen,
- Lieferantenbewertungen und
- Selbstverpflichtungen der Industrie.
- Pauschale Aussagen zur kartellrechtlichen
(Un-)Zulässigkeit dieser Verbandstätigkeiten lässt die Entscheidungspraxis der Kommission allerdings nicht zu, da die kartellrechtliche Bewertung in starkem Maße von den Umständen des Einzelfalls, insbesondere von den Charakteristika der betroffenen Branche und der Struktur des betroffenen Unternehmensverbands, abhängt.
Kartellrechtliche Sanktionen
Wie bereits angedeutet, war und ist die Kommission bei Feststellung eines Kartellrechtsverstoßes befugt, gegen die beteiligten Unternehmen bzw. Unternehmensvereinigungen Untersagungsverfügungen zu erlassen und bei Verschulden der Kartellanten Bußgelder zu verhängen. Nach alter Rechtslage haftete eine Unternehmensvereinigung für eine gegen sie verhängte Geldbuße alleine. Dies hatte zur Folge, dass die Kommission im Rahmen eines ausschließlich gegen einen Unternehmensverband (d.h. nicht auch gegen die Verbandsmitglieder) geführten Kartellverfahrens nicht befugt war, ein gegen den Verband verhängtes Bußgeld bei den Verbandsmitgliedern beizutreiben, wenn der Verband nicht über die finanziellen Mittel verfügte, das Bußgeld zu begleichen. Diese für die Kommission missliche Lage hat mit einiger Sicherheit dazu geführt, dass die Kommission in einigen der in der Vergangenheit gegen Unternehmensverbände geführten Verfahren die Verhängung empfindlicher Bußgelder von vornherein erst gar nicht ernsthaft in Erwägung zog, wenn sie davon ausging, dass die Verbände ein empfindliches Bußgeld nicht bezahlen konnten. Diese Zurückhaltung wird in Zukunft nicht mehr bestehen, da die VO 1/2003 insoweit eine entscheidende Verbesserung der Position der Kommission bringt.
Höhere Bußgeldrisiken für Verbände aufgrund der neuen Durchgriffshaftung der Verbandsmitglieder
Nach Artikel 23 Abs. 4 VO 1/2003 kann die Kommission ein kartellrechtliches Bußgeld, das sie gegen einen Unternehmensvereinigung verhängt hat und bei dieser in Ermangelung hinreichenden Vermögens nicht beitreiben kann, nunmehr unter bestimmten Voraussetzungen ersatzweise bei Mitgliedsunternehmen der Unternehmensvereinigung beitreiben. Artikel 23 Abs. 4 VO 1/2003 statuiert somit erstmalig eine „Durchgriffshaftung“ der Mitglieder einer Unternehmensvereinigung, kraft derer diese unter bestimmten Voraussetzungen für Kartellrechtsverstöße der Unternehmensvereinigung „gerade stehen“ müssen, und zwar unabhängig davon, ob den Mitgliedern ein eigener Kartellrechtsverstoß zur Last gelegt werden kann oder nicht. Es liegt auf der Hand, dass aufgrund dieser Neuerung die möglicherweise in Frage stehende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines kartellrechtswidrig handelnden Unternehmensverbandes für die Kommission künftig kein Hinderungsgrund mehr sein wird, gegen diesen Unternehmensverband ein (womöglich empfindliches) Bußgeld zu verhängen. Denn nach neuem Recht ist die Kommission in der Lage, bei Zahlungsausfall des Verbandes ggf. leistungsfähige Mitgliedsunternehmen als Bußgeldschuldner zur Zahlung heranzuziehen. Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner hellseherischen Fähigkeiten, um zu prognostizieren, dass die Bereitschaft der Kommission, Unternehmensverbände empfindlicher zu bebußen, künftig mit Sicherheit zunehmen wird.
Artikel 23 Abs. 4 VO 1/2003 sieht ein gestuftes Prozedere für die Beitreibung des Bußgeldes bei den Mitgliedsunternehmen vor, dessen Praktikabilität die Zukunft zeigen wird. Zusätzlich ergeben sich Rechtsunsicherheiten daraus, dass Bedeutung und Reichweite der Tatbestandsmerkmale des Artikel 23 Abs. 4 VO 1/2003 mangels vorliegender Praxis bislang völlig ungeklärt sind. Diese Rechtsunsicherheiten treffen primär die Mitglieder von Unternehmensverbänden, die in Zukunft vor der schwierigen Prüfung stehen, ob für sie ein Risiko besteht, für die Zahlung eines gegen den Unternehmensverband verhängten Bußgeldes haften zu müssen. Für die Unternehmensverbände hingegen sollte es künftig primäres Anliegen sein, noch stärker als in der Vergangenheit durch Ergreifen der notwendigen präventiven Maßnahmen dafür Sorge zu tragen, dass ihnen anzulastende Kartellrechtsverstöße von vornherein vermieden werden.
Gerichtliche Bestätigung der extensiveren Praxis der Europäischen Kommission beim Vorgehen gegen Unternehmensverbände
Schwierigkeiten bereitet hierbei, dass die Kommission den kartellrechtlich kritischen Rahmen der Verbandstätigkeit in den vergangenen Jahren ausgeweitet hat. Diese härtere Haltung der Kommission gegenüber Unternehmensverbänden wurde unlängst durch ein Urteil des Europäischen Gerichts Erster Instanz („EuG“) bestätigt:
In einer Entscheidung vom 16. Dezember 2003 bestätigte das EuG eine Entscheidung der Kommission vom 26. Oktober 1999, in der diese gegen einen niederländischen Großhandelsverband ein Bußgeld verhängt hatte. Die Entscheidung hatte die Kommission u.a. damit begründet, dass der niederländische Großhandelsverband dadurch gegen Artikel 81 Abs. 1 EG-Vertrag verstoßen hätte, dass er seinen Mitgliedern in regulären Verbandsversammlungen, Verbandsausschüssen und Regionalversammlungen ein „Forum“ für Diskussionen über Preise und Rabatte geboten hätte. Diese Beratungen der Mitgliedsunternehmen hätten deren Preis- und Rabattverhalten beeinflusst und so zu einer kartellrechtswidrigen Wettbewerbsbeschränkung geführt. Daneben wurden dem niederländischen Großhandelsverband weitere Kartellrechtsverstöße zur Last gelegt, beispielsweise das Fassen für seine Mitglieder verbindlicher Beschlüsse, die die Mitglieder in ihrem Preisverhalten beschränkten.
Beachtenswert ist insbesondere der Vorwurf der Kommission, der Verband hätte seinen Mitgliedern ein „Forum“ für Diskussionen über Preise und Rabatte geboten. Grund hierfür ist, dass sich dieses Verhalten des Verbandes nicht eindeutig unter die Tatbestandsmerkmale des Kartellverbots subsumieren lässt: Ein „Forum bieten“ ist weder ein Beschluss einer Unternehmensvereineinigung noch eine Vereinbarung zwischen Unternehmen oder eine abgestimmte Verhaltensweise. Vielmehr ist das „Forum bieten“ in der Sache nichts anderes als eine mehr oder weniger entfernte Vorbereitungs- bzw. Unterstützungshandlung für einen Kartellrechtsverstoß Dritter, nämlich die Abstimmung des Preis- und Rabattverhaltens durch die Mitglieder. Vor diesem Hintergrund wird man den Vorwurf des „Forum bietens“ als erklärten Ausdruck der Absicht der Kommission verstehen müssen, nach den Umständen des Einzelfalls auch bloße Mitwirkungshandlungen an Kartellen Dritter mit Hilfe des Kartellverbots untersagen und ggf. bebußen zu wollen.
Bestätigt wird dies durch eine weitere Entscheidung der Kommission neueren Datums, in der ein Beratungsunternehmen mit einer kartellrechtlichen Geldbuße belegt wurde. Dieses Beratungsunternehmen hatte für an einem Peroxid-Kartell beteiligte Chemieunternehmen Zusammenkünfte der Kartellanten organisiert und Diskussionsrunden vorbereitet. Die Kommission maß dem Beratungsunternehmen eine „Schlüsselrolle“ im Rahmen des Kartells bei, obwohl das Beratungsunternehmen auf dem betroffenen Peroxid-Markt selbst nicht tätig war. Zwar verhängte die Kommission nur eine sehr geringe Geldbuße gegen das Beratungsunternehmen. Begründet wurde dies jedoch allein damit, dass es noch keinen Präzedenzfall für die Beteiligung eines Beratungsunternehmens an einem Kartellverstoß gegeben habe und man sich daher auf einen symbolischen Bußgeldbetrag beschränken wolle. Dies bedeutet, dass man auch insoweit in künftigen Fällen nicht mehr mit einer milden Bebußungspraxis der Kommission rechnen kann.
Nicht entscheiden musste die Kommission in ihrer o.g. Entscheidung vom 26. Oktober 1999, ob das Bieten eines „Forums“ für kartellrechtswidrige Beratungen und Diskussionen der Verbandsmitglieder allein ausgereicht hätte, um dem niederländischen Großhandelsverband eine Verletzung des Kartellverbots zur Last zu legen. Bei Berücksichtigung der jüngsten Praxis der Kommission spricht jedoch einiges dafür, dass der Kommission mittlerweile allein ein „Forum bieten“ genügen könnte, um gegen Unternehmensverbände kartellrechtlich vorzugehen und ggf. Bußgelder zu verhängen. Sehr schwierig ist vor diesem Hintergrund abzuschätzen, welche sonstigen Maßnahmen im Rahmen der Verbandsarbeit von der Kommission möglicherweise als kartellrechtlich kritisch bewertet werden können. Feststehen dürfte allein, dass Unternehmensverbände in Zukunft jedenfalls dann verstärkt in den Fokus kartellrechtlicher Untersuchungen geraten dürften, wenn die Kommission zu der Auffassung gelangt, dass Mitgliedsunternehmen Verbands- oder Gremientreffen oder -besprechungen genutzt oder missbraucht haben, um sich über wettbewerblich sensible Themen auszutauschen oder sogar in ihrem Wettbewerbsverhalten abzustimmen. Die Kommission wird in solchen Fällen genau prüfen, ob und wie der betroffene Unternehmensverband dem in Rede stehenden Kartellrechtsverstoß der Mitglieder Vorschub geleistet hat.
Fazit und Handlungsbedarf
Zusammenfassend ist zu erwarten, dass die Kommission die neue VO 1/2003 und die vom EuG am 16. Dezember 2003 erhaltene Bestätigung ihrer Entscheidungspraxis dazu nutzen werden, künftig gegenüber Unternehmensverbänden eine „härtere Gangart“ zu wählen, d.h. Verbandstätigkeiten noch kritischer am Maßstab des Kartellrechts zu prüfen und ggf. höhere Bußgelder zu verhängen.
Ganz oben auf der Agenda der Unternehmensverbände sollte daher stehen, Verbands-, Gremien- und Ausschusssitzungen und -besprechungen bereits im vorhinein so zu organisieren und strukturieren, dass Verdachtsmomente für mögliche Kartellrechtsverstöße weitestgehend reduziert oder - im Idealfall - ausgeschlossen werden. Um eine solche, neudeutsch häufig als „competition compliance“ bezeichnete Kartellrechtskonformität zu erreichen, ist es geboten, sowohl für Verbandsmitarbeiter als auch für die an Verbandssitzungen und -besprechungen teilnehmenden Vertreter der Verbandsmitglieder Richtlinien zu erarbeiten, die Vorgaben dazu enthalten, wie mit kartellrechtlich kritischen Themen und/oder Situationen umzugehen ist und Kartellrechtsverletzungen vermieden werden können.
Zudem ist es jedenfalls angezeigt, Verbandsmitarbeiter regelmäßig zu schulen, um diese für die kartellrechtlichen Risiken der Verbandsarbeit zu sensibilisieren. Solche Verhaltensrichtlinien und Schulungen begrenzen nicht nur die kartellrechtlichen Risiken des Verbandes, sondern auch die der Verbandsgeschäftsführung. Diese unterliegt nämlich nach deutschem Kartellrecht, das durch die bevorstehende 7. GWB-Novelle an das europäische Kartellrecht angeglichen werden soll, einer persönlichen Bußgeldhaftung, wenn sie aufgrund Organisations- oder Überwachungsverschuldens für Kartellrechtsverstöße durch subalterne Mitarbeiter verantwortlich ist. Aufgrund der durch die deutsche Rechtsprechung aufgestellten strengen Maßstäbe für die Erfüllung der Organisations- und Überwachungspflichten dürfte für eine Verbandsgeschäftsführung, die es versäumt hat, Maßnahmen zur Vermeidung von Kartellrechtsverstößen des Verbandes zu ergreifen, im Verletzungsfall ein hohes Bußgeldrisiko bestehen.